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Kapitel 1 - Film ab

Es liegt ein bisschen in der Familie. Ich kann also quasi gar nichts dafür. Die Frauen in unserer Familie weinen einfach mit Leidenschaft, sowohl bei traurigen als auch bei fröhlichen Anlässen oder einfach auch nur mal so. Mir laufen Tränen herunter, wenn ich ein Lied im Radio höre, auch wenn es nur eine einzige Textzeile enthält, die mich irgendwie persönlich berührt, und die kürzeste Rede auf einem Familienfest, in der es lediglich um die Begrüßung der Gäste und die Eröffnung des Buffets geht, reicht für mich vollkommen aus, ein Taschentuch zu zücken. Abschiede und Begrüßungen auf Flughäfen und an Bahnhöfen bieten ebenfalls eine willkommene Gelegenheit für einen emotionalen Ausbruch meinerseits. Im Kino weine ich sowieso gern, auch während der lustigen Szenen. Eigentlich ist dies neben dem zügellosen Verzehr von Popcorn der Hauptgrund, warum ich ins Kino gehe. Dort lässt es sich im Dunklen so schön weinen, wenn SIE IHN bekommt, und wenn nicht, na dann erst recht.

Diese Leidenschaft teile ich nach meiner Beobachtung mit vielen Frauen. Neben meiner weiblichen Verwandtschaft sind auch einige meiner Freundinnen gern für eine Tränenrunde zu haben. Wir stehen auch dazu, zumindest im geschützten Rahmen und in vertrauter Runde. Je nach Anlass genießen wir dabei gern ein Glas guten Rotwein und einen schmackhaften Käse oder andere Leckereien. Gemeinsam ist es eben noch schöner, sich seinen Gefühlen hinzugeben.

Es traf mich jedoch mitten ins Herz, als mir ein männliches Wesen begegnete, das ebenfalls auf Kommando und sogar ohne die schützende Dunkelheit eines Kinosaals Sturzbäche weinen konnte. Ich rede hier nicht von einem leichten Schimmer in den Augen dieses Mannes oder einer einzelnen Träne, die bedeutungsvoll an seiner Wange herabkullerte. Ich meine eine wirklich beachtliche Menge Tränenflüssigkeit, die er aus dem Stand und ohne Vorlaufzeit produzieren konnte.

Die ersten zwei- bis fünfmal war ich emotional bestürzt und fasziniert zugleich, wenn sich alle Schleusen bei ihm öffneten. Dann saß er vor mir: dieser Welpenblick, diese tiefbraunen Augen … Den Kopf leicht schräg gelegt schüttelte er sich kurz, als könne er seine tiefe Betroffenheit noch irgendwie abwenden, als würde er so sehr um Fassung ringen. Dann warf er noch einen kurzen Blick in die Weite und in die Zerrissenheit seines Herzens und dann ging es auch schon los: Er weinte wie ein Fünfjähriger, der seine Lieblingsserie nicht schauen darf und der ohne Schokoladenpudding zum Nachtisch früher ins Bett geschickt wird, weil er mal wieder etwas angestellt hat. Irgendwie war es anfangs richtig schön anzusehen, wie seine Schultern bebten und seine Augen glänzten. In solchen Momenten konnte er nur noch Satzfragmente formulieren und bekundete immer wieder, wie sehr und besonders berührt er wäre.

„Was für ein Mann“, dachte ich voller Glück in diesen Momenten. Das war ein Sechser im Lotto! Ein Mann, der zu Emotionen fähig war, weich, einsichtig, gefühlvoll, sinnlich, reflektiert und verständnisvoll zugleich. Noch nie war mir ein Mann begegnet, der sich so sehr seinen Gefühlen hingeben konnte. Er trug seine Verletzlichkeit wie eine Ikone vor sich her, und es gelang ihm immer wieder vortrefflich, mich damit zu beeindrucken. Was auf manche Frau eher unmännlich gewirkt hätte, verursachte bei mir genau das Gegenteil: Ich fand es rasend sexy.

Und die ersten dreißig Tränen sahen immer verdammt gut in seinem braun gebrannten Gesicht aus. Auch seine verblichenen Jeans und das lässige Hemd kamen in diesen Momenten noch erotischer rüber, und wenn er mich dann aus seinen wunderschönen schimmernden braunen Augen ansah, war alles zu spät. Ich schmolz dahin und war bereit, ihm jeden Satz zu glauben, so sehr sich mein Verstand auch dagegen wehrte.

Wenn sich dann zunehmend mehr Tränenflüssigkeit in seinem Dreitagebart sammelte und es richtig aus seiner Nase tropfte, ließ der optisch wirkungsvolle Effekt manchmal ein wenig nach. Dann kam das eine oder andere Mal der Gedanke in mir hoch, ihm ein Taschentuch ins Gesicht und über die Nase drücken zu wollen und ihn reinschnäuzen zu lassen. Ich hielt mich aber zurück und ließ die Taschentücher, wo sie waren. Es hätte die Szene komplett zerstört, wenn ich ihm so durch das Gesicht gewischt und zum Trost für ihn auch noch einen Schokoladenriegel aus meiner Handtasche geholt hätte. Es hätte einfach nicht gut ausgesehen.

