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VIII

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Ohne jede Hast bahnte sich der Schindelwagen seinen Weg Richtung Magdalenengrund. Dieser stellte ehemals eine der kleinsten Vorstädte Wiens dar, die 1850 gemeinsam mit den Vorstädten Mariahilf, Gumpendorf, Laimgrube und Windmühle eingemeindet wurde und seit 1861 die Bezeichnung 6. Bezirk, Mariahilf, trug. Dies allerdings nur offiziell. Ursprünglich hieß das Gebiet mit steiler Hanglage, das zwischen Wienfluss und Kaunitzgasse gepfercht lag, im Volksmund »Im Saugraben an der Wien auf der Gstätten12«. Nun nannten es alle das »Ratzenstadl«. Dieser wenig schmeichelhafte Name ging jedoch nicht auf eine Rattenplage zurück, derer es dort zuhauf und immer wiederkehrend gab, sondern vielmehr auf die Raizen13, die sich an diesem Ort als Erste ansiedelten.

Hieronymus holte ein silbernes Etui mit kunstvoll gravierter Oberfläche aus seiner Weste, entnahm eine Zigarette der Marke Eckstein und rauchte sie sich genussvoll an. Dann blickte er auf den Kutschbock neben sich, wo sein Freund wie ein Häufchen Elend kauerte.

»Ist der Herr jetzt in Stimmung mir zu berichten, was er gestern in Erfahrung bringen konnte, oder muss er noch weiter ausnüchtern?«

Franz rieb sich den roten Schädel. »Der Herr wird es berichten, wenn der andere die infernalische Stimme senkt.«

»Grundgütiger!«, entfuhr es Hieronymus. Franz zuckte unwillkürlich zusammen. »’tschuldigung.«

»Es trug sich folgendermaßen zu«, begann Franz, noch mit leicht trägem Zungenschlag, hielt jedoch gleich wieder inne. Er sprang vom Kutschbock und spie Wasser und Galle ins Gebüsch am Wegesrand.

Hieronymus zog an Roswithas Zügeln und wartete geduldig, bis sein Freund auch den letzten Tropfen Magensäure entleert hatte.

»Auf ein Neues?«, begann Hieronymus mit schiefem Grinsen, als beide wieder auf dem Wagen saßen.

Franz nickte. »Die Burschen in den Werkskantinen vertragen wahre Unmengen. Und dann auch noch so ein gotterbärmlicher Fusel … Allein beim Gedanken daran …«

Hieronymus wollte gerade wieder die Zügel anziehen, da fuhr sein Freund fort. »Grundsätzlich ist bei allen, mit denen ich geredet habe, der Unmut groß. Denn bis ins Neunundsechzigerjahr hinein hatten sie nicht nur Arbeit, sondern konnten auch in werkseigenen Wohnungen leben, mit Weib und Kindern. Dann wandelte Drasche das Unternehmen in die ›Wiener Ziegelfabriks- und Baugesellschaft‹ um, und die leitete fortan ein Konsortium aus Banken. Damit verschlechterte sich die Lage für alle Arbeiter, wie man sich unschwer vorstellen kann. Immer mehr von ihnen wurden auf immer weniger Raum gepfercht und die Entlohnung ist dermaßen bescheiden, dass viele von der Kirchenfürsorge abhängig sind.«

Hieronymus schüttelte verständnislos den Kopf.

»Es geht noch weiter«, sagte Franz. »Die Kerle schuften bis zu fünfzehn Stunden täglich, oft sieben Tage die Woche. Und ihre Kinder ebenso.«

»Schlimm, wirklich. Aber was hat das mit unserem Leoš zu tun?«

»Nichts. Aber als Einstand hab ich mir das Gesuder14 von jedem Arbeiter anhören können, und da ist es nur gerecht, wenn du das auch musst«, meinte Franz mit einem erbarmungswürdigen Grinsen. »Was Anezkas feinen Gemahl betrifft, so schien der auch unter den Arbeitern keinen besonders guten Ruf gehabt zu haben. Streitsüchtig, volltrunken, jähzornig. Das hörte ich durch die Bank. Was ich aber auch gehört habe, ist, dass er einen Tag vor seiner Entlassung das Werksgelände verlassen habe, voll im Öl15 und Arm in Arm mit einem Serben, einem gewissen Jakub. Und der soll im Ratzenstadl leben.«

