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II

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Wie ein Jagdhund, der die Witterung aufnahm, reckte Hieronymus Holstein seine Nase gen Himmel und schnupperte. Die wärmenden Strahlen der Sonne dieses vorletzten Augusttages vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es nach Herbst roch. Nach kürzeren Tagen und längeren Nächten, nach Feuchtigkeit und Kälte. Nach den Vorboten des Winters.

Die Seite des Schindelwagens mit halbrundem Dach hinter ihm kündete in farbenprächtigen Lettern von den verblüffenden Möglichkeiten der spirituellen Fotografie. An den Innenseiten der geöffneten Hecktür hingen gerahmte Beispiele fotografisch festgehaltener Geisterabbildungen, authentische Zeugnisse von Hieronymus’ Können.

Gekleidet in einen dunklen Rock, mit einem Zylinder auf dem Kopf, versprühte er durchaus eine adelige, seriöse Aura, die durch einen gezwirbelten Schnurrbart und einen präzise rasierten dreieckigen Kinnbart unterstrichen wurde. Seine braunen, wachen Augen ließen erahnen, dass ihm der Schalk im Nacken saß, seine Lippen umspielte fortwährend der Anflug eines Lächelns.

Auf der Prater-Allee vor ihm, die majestätische Kastanienbäume säumten, floss ein schier unablässiger Strom aus Spaziergehern, Fiakern und einigen offenen Privatequipagen. Jeder, so schien es, der es sich leisten konnte, wollte am Nachruf des Sommers teilhaben und ihn genießen, solange es noch etwas zu genießen gab.

Aufträge hatte er am heutigen Tag noch keine an Land ziehen können, was Hieronymus ein wenig wurmte. Nicht, dass er oder Franz, sein Freund und Begleiter, bereits am Hungertuch nagen musste. Aber untätiges Warten konnte einen Mann mindestens ebenso zermürben wie die schwerste Arbeit. Erneut zog er die eigenartig riechende Luft ein und stieß sie so langsam aus, wie ihm die Gedanken kamen. Daran, wie er erst zweieinhalb Monate zuvor seinen Hals aus einer Schlinge zu ziehen vermocht hatte, die ihn beinahe den Kopf gekostet hätte. Wie beschaulich seither sein Leben verlaufen war. Die Kundschaft rannte ihm zwar nicht gerade die Tür ein, aber er hielt sich über Wasser und konnte sogar einige Dutzend Gulden auf die Seite legen. Anezka, seine Quartiergeberin, meckerte weniger als zuvor, zumindest wenn Franz bei ihr die Nacht verbringen durfte. Einzig bei seiner Suche nach Karolína war er bisher –

»Herr Holstein?« Die Stimme einer Frau riss Hieronymus aus seinen Überlegungen.

Er wandte sich um und sah sich einer adretten Frau Mitte zwanzig gegenüber, gekleidet in ein hellgrünes, geblümtes Mieder mit tief ausgeschnittenem, wenn auch flachem Dekolleté und eine gleichfarbige, ein wenig aus der Mode gekommene Krinoline1. Ihr dunkelbraunes Haar trat neckisch unter dem Kapotthut hervor, den sie mit breiten Bandschleifen unter dem Kinn zusammengebunden hatte, und der ihr Gesicht harmonisch einrahmte. In der linken Hand hielt sie einen kleinen Sonnenschirm aus Poult-de-soie mit Spitzenüberzug, in der Armbeuge hing ein Täschchen.

Neben sich hatte die Dame einen neumodischen Kinderwagen. Der Griff bestand aus edlem Porzellan, die Seiten waren mit dunklem Leder gepolstert, das Verdeck mit blauem Leinen überzogen und mit weißen Spitzen verziert. Darin saß ein kleines Mädchen in einem kurzärmeligen Jahreskleid, umgeben von dicken Pölstern.

Hieronymus’ besehenen Blick konterte sie mit einem stolzen »Ist ein echter Brennabor aus dem Deutschen Reich. Das neueste Modell.« Sie zögerte. »Also, sind Sie nun Herr Holstein oder nicht?«

Der nahm den Zylinder vom Kopf und verbeugte sich tief. »Hieronymus Holstein, g’schamster Diener2, werte Mademoiselle.«

Die Angesprochene goutierte die übertrieben devote Geste mit einem charmanten Lächeln. »Anna Rebiczek. Ich suche Sie auf Empfehlung einer gemeinsamen Freundin auf. Stanzerl Oppenheim.«

Hieronymus’ Grinsen gefror. Nicht ob des Vornamens – Constanze hatte er nur in bester Erinnerung. Aber Oppenheim, ihr Gemahl, war es gewesen, der ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatte. Einen Herzschlag später hatte Hieronymus sich jedoch wieder besonnen.

»Ich hoffe, Frau Oppenheim verkraftet die schwere Zeit einigermaßen?«

Anna nickte. »Sie ist sehr tapfer. Mein Vater hat ihr mit einem Darlehen ausgeholfen, bis, also, der Nachruf geregelt ist.«

»Es freut mich wahrlich, das zu hören. Nun denn, wie darf ich Ihnen zu Diensten sein, Frau Rebiczek?«

»Anna, bittschön.«

»Frau Anna«, korrigierte Hieronymus höflich. »Wollen Sie den Geist eines lieben Verstorbenen fotografisch verewigt wissen? Vielleicht den der Eltern?«

Die Frau überflog die ausgestellten Exponate an der Wagentür mit einer Mischung aus Faszination und Schauder. Auf allen war mindestens eine Person abgelichtet, neben oder über der sich fragil wirkende, halbdurchsichtige Menschen gesellt zu haben schienen, Männer, Frauen, Kinder, manche verschleiert, andere gerade in Bewegung eingefangen.

»Sie sind ein – Geisterfotograf?« Annas Worte waren mehr geflüstert als gesprochen.

Hieronymus nickte mit stolzem Lächeln. »Eine Gabe sollte man nicht verdorren lassen. Und die meine ist es, Erinnerungen an liebe Menschen für die Ewigkeit zu binden. Für Hinterbliebene bedeuten sie Wärme fürs Herz und Trost für die Seele.«

Anna Rebiczeks argwöhnischer Ausdruck wandelte sich zu einem wohlwollenden. Sie sah zum Kinderwagen. »An einem Foto mit einem Geist ist mir nichts gelegen. Aber schauen S’, das ist meine zweijährige Tochter, Lucie.«

»Welch hübscher Name«, lobte Hieronymus und bedauerte im selben Augenblick, dass das arme Mädchen wohl sein Lebtag wie die Kurzform von »Luzifer« gerufen werden würde.

»Manche meiner Freundinnen meinen ja, ich solle mich nicht damit belasten, den Kinderwagen zu schieben. Wofür hat man schließlich ein Kindermädchen?«

»Eben«, stimmte Hieronymus zu, dachte jedoch dabei an die überwiegende Mehrheit der Mütter, die sich mit derlei Überlegungen gar nicht erst herumzuschlagen brauchten, weil ihnen schlicht das nötige Geld für ein Kindermädchen fehlte. Oder einen solchen Wagen.

»Aber ich meine«, fuhr Anna unbeirrt fort, »dass das Kostbarste im Leben die Zeit ist, die man gemeinsam mit seinen Liebsten verbringt. Und du bist mein Aller-allerliebstes!« Sie kniff das Mädchen zärtlich in die Wange, das daraufhin fröhlich quietschte.

»Wohl wahr.« Diesmal meinte es Hieronymus auch so.

»Nun habe ich folgendes Problem: Ich möchte eine Porträtaufnahme meiner Tochter anfertigen lassen. Nur soll sie nicht so aussehen.«

Die Dame öffnete ihr Täschchen, holte einige zusammengefaltete Kartonkarten heraus und reichte diese Hieronymus. Der nahm, entfaltete und betrachtete sie interessiert. Auf jeder war ein Lichtbild des kleinen Mädchens zu sehen, das im Kinderwagen saß, in ein rüschiges Kleidchen gehüllt, mal in die Kamera blickend, mal abwesend an ihr vorbei. Die Aufnahmen zeigten zudem noch etwas anderes: eine Gestalt. Einmal völlig von einem Tuch bedeckt, das Kind auf dem Schoß, sodass es aussah, als würde dieses auf einem Teppichmonstrum sitzen. Auf einer anderen Aufnahme war nur eine weibliche Hand zu sehen, die hinter einem Kasten hervorkam und das Mädchen an der Schulter hielt. Auf der dritten trug die Gestalt einen schwarzen Umhang, der auch von hinten über den Kopf fiel, sodass es wirkte, als würde Gevatter Tod persönlich mit dem Mädchen »Hoppe, hoppe Reiter« spielen.

Hieronymus nickte. »Ich weiß, was Sie meinen, Gnädigste. Das Geheimnis der versteckten Mutter.« Er grinste wissend. »Die Kinder halten nicht lange genug still, um sie fotografisch einzufangen. Außer sie spüren ihre Mutter.«

Anna seufzte. »Sie glauben ja nicht, bei wie vielen Fotografen und solchen, die sich des Handwerks mächtig schimpfen, ich schon gewesen bin. Alle versprechen sie einem das Blaue vom Himmel. ›Keine Angst, Gnädigste, man wird Sie kaum bemerken‹«, sagte sie mit verstellter Stimme. »Oder: ›Glauben S’ mir, meine Teure, das wird ein einzigartiges Erinnerungsstück.‹ Und dann bekommt man so etwas ausgehändigt.« Anna deutete auf das Foto mit dem »Tod«.

»Was will man machen?« Hieronymus zuckte mit den Schultern. Die Problematik war ihm zwar nicht fremd, aber er hatte sich noch nie damit auseinandersetzen müssen.

»Stanzerl hat gemeint, wenn es einer schafft, meiner Lucie zu einem einmaligen Porträt zu verhelfen, dann sind Sie das.«

»Das ehrt mich natürlich«, sagte dieser, »aber –«

»Dann ist es abgemacht, Herr Hieronymus«, unterbrach ihn Anna mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede duldete. »Morgen Nachmittag kommen S’ zu uns, und meine Lucie erwartet Sie gestriegelt und gekampelt3. Es soll ihr pekuniärer Nachteil nicht sein.« Sie zog eine Karte mit handschriftlicher Notiz aus dem Täschchen und hielt sie dem Fotografen vor die Nase. »Sie finden bestimmt zu uns.«

Hieronymus nahm die Karte, überlegte einen Augenblick lang, ob er etwas zusagen sollte, was er nicht einhalten könnte, deutete dann jedoch eine knappe Verbeugung an. »Ich freue mich, Sie zu überraschen, Frau Anna.«

Diese schenkte ihm zum Abschied ein Lächeln und schob den Kinderwagen weiter die Prater-Allee hinunter.

Hieronymus zwirbelte sich nachdenklich den Schnurrbart, während er der Dame hinterherblickte. Er war sich noch nicht im Klaren darüber, ob er sie affektiert oder ehrgeizig finden sollte. Oder beides.

»Samma im G’schäft?«

Eine bucklige Gestalt stapfte auf den Schindelwagen zu. Sie hatte gerade das Aquarium hinter sich gelassen, ein prunkvolles Gebäude, welches Dunkelkammern, Terrarien und Süß- und Salzwasseraquarien beheimatete.

»Oder wollte die Mamsell was anderes von dir?«

Hieronymus wandte sich der buckligen Gestalt zu. »Böse ist, wer Böses denkt, verehrter Herr Franz!«

»Und wer Zitate verwendet, um seinen Standpunkt zu festigen, bemüht sein Gedächtnis und nicht seinen Verstand«, konterte der andere.

Die beiden Männer teilten ein herzhaftes Grinsen.

»Die Mamsell will, dass ich ihr Kind verewige, ohne selbst auf dem Bild zu sein.«

Franz pfiff durch die Zähne. »Bei der langen Belichtungszeit? Da wird sie den Gschropp4 schon ordentlich tranquillieren müssen. Sonst schaut der so verschwommen aus, als würde man ihn beuteln.«

»Ich werde mir was überlegen«, gab sich Hieronymus zögerlich. »Bis morgen Nachmittag hab ich Zeit.«

Franz strich sich die spärlichen Haare zurück, die sein Haupt zierten. »Eilig haben sie es immer, die gnädigen Herrschaften. Alles sollte am besten schon gestern erledigt worden sein.«

»Was willst machen? Muss halt reichen.«

»Ich soll dir übrigens liebe Grüße von der Mitzi und dem Toni ausrichten. Sie würden sich freuen, wenn wir uns wieder einmal in der Schenke blicken lassen.«

»Werden wir.« Hieronymus lugte zur Sonne, die bereits die Wipfel der Kastanienbäume durchschnitt. »Aber heute nicht mehr. War ein langer Tag. Ich glaube, wir machen uns besser auf den Heimweg.«

Franz nickte zustimmend. Dann ging er zu dem fuchsfarbenen Haflinger, der einige Bäume entfernt seelenruhig graste. »Komm, Roswitha!«, rief er dem Pferd zu. »Schluss mit dem Tachinieren5

1 Großer Reifrock, der auf einem Unterbau aus Stahleisen aufliegt.

2 Alt-österreichische Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskel: »Ihr

gehorsamster Diener.«

3 Wienerisch: gekämmt.

4 Wienerisch: kleines Kind.

5 Faulenzen.

Donaumelodien - Totentaufe

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