Читать книгу Erst DENKEN, dann ESSEN - Bastienne Neumann - Страница 9

Оглавление

Wie das Essen zu meinem Feind wurde

Ehrlich gesagt kann ich mich kaum daran erinnern, wann genau es anfing, dass ich jedes Lebensmittel, das ich aß, bewertete und kategorisierte. Das Abnehmthema begleitet mich gefühlt schon mein gesamtes Leben, und das schlechte Gewissen beim Essen verfolgt mich auch schon seit eh und je. Zwar haben sich diese Gedankengänge vor allem in meiner Jugend verstärkt, doch im Kern waren sie schon immer da.


Solange ich denken kann, zählte ich in meinem Weltbild zu den »Dicken«. Ich habe mich noch nie als »normal« angesehen, was meine Figur betrifft. Es gab die Schlanken, und es gab mich – eine Denkweise, die sich über die Jahre ganz tief in meinem Kopf verankert hat. Ich weiß nicht mal genau, weshalb ich in meiner Vorstellung schon immer »die Dicke« war. Ich wurde als Kind nie wegen meiner Figur aufgezogen. Es hätte auch gar keinen Grund dafür gegeben, denn zu dieser Zeit war ich noch alles andere als dick. Zwar war ich schon immer etwas größer und stabiler gebaut als die meisten anderen Kinder in meinem Alter, allerdings war ich noch weit davon entfernt, dick zu sein. Doch in meinem Kopf sah das schon damals ganz anders aus.



Ich war ein ziemlich neugieriges, aufgewecktes, selbstbewusstes und manchmal etwas tollpatschiges Kind. Gelegentlich war ich auch etwas frech und gab gern den Ton an. Außerdem liebte ich es schon damals, auf der Bühne zu stehen, zu singen, zu tanzen und mich darzustellen. Es gab nur einen wunden Punkt an mir – meinen Körper. Sobald es um meinen Körper ging, wich diese fröhliche und leichte Art. Stattdessen wurde ich unsicher und verlegen, denn schon damals, im zarten Kindesalter, schämte ich mich für meine Figur und fühlte mich furchtbar unwohl in meiner eigenen Haut.


Obwohl es inzwischen schon viele Jahre her ist, erinnere ich mich an ein ganz bestimmtes Erlebnis aus der Kindheit, das mir immer wieder vor Augen führt, wie früh diese Selbstzweifel anfingen.


An heißen Sommertagen wurde in meinem damaligen Kindergarten hin und wieder eine Art Gartendusche zur Abkühlung im Hinterhof aufgebaut. Ich war noch recht neu dort und durfte das Ganze zum ersten Mal miterleben. Von meiner großen Schwester wusste ich bereits aus Erzählungen, dass die Gartendusche das absolute Highlight war. Ich war tierisch aufgeregt und konnte es kaum abwarten, endlich mit den anderen Kindern unter der Dusche toben zu können. Doch bevor wir rausdurften, setzten wir uns in den Stuhlkreis, und unsere Kindergärtnerin ermahnte uns, dass wir uns gut abtrocknen sollten, bevor wir wieder reinkamen. Ungeduldig saß ich auf meinem Stuhl und hörte zu. Als dann endlich das letzte Wort gesprochen wurde, sprangen alle Kinder auf und zogen sich so schnell aus, wie sie nur konnten, und rannten nach draußen.


Erst in diesem Moment realisierte ich, dass wir selbstverständlich nicht mit den Klamotten ins Nasse springen würden. Im Umkehrschluss bedeutete das, dass ich mich ausziehen musste. Mit einem Mal verschwand die Vorfreude, und mein fünfjähriger Kopf konnte nur noch daran denken, dass die anderen Kinder meinen »dicken« Bauch sehen würden. Verlegen bückte ich mich und öffnete im Schneckentempo meine Schuhe. Zwischendurch blickte ich immer wieder unauffällig nach oben, um zu überprüfen, ob die anderen Kinder schon auf dem Hof waren. Ich ließ mir viel Zeit. Wusste dabei aber ganz genau, dass ich mich früher oder später sowieso ausziehen müsste, wenn ich mir keine Ausrede einfielen ließ. Ich wollte nämlich auf gar keinen Fall zugeben, dass ich mich nicht traute, mich auszuziehen, schließlich war ich doch eine von den Coolen.

Ich war mir sicher, dass die anderen Kinder mich blöd angucken oder auslachen würden, wenn sie meinen Bauch sahen.

Auf gar keinen Fall wollte ich raus.

Mein Kopf ratterte, ich brauchte eine Ausrede. Irgendeinen Weg musste es doch geben, dieser Situation zu entkommen. Dann kam mir die Idee. Ich würde einfach unauffällig auf die Toilette gehen und dort so lange warten, bis die ersten Kinder wieder reinkommen würden, um sich anzuziehen. Dann würde ich mich wieder unter die Menge mischen, und keiner würde dumme Fragen stellen. Kaum hatte ich den Plan ausgeheckt, schlich ich mich heimlich davon. Im Badezimmer angekommen, stellte ich mich sogar auf die Toilette, sodass niemand meine Füße sehen konnte. Einige Minuten vergingen, und mir wurde langsam langweilig. Ich spielte mit dem Gedanken, mich zu überwinden und doch nach draußen zu meinen Freunden zu gehen. Aber dann rief ich mir wieder in Erinnerung, dass ich mich ausziehen müsste und die anderen Kinder mich auslachen würden. Also blieb ich auf der Toilette stehen und hoffte darauf, dass die ersten Kinder bald wieder reinkommen würden, sodass ich unauffällig dazustoßen könnte.


Doch statt der anderen Kinder hörte ich meine Kindergärtnerin, die meinen Namen rief. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, als ich realisierte, dass bereits nach mir gesucht wurde. Ich war mucksmäuschenstill und versuchte sogar, meinen Atem anzuhalten. Als sie zum wiederholten Mal meinen Namen rief und hinzufügte, dass sie sich Sorgen um mich machen würde, bekam ich Angst, sie würde meine Mutter anrufen. Also stieg ich zögerlich von der Toilette herunter und zeigte mich. Als die Erleichterung der Erzieherin, mich endlich gefunden zu haben, nachließ, folgte ein kleines Verhör. Ich wollte natürlich nicht verraten, weshalb ich wirklich so lange verschwunden gewesen war. Wie angewurzelt stand ich da und erfand irgendwelche Ausreden.


Auch wenn mein Gerede wahrscheinlich keinen wirklichen Sinn machte, erließ meine Erzieherin mich aus dieser unangenehmen Lage und schickte mich unter die Gartendusche zu den anderen. Wieder suchte ich nach Gründen, weshalb ich nicht nach draußen konnte. Mir fiel jedoch auf die Schnelle keine plausible Erklärung ein. Den wahren Grund wollte ich auf keinen Fall nennen, da es mir peinlich war. Also ließ ich mich letztendlich doch überreden, nach draußen unter die Dusche zu springen.


Viel Zeit hatte ich mit der ganzen Aktion nicht gewonnen. Widerwillig, aber trotzdem bemüht, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, zog ich mich aus und ging beschämt nach draußen. Verlegen hielt ich mir die Arme vor den Bauch, in der Hoffnung, dass niemand etwas sehen würde. Ich erwartete aber trotzdem, dass die anderen Kinder mit dem Finger auf mich zeigen und mich auslachen würden. Aber nichts von alledem geschah, es passierte rein gar nichts. Mein Dazustoßen wurde nicht einmal wahrgenommen. Niemand lachte, niemand zeigte mit dem Finger auf mich, niemand brachte Sprüche über meine Figur. Die ersten Minuten ging ich davon aus, dass noch nie mand meinen Bauch entdeckt hatte und dass deshalb keine blöden Bemerkungen fielen, doch auch nachdem ich es gewagt hatte, meine Arme fallen zu lassen, sagte niemand etwas. Die Angst, ausgelacht zu werden, wurde immer kleiner, und mit der Zeit hatte ich sogar richtig Spaß daran, mit den anderen Kindern unter der Dusche zu toben. Das Selbstbild, dass ich zu dick sei, blieb jedoch nach wie vor bestehen.


Schlank und schön sein

Bis heute frage ich mich manchmal, woher meine Unsicherheiten in so jungem Alter kamen. Meine Mutter war schon seit eh und je um eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise bemüht. Die frühe Sensibilisierung für das Thema Essen habe ich wahrscheinlich daher. Nach der Geburt meines kleinen Bruders beschäftigte sie sich dann auch speziell mit dem Abnehmen. Und obwohl meine Mutter für uns Kinder weiterhin ganz normal und ausgewogen kochte, schaute ich mir wahrscheinlich trotzdem so einiges von ihr ab. Ich wusste, dass sie schlanker werden wollte und dafür ihre Ernährung in irgendeiner Weise veränderte. Was genau meine Mutter tat, war mir jedoch nicht klar. Aber allein die Erkenntnis, dass sie es anstrebte abzunehmen, reichte aus, um mir Gedanken über meine eigene Figur zu machen.


Mit Sicherheit trugen auch die Medien dazu bei, dass ich schon früh schlank und schön sein wollte und anfing, mich mit anderen zu vergleichen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, in dem ich ihn fragte, weshalb alle Menschen dünn wären, wie zum Beispiel die Leute im Fernsehen. Daraufhin erklärte er mir, dass nicht alle Leute dünn seien und dass im Fernsehen nur ein Bruchteil aller Menschen arbeiten würde und dass dafür vorzugsweise gut aussehende und auch schlanke Personen ausgewählt würden. Damit bestätigte sich nochmals meine Annahme, dass es ein gesellschaftliches Idealbild gab, das eine schlanke Figur vorsah.


Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf fing ich an, mich immer häufiger mit meinen Freunden zu vergleichen. Dabei musste ich feststellen, dass ich nicht so zierlich gebaut war wie die meisten meiner Freunde.

Im Umkehrschluss hieß das für mich, dass ich dick war.

Je älter ich wurde, desto intensiver beschäftigte ich mich mit meiner Figur. Zwar verstand ich noch immer nicht den genauen Zusammenhang zwischen der Ernährung und dem Gewicht, doch ich wurde immer wissbegieriger.


Irgendwann stand dann die große Schuluntersuchung an. Ich war tierisch aufgeregt, weil an diesem Tag entschieden werden sollte, ob ich bereit für die Schule war oder nicht. Ich musste viele Tests machen, und ich war bemüht, diese so gründlich und so schnell wie möglich zu bearbeiten. Schließlich wollte ich unbedingt in die Schule. Nachdem ich vermessen worden war, einen Seh- und Hörtest absolviert und meine motorische Entwicklung unter Beweis gestellt hatte, gab es das abschließende Arztgespräch.


Ich erfuhr, dass ich alles mit Bravour bestanden hatte und ab Sommer die Schule besuchen dürfte. Auch mein Gewicht lag im Normbereich und wurde nicht weiter thematisiert. Lediglich zu meinen Füßen sagte der Arzt noch einige abschließende Worte. Scheinbar hatte ich Plattfüße, nichts Schlimmes. Doch ich sollte bewusst an meiner Fußmuskulatur arbeiten. Der Arzt gab meinen Eltern den Tipp, dass Judo ein toller Sport sei, um die Fußmuskulatur zu stärken, und legte uns ans Herz, ein Probetraining zu vereinbaren.

Und genau das taten wir. Zeitgleich mit der Schule begann ich also auch mit Judo, ohne zu wissen, was für eine entscheidende Rolle dieser Sport in meinem Leben noch spielen würde.


Der Druck abzunehmen

Da ich zuvor schon einige Jahre im Verein geturnt hatte, war ich von klein auf recht sportlich und fand schnell den Anschluss im Judotraining. Schon nach kurzer Zeit bemerkte ich, dass ich auch hier größer und schwerer als die meisten der anderen Kinder in meinem Alter und ihnen deshalb auch körperlich überlegen war. Ich konnte also schon nach kurzer Zeit in die Gruppe der Fortgeschrittenen wechseln. Mein Trainer war schon damals sehr leistungsorientiert und fing früh an, mich zu fördern.


Noch bevor ich die erste Gürtelprüfung ablegte, war bereits die Rede von dem ersten Turnier, auf dem ich antreten sollte. Im Judo durfte man allerdings erst an Wettkämpfen teilnehmen, wenn man den gelben Gürtel hatte. Ich hatte allerdings gerade erst begonnen und noch den weißen Gürtel. Kurzerhand entschied mein Trainer deshalb, dass ich den weiß-gelben Gürtel überspringen durfte und direkt den gelben verliehen bekam. Ich wäre fast geplatzt, so stolz war ich. So begann meine Wettkampf-Karriere also recht früh im Alter von nur sechs Jahren.


Von da an nahm ich regelmäßig an Turnieren teil und gewann schon relativ früh die ersten regionalen Wettkämpfe. Je besser ich wurde, desto ernster wurde der Sport für mich. In den ersten Jahren war es eher ein Kinderturnen, bei dem ich hin und wieder eine Medaille gewann. Doch mit der Zeit wurde ich immer leistungsorientierter und nahm auch häufiger an größeren Wettkämpfen teil.


Im Judo erfolgt die Einteilung auf den Turnieren nach Gewichtsklassen, was ich von Anfang an hasste. Da ich schon immer einen stabileren Körperbau hatte, kam es durchaus vor, dass ich gegen Mädchen antreten musste, die zwar so viel wogen wie ich, aber einen Kopf größer und zwei Jahre älter waren. Dieser direkte

Vergleich bestätigte nochmals mein tief verankertes Selbstbild. Ich hasste diese Gewichtseinteilung. Vor jedem Turnier musste ich mich von wildfremden Leuten wiegen lassen. Und wenn mein Gewicht mal 100 Gramm über meinem Kampfgewicht lag, musste ich mich bis auf die Unterhose ausziehen, in der Hoffnung, doch noch mein Gewicht zu erreichen. Dabei schauten meist etwa 20 andere Kinder zu. In meiner Vorstellung sahen natürlich alle auf meinen Bauch und lachten mich aus. In den ersten Jahren verstand ich den ganzen Stress um das Gewicht bei den Wettkämpfen nicht. Ich stellte mich auf die Waage, wurde irgendeiner Gewichtsklasse zugeteilt und kämpfte.


Zwar wurde ich auch im Training regelmäßig von meinem Trainer gewogen, doch was das bezweckte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Erst mit der Zeit begriff ich, dass mein Trainer damit kontrollierte, ob wir unser Gewicht konstant halten konnten. Generell wurde es angestrebt, so lange wie möglich in einer bestimmten Gewichtsklasse zu bleiben, damit man seine Gegner und deren Spezialtechniken genau kannte. Würde man eine Gewichtsklasse aufsteigen, müsste man wieder von vorn anfangen und seine Gegner aufs Neue studieren.


Allerdings gab es auch Situationen, in denen es seitens des Trainers erwünscht war, in einer höheren oder in einer niedrigeren Gewichtsklasse anzutreten. So zum Beispiel bei den Mannschaftsmeisterschaften. Dabei war es wichtig, dass in jeder Gewichtsklasse ein Kämpfer vertreten war. Hatte unsere Mannschaft in einer bestimmten Gewichtsklasse keine Besetzung, dafür aber eine Doppelbesetzung in einer anderen Gewichtsklasse, kam es hin und wieder vor, dass man für ein Turnier gezielt abnehmen oder zunehmen musste. Zwar wurde kein Druck ausgeübt, dennoch nahm ich mir das Ganze sehr zu Herzen und begann langsam, aber sicher, mich immer intensiver mit dem Abnehmen zu beschäftigen.

Wie die Ernährung meinen Alltag prägte

Im Alter von etwa acht Jahren erkundigte ich mich also erstmals über das Abnehmen und über Diäten. Langsam tastete ich mich an diese Thematik heran und begriff die ersten Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gewichtsreduktion. Ich lernte, dass ich weniger wiegen würde, wenn ich weniger aß. Also fing ich an, heimlich mein Schulbrot wegzuschmeißen, wenn ich wusste, dass ich beim Training am Nachmittag auf die Waage musste. Zeitgleich begann ich, mich selbst jeden Tag zu wiegen, um mein Gewicht zu kontrollieren. Ich wollte auf keinen Fall, dass mein Trainer vor all meinen Freunden feststellen musste, dass ich zugenommen hatte.


Ich hasste das Wiegen nach dem Training von Anfang an. Jeder schaute zu und bekam genau mit, wie viel ich wog. Teilweise stellten sich sogar einige Eltern der Kinder direkt neben die Waage und beobachteten den Gewichtsverlauf jedes Einzelnen ganz genau und kommentierten ihn. Ich bemühte mich jedes Mal, die Letzte auf der Waage zu sein, in der Hoffnung, dass die meisten schon in der Umkleidekabine oder auf dem Weg nach Hause waren. Es war schon immer eine Hassliebe mit der Waage. Auf der einen Seite wünschte ich mir, dass ich sie nie wieder betreten müsste, doch auf der anderen Seite tat ich es dann aber doch mindestens einmal täglich, um mich selbst zu kontrollieren.


Je älter ich wurde, desto mehr bemerkte ich, dass sich auch die Leute in meinem Umfeld immer mehr mit ihrer Figur und ihrem Gewicht auseinandersetzten. Vor allem beim Judo war das ein Dauerthema. So brutal ehrlich, wie einige Kinder waren, fielen gelegentlich auch Sprüche untereinander. Ich bekam hin und wieder auch einen ab, schließlich wog ich noch immer mehr als die meisten meiner gleichaltrigen Freunde. Dick war ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch immer nicht. Auch wenn meine Selbstwahrnehmung eine andere war.

Manchmal kam es mir sogar so vor, als würde das Wort »dick« auf meiner Stirn stehen. Wenn ich neue Leute kennenlernte, hatte ich immer das Gefühl, dass meine Figur das Erste wäre, was ihnen ins Auge fiel. Es schien mir so, als würde sich der erste Eindruck nur auf meinen Körper reduzieren. Zwar überspielte ich diese Gedanken mit meiner lockeren und scheinbar selbstbewussten Art, doch im Inneren war ich ziemlich verunsichert und unglücklich mit mir selbst.


Irgendwann beschloss ich deshalb, dass ich nicht mehr »die Dicke« sein wollte. Mir ging es nicht mehr allein darum, meine Gewichtsklasse zu halten. Nein, ich wollte wirklich abnehmen. Ich wollte nicht mehr gegen Ältere bei den Turnieren antreten müssen, die einen Kopf größer waren.

Ich wollte einfach ganz normal sein.

Meine allererste Diät

Also begann ich meinen ersten richtigen Abnehmversuch. Natürlich heimlich, meine Eltern hätten das wahrscheinlich überhaupt nicht gut gefunden. Es wurde fast zur Routine, dass ich mein Schulbrot wegschmiss. Immer mehr schränkte ich mich beim Essen ein. Allerdings musste ich schnell feststellen, dass es mir gar nicht so leicht fiel, aufs Essen zu verzichten. Schaffte ich es einen Tag lang, konsequent weniger zu essen, aß ich am nächsten Tag das Doppelte. Es war, als müsste ich aufholen, was ich mir am Vortag verboten hatte.


Meine damalige beste Freundin hatte ebenfalls ein sehr verzerrtes Selbstbild. Ähnlich wie ich gehörte sie zu den Größeren in der Klasse und fühlte sich auch zu dick. Wir sprachen andauernd über unsere Figur, dokumentierten unser Gewicht und verglichen es miteinander. Morgens, wenn ich sie zur Schule abholte, tauschten wir zuallererst aus, was die Waage nach dem Aufstehen angezeigt hatte. Wir schworen uns, dass wir es gemeinsam schaffen würden, schlank zu werden. Gemeinsam starteten wir unsere allererste richtige Diät – die Reisdiät.

Wir hatten in einer Frauenzeitschrift gelesen, dass man damit in kurzer Zeit viel abnehmen konnte, da es entwässerte. Dass es sich beim Entwässern vor allem um einen Wasserverlust und nicht um einen Fettverlust handelte, war uns zu diesem Zeitpunkt trotz des vermeintlich selbsterklärenden Wortes nicht bewusst. Wir hatten auch keine Ahnung, dass in erster Linie die Kalorienanzahl bei einer Gewichtsabnahme relevant war. Wir waren einfach blutige Anfänger und wollten so schnell wie möglich abnehmen, ohne zu wissen, was wir da eigentlich taten.


Auch bei der Reisdiät verließ mich schnell die Motivation. Ich hatte einfach zu starke Gelüste auf so ziemlich alles, was ich nicht durfte. Durch die strengen Vorschriften bekam ich Appetit auf Lebensmittel, an die ich zuvor seit Jahren nicht gedacht hatte. Mein ganzer Körper wehrte sich gegen die Regeln der Diät, ich wollte einfach nur noch essen! Direkt am zweiten Tag steckte ich mir mein Taschengeld ein und fuhr zur Tankstelle um die Ecke. Ich investierte mein ganzes Taschengeld in Chips und Süßigkeiten. Ich kaufte mir so viel wie noch nie zuvor. Schluss mit der Reisdiät und den Verboten! Noch am gleichen Tag aß ich so viel, bis mir schlecht wurde, den Rest versteckte ich im meinem Kleiderschrank, sodass meine Eltern nichts von meinen Eskapaden mitbekamen. Dieses Verhaltensmuster trat in den kommenden Jahren immer wieder auf.


Statt abzunehmen, nahm ich mit diesem Ernährungsmuster sogar zu. Natürlich war die Gewichtszunahme in diesem Alter teils auch ganz natürlich, da ich noch im Wachstum war. Jedoch tendierte ich langsam aber sicher dazu, etwas pummeliger zu werden.

Ich versuchte, mich und mein Essverhalten zu kontrollieren, versagte und aß am Ende des Tages umso mehr.

Neues Umfeld, neue Hobbys, neue Familiensituation

Als ich zehn Jahre alt war, stellte sich mein Leben innerhalb weniger Monate komplett auf den Kopf. In diesem Sommer trennten sich meine Eltern. Für die ganze Familie war das eine schwere Situation. Es gab viele Unklarheiten. Müssten wir das Haus verkaufen, in dem ich aufwuchs? Würde ich nun bei meiner Mutter oder meinem Vater leben? Waren wir trotzdem weiterhin eine Familie? Viele Fragen, die mich beschäftigten. Zeitgleich wechselte ich von der Grundschule aufs Gymnasium und beschloss ganz plötzlich, mit dem Training aufzuhören.


Dass ich mit Judo aufhörte, hatte jedoch nichts mit den anderen Umständen zu tun. Zu dieser Zeit lernte ich eine neue Freundin kennen, die mich für das Tanzen begeisterte. Ich wollte unbedingt tanzen, statt weiterhin Judo zu machen, und bestand so lange darauf, bis meine Eltern mich beim Judo abmeldeten. Sie waren von dieser Idee alles andere als begeistert, da sie wussten, wie gut mir dieser Sport tat. Ich mochte Judo wirklich sehr und war auch eine gute Kämpferin, allerdings setzte mich das ständige Wiegen unheimlich unter Druck. Vor allem jetzt, da ich durch meine gescheiterten Abnehmversuche begann, immer mehr zuzunehmen, traute ich mich kaum noch zum Training. Zu groß war die Angst vor der Waage und der Reaktion meines Trainers. Die Vorstellung, mich gar nicht mehr für mein Gewicht rechtfertigen zu müssen, war so erleichternd und befreiend. Keine Gewichtskontrollen mehr und keine schrägen Blicke, wenn ich doch mal etwas zunahm.


Zeitgleich wechselte ich aufs Gymnasium. In der neuen Schule fand ich auf Anhieb neue Freunde. Ich war total glücklich und fühlte mich unheimlich erwachsen, nun nicht mehr zur Grundschule zu gehen. Nur die Familiensituation machte mir zu schaffen. Plötzlich zerbrach alles, was mir vorher Halt gegeben hatte. Egal, welches Problem angestanden war, meine Eltern hatten das schon irgendwie gelöst.

Doch plötzlich hatten meine Eltern selbst ein Problem. Die heile Bilderbuchfamilie gab es nicht mehr. Obwohl es eine schwere Zeit für uns alle war, arrangierte ich mich schnell mit den Umständen und steckte die Trennung gut weg.

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Trotzdem war kaum zu übersehen, dass ich zu dieser Zeit auffällig viel zunahm. Es kam einiges zusammen, was mein Gewicht in die Höhe schießen ließ. Da ich mit Judo aufgehört hatte, trieb ich viel weniger Sport. Zuvor hatte ich zwei- bis dreimal die Woche Training gehabt. Der Tanzunterricht fand jedoch nur einmal die Woche statt und war bei Weitem nicht so anstrengend wie das Judo. Außerdem hatte ich erstmals seit mehreren Jahren nicht mehr den Zwang, ein bestimmtes Gewicht auf die Waage bringen zu müssen. Niemand kontrollierte mich, und ich konnte seit langer Zeit essen, ohne es anschließend zu bereuen.


Der Schulwechsel trug dazu bei, dass ich mein bisheriges Essverhalten änderte. Meine neue Schule lag sehr zentral mitten in der Innenstadt, das heißt, mein Schulweg führte vorbei an Bäckereien, Fast-Food-Läden und Kiosken mit einem riesigen Angebot an Süßigkeiten. Plötzlich gab es ganz neue Möglichkeiten. Ich war nicht mehr auf das Essen angewiesen, das meine Eltern kauften, sondern konnte ganz allein entscheiden, was ich essen wollte. Mit zehn Jahren wählte ich natürlich vorrangig das aus, was es zu Hause selten gab. Hin und wieder kaufte ich mir also nach der Schule eine Naschtüte oder auch Pommes.


Meine neue Schule war außerdem eine Ganztagsschule, und obwohl ich dort zu Mittag aß, hatte ich jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, einen Wahnsinnshunger. Noch bevor ich meinen Schulranzen ablegte oder meine Schuhe auszog, war ich bereits vor dem Kühlschrank gestanden und hatte gierig nach einem geeigneten Snack gesucht.

Ich kam relativ früh in die Pubertät und merkte langsam aber sicher, wie sich mein Körper veränderte. Meine Klamotten passten bald nicht mehr, und mein Appetit wuchs. Ich hatte das Gefühl, meinen Körper überhaupt nicht mehr im Griff zu haben. Zwar hatte ich schon länger eine ungesunde Beziehung zum Essen gehabt, die Pubertät brachte das Ganze jedoch nochmals auf ein ganz neues Level.

All das, was sich vorher nur in meinem Kopf abgespielt hatte, wurde plötzlich Realität. Ich nahm tatsächlich immer mehr zu und wurde dicker.

Mein ganzes Leben hatte ich Angst davor gehabt, nicht der Norm zu entsprechen und mit meinem Körperbau anzuecken. Mit Eintritt der Pubertät bewahrheitete sich das nun. Zwar war ich noch weit davon entfernt, ein ernsthaftes Übergewicht zu entwickeln, aber für ein junges Mädchen am Anfang der Pubertät war es trotzdem die Hölle. Ich wollte um jeden Preis abnehmen, koste es, was es wolle.


Erstmals weihte ich meine Mutter in meine Abnehmpläne ein. Da sie sah, wie unzufrieden ich war und auch tatsächlich etwas zu viel wog, willigte sie ein, mich zu unterstützen. Gemeinsam begannen wir, unsere Ernährung auf gesunde Art und Weise umzustellen, sie brachte mir einiges über Ernährung bei und wie man es schaffen konnte, sein Gewicht zu reduzieren.


Ich war höchst motiviert und wollte mein neu erlerntes Wissen unbedingt sofort umsetzen. Schnell zeigten sich auch die ersten Erfolge auf der Waage. Allerdings hatte ich schon mein Leben lang einen Hang für Extreme. Wenn etwas gut lief, neigte ich dazu, es auf die Spitze zu treiben. Lief es hingegen mal nicht exakt nach Plan, verwarf ich das Vorhaben ganz schnell. Ein klassisches Schwarz-Weiß-Denken.


In diesem Fall lief die Gewichtsabnahme ganz gut, also wollte ich mehr. Ich erkundigte mich und suchte im Internet nach weiteren Tipps zum Abnehmen. Dabei stieß ich auf einen Bericht über die Low-Carb-Diät. Es wurde von Frauen berichtet, die innerhalb weniger Wochen über zehn Kilo abnahmen, indem sie auf Kohlenhydrate verzichteten. Zwar konnte ich mit dem Begriff Kohlenhydrate noch nichts anfangen, doch auf der Webseite gab es eine Liste, die alle Lebensmittel aufführte, die viele Kohlenhydrate enthielten. Heimlich druckte ich mir die Liste aus und versteckte sie in meinem Schreibtisch. Natürlich glaubte ich den Erfahrungsberichten, mit denen auf der Webseite geworben wurde. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass ich die gleichen Erfolge durch den Verzicht auf Kohlenhydrate erzielen könnte.


Ohne meine Mutter einzuweihen, startete ich also meine zweite Diät. Nachdem ich an der Reisdiät zuvor gescheitert war, wollte ich diesmal konsequenter sein. Brot, Kartoffeln, Reis und meine geliebten Nudeln waren also vorerst verboten. Die ersten Tage ging es mir sehr gut damit, die Versprechungen auf der Webseite und die beigefügten Bilder schlanker Frauen motivierten mich dabeizubleiben. Auf der Waage zeigten sich erste Erfolge. Ich war mich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch die Liste der verbotenen Lebensmittel war ziemlich lang, und ich vermisste meine Nudeln. Auch in der Schule war die Umsetzung nicht einfach. In der Mensa ließ ich entweder die Hälfte meines Essens liegen oder holte mir nur einen Salat. Meine Freunde brachten meist Schokoriegel und andere Süßigkeiten mit in die Schule, was wir für gewöhnlich teilten. Aber auch hier blieb ich konsequent und verzichtete. Mir fiel es wahnsinnig schwer. Zwar war es laut meiner Mutter vollkommen in Ordnung, hin und wieder etwas Süßes zu essen, auch wenn man abnehmen wollte, doch laut der Low-Carb-Diät war es strikt verboten, also hielt ich mich daran. Mit jedem Tag wurden meine Gelüste größer. Ehrlich gesagt wurden einige Lebensmittel durch die Verbote erst richtig attraktiv, und ich bekam ein unstillbares Verlangen danach.

Die strikten Verbote setzten mich immer mehr unter Druck, und ich reagierte häufig gereizt und gestresst. Irgendwann konnte ich dem Druck nicht mehr standhalten und gab auf.

Wieder einmal packte ich mir mein Taschengeld ein, fuhr in die Stadt, kaufte mir alles, worauf ich Lust hatte, und aß es.


Es war sehr enttäuschend für mich, erneut an einer Diät zu scheitern. Ich war mir fast sicher gewesen, dass ich es diesmal schaffen würde, schließlich wurde auf der Webseite mit einer Erfolgsgarantie geworben. Aber auch diese Diät endete in einem Fressgelage. Im Prinzip hatte ich genau das Gegenteil von dem erreicht, was ich beabsichtigt hatte. Ich nahm wieder zu.

Erst DENKEN, dann ESSEN

Подняться наверх