»Dass wir da nicht wegen der guten Luft hinfahren, hab ich mir schon beinahe gedacht. Dann hoffen wir, dass es dort nur einen Jakub gibt«, entgegnete Hieronymus ironisch und sah besorgt in das fahle Antlitz seines Freundes. »Willst du dich lieber in den Wagen legen, während ich mich umhöre?«

Der winkte ab. »Wer saufen kann, der kann auch –«

Einen Augenblick später stand Franz erneut vornübergebeugt am Wegesrand und spie sich die Seele aus dem Leib.

Den Schindelwagen hatten sie an der Wienstraße stehen gelassen und einem Buben, dessen Vater dort einen Schusterladen betrieb, einige Kreuzer bezahlt, dass der auf Pferd und Gefährt aufpasste.

Nun stapften Hieronymus und Franz die Magdalenenstraße entlang, die von baufälligen Giebelhäusern gesäumt war. Ihre Fassaden drückten sich nach außen, ihre Dächer wölbten sich nach innen. Morsche Fensterläden hingen quietschend im Wind, Bretterverschläge verdeckten, was zu sehen nicht gewünscht wurde. Ein modriger Geruch hing über dem Viertel.

Franz wusch sich den Kopf in einem Brunnen mit eiskaltem Wasser, wirkte mit einem Male erfrischt und agil.

»Ich werde einen auf armen Krüppel machen, der seinen Bruder Leoš sucht, der wiederum bei seinem Arbeitskollegen Jakub wohnen soll«, schlug er vor. »Mit böhmischem Akzent und so.«

»Gute Idee. Sei trotzdem vorsichtig. Die Serben mögen die Ziegelbehm nämlich auch nicht.«

Franz nickte entschlossen, beugte sich nach vorn, sodass sein Buckel noch größer wirkte, als er war, und humpelte in den erstbesten Laden hinein, in dem ein Vergolder werkte.

»G-g-grüß Gott, ich h-h-hab bittschön eine F-frage.«

Dann schloss die Tür hinter ihm.

Unsteten Schrittes ging Hieronymus vor dem Laden auf und ab. Sollte sich Leoš’ Spur hier verlieren, wusste er nicht, wo sie ansetzen sollten. Eine Zeitlang könnten sie wohl Anezka und ihre sechs Kinder mit durchfüttern, aber eine Lösung war das keine, das wussten sie alle. Und da der Kerl entlassen worden war, stand selbst in seinem Todesfall Anezka keine Werkspension oder Ähnliches zu. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, was wäre, wenn sich Franz und Anezka vermählten – immerhin verstanden sich die beiden und teilten zuweilen das Bett miteinander … Trotzdem war der Gedanke daran so befremdlich, dass Hieronymus ihn sogleich verwarf.

Wenig später kam Franz heraus. Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er nichts in Erfahrung hatte bringen können.

»Vielleicht beim Nächsten«, versuchte er sich selbst aufzumuntern und betrat das Geschäft eines Gemüsehändlers.

Doch auch hier kannte niemand einen Leoš oder einen Jakub. So klapperten sie einen Laden nach dem anderen ab, befragten sogar die schmutzig aussehenden Kinder, die bettelten oder mit Stöcken und Reifen spielten und in deren Augen sich eine befremdliche Abgeklärtheit spiegelte. Dennoch war den beiden kein Erfolg gegönnt.

»Vielleicht in einem Wirtshaus, oben, in der Kaunitzgasse«, schlug Hieronymus vor und sah die steile Kroatenstiege hinauf, deren abgetretene steinerne Stufen jeden Winkel zu kennen schienen, nur keinen rechten. Franz brummte seine Zustimmung.

Am Ende der Stiege machten die beiden Männer eine Verschnaufpause. Da merkten sie, wie jemand an Franz’ Joppe zupfte – ein blonder Bub, die Mütze schief auf dem Kopf, die Wangen voll Kohlestaub, unter der Nase Rotz.

»Sie suchen den Jakub?«, fragte er mit herausfordernder Stimme.

Franz lächelte. »Das tue ich.«

»Sie stottern ja gar nicht mehr.«

Schau an, dachte sich Hieronymus, so ein Wiffzack16. »Ist bei dem da nur zeitweilig«, sagte er mit einem Zwinkern. »Also, was weißt du über Jakub?«

Der Junge zuckte mit den Schultern, wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so selbstbewusst. »Meine Schwester hat mit ihm ein kleines Pantscherl17 gehabt, heuer um die Weihnachtszeit war das. Da war er auch öfters zu Besuch bei uns. Und jedes Mal hat er mir ein Semmerl mitgebracht.«

»Ein Semmerl? Scheint ein netter Kerl zu sein.«

Wieder zuckte der Junge mit den Schultern. »Seit meine Schwester krank geworden ist, hat er sie nicht mehr besucht. Aber es geht ihr schon wieder besser.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Franz und hockte sich zu dem Buben. »Du weißt nicht zufällig, wo ich diesen Jakub finden kann?«

»Vor zwei Wochen habe ich ihn gesehen, gemeinsam mit einem anderen Mann. Sie haben abwechselnd aus einer Flasche getrunken, haben gegrölt und gelacht und sind dann zu den Strottern18 runtergestiegen.«

»In die … Kanalisation?«, entfuhr es Hieronymus.

Der Bub deutete Richtung Karlsplatz. »Dort drüben sind sie bei einem der Kioske eingestiegen, wo es nach unten geht.«

Franz und Hieronymus teilten einen vielsagenden Blick. Dann drückte Franz dem Jungen einen Gulden in die schmutzige Hand. »Danke. Kauf davon dir und deiner Schwester was zu essen.«

Der Junge grinste schelmisch, dann lief er davon.

»Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt?«

Hieronymus zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Aber zwei Männer, die sich gemeinsam einen ansaufen … Das klingt sehr wohl nach Leoš.«

Franz pflichtete ihm bei. »Im Ratzenstadl ist er nicht, dafür bei den Strottern? Klingt, als käme er vom Regen in die Traufe. Ich bringe es aber auch nicht übers Herz, Anezka anzulügen, wir hätten keinen Erfolg gehabt.«

»Die Kanalisation unter Wien ist wie eine Stadt in der Stadt. Und die Strotter halten zusammen wie Pech und Schwefel, zumindest heißt es das. Es wird verdammt schwierig, auch nur irgendwen dort zu finden, zumal alle, die da unten leben, nicht gefunden werden wollen.«

»Ich gehe.« Franz strich sich die spärlichen grauen Haare am Kopf glatt, als würde er sich für einen gewichtigen Besuch zurechtmachen. »Wegen meinem Buckel brauch ich mich zumindest nicht zu bücken.«

»Das wird keine leichte Aufgabe, mein Freund. Und niemand hier oben wird dir helfen können, solltest du auf Schwierigkeiten stoßen.«

»Du meinst, ich kann dir nicht zu Hilfe eilen, wenn du wieder einmal in Schwierigkeiten steckst?«

»Ja.« Hieronymus grinste. »Oder so herum.«

»Was wirst du machen?«

»Ich werde mein Glück erneut am Schlickplatz versuchen und nach Karolína Ausschau halten. Wie schon so oft zuvor.«

»Tu das. Aber lass uns erst noch bei dem Wirtshaus da drüben die Wampe vollschlagen. Danach steig ich hinunter. Einverstanden?«

»Einverstanden«, meinte Hieronymus und sie machten sich auf den Weg. »Vielleicht zum Abschluss noch ein bekömmliches Schnapserl?«

Die rot unterlaufenen Augen und der strafende Blick des anderen waren Antwort genug.

12 Alter Ausdruck für »Baulücke«.

13 Eine bis ins 19. Jahrhundert gängige Bezeichnung für die serbische

Bevölkerung in der Habsburgermonarchie.

14 Wienerisch: Gejammer.

15 Wienerisch: »voll im Öl« = volltrunken.

16 Wienerisch: schlauer Mensch.

17 Wienerisch: Liebelei.

18 Menschen, die in Abfällen nach Verwertbarem umherstöbern.

Donaumelodien - Totentaufe

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