Seine emotionalen Auftritte waren filmreif. Ich bemühte mich meist, von mir aus nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, wenn sich seine Auftritte zum Beispiel mitten in einem Restaurant vollzogen. Außerdem dachte ich auch pragmatisch: Denn nach seinen emotionalen Aus- und Zusammenbrüchen musste ich noch mindestens eine halbe bis dreiviertel Stunde Zeit für „die Aussprache“ und meinen Part mit Sätzen wie „Ich verzeihe dir“ oder „Es ist auch wirklich eine sehr schwierige und belastende Situation für dich“ oder „Uns wird niemals etwas auseinanderbringen“ einplanen, bevor wir dann endlich zu mir gehen konnten, um unsere Versöhnung gebührend auszuleben, erleichtert, dass die Tränen nach dem „Ich versteh dich ja“ in der Regel schlagartig versiegen konnten.

Auslöser dieser tränenreichen Vorstellungen waren meist verbindliche Zusagen mir gegenüber, die er nicht eingehalten hatte oder einhalten würde. Er verzettelte sich oft zwischen seinen Plänen, Wünschen und Bedürfnissen, und Bedürfnisse hatte er jede Menge. Er war nämlich überall gerne dabei, wo er die Möglichkeit sah, die schönen Seiten des Lebens zu genießen, einem anspruchsvollen und erlebnisreichen Lebensstil nachzugehen und Gelegenheiten zu finden, bei denen seine persönliche Ausstrahlung möglichst gut zur Geltung kommen konnten. Jede Party wollte mit ihm gefeiert werden. Seine Wunschliste war ausgeprägt und lang. Verzicht war ein Begriff, der in seinem Wortschatz nicht vorkam. Dabeisein war sein Leben, immer auf der Überholspur. Wo sich in seiner Wahrnehmung das Leben abspielte, durfte er doch nicht fehlen.

Und was mir erst nach einiger Zeit mit diesem Mann dämmerte: Er vertat sich zwischen seinen Geschichten, die er mir auftischte und deren Wahrheitsgehalt zum Teil sehr fragwürdig schien, denn er machte sich die Welt gern zurecht. Dass er sehr überzeugend wirken konnte, lag vermutlich daran, dass er seine eigenen Erklärungen gerne selbst glauben wollte und das wahrscheinlich in den meisten Fällen auch tat. Vielleicht überzeugte er sich sogar gern selbst mit der einen oder anderen Träne. Und drohte wieder einmal ein Moment, in dem die Leidenschaft und Bewunderung meinerseits für ihn hätten nachlassen können, weil eine seiner typischen Verzettelaktionen passiert war, eroberte er meine Gunst in der Regel mit seinen Tränen schnell wieder zurück.

Er schaute dann immer so schräg von unten nach oben zu mir hoch – er machte sich in solchen Situationen winzig klein, rund und flauschig, damit er diesen Blick von unten nach oben überhaupt hinbekam, kräuselte einen Moment seine Stirn, ließ seine Lippen noch zwei-, dreimal beeindruckend zittern, atmete tief ein und aus, bevor wir nach meinem „Ich verstehe dich ja“ rasch die Rechnung in einem Restaurant oder einer Bar bezahlten, um uns eng umschlungen in Richtung meiner Wohnung zu begeben.

Meine Wohnung war der Ort, an dem wir alles um uns herum vergaßen. Sie war der Platz für unsere Auszeiten vom Alltag und von seinen ausgesprochen anstrengenden Terminen rund um die Themen Sport, Spaß und Spannung, wie sie für diesen aktiven und körperbewussten Mann wohl wichtig waren: segeln, surfen, Männertouren, biken, Fitness und natürlich Partys, auf denen man viel von seinen Talenten mit Witz und Übertreibung ausführen kann und auf denen man einfach irre gut drauf ist. All das durfte in seinem satten Leben nicht fehlen. Auf diesen Partys wurde in Männerrunden eher nicht geweint. Da wankte man höchstens einmal gemeinsam an die frische Luft.

Die ersten Male hatten mich seine Zusammenbrüche so berührt – mit seiner auf Knopfdruck zur Verfügung stehenden Verzweiflung – dass mir ebenfalls die Tränen über das Gesicht kullerten und ich ihn sofort umwerfend fand und zum Verschlingen. Auch wenn seine Ausreden und Erklärungen, die seine Tränen begleiteten, in der Tat meist haarsträubend waren, und jede Frau, die auch nur einen Funken Verstand hatte und logisch denken konnte, sofort erkannt hätte, dass bei seinen Ausführungen so einiges hinten und vorne nicht stimmen konnte, schmolz ich dahin.

Es dämmerte mir erst nach mehreren Szenen dieser Art, dass seine Verzweiflung darüber, wie sehr es ihn doch verletzen würde, dass er mich schon wieder so verletzt hätte, doch ein sehr zielgerichtetes Weinen auszulösen schien, um auf kürzestem Weg diese herrliche Wohnung, also meine, wieder mit aufsuchen zu können. Denn dort fand er ganz viel Trost, Verständnis, Bewunderung, einen vollen Kühlschrank und ein frisch bezogenes Bett vor. Seine emotionalen Auftritte wurden zu eine Art Ritual für uns.

Gelegentlich kürzte ich die Szene ab, weil ich dachte: „Du, das geht jetzt hier alles von unserer Zeit ab.“ Aber wenn ich in Stimmung war, ihn dabei zu beobachten, wie er sich vermeintlich in Selbstvorwürfen zermalmte, ließ ich ihn auch schon mal etwas zappeln und hakte an den sehr offensichtlich unlogischen Punkten seiner Geschichte nach und blieb ein paar Minuten länger konsequent beim Thema, was er selbst möglichst vermied. Es war viel besser als ein Kinofilm, weil es so live und nah und authentisch wirkte und ich selbst mitwirken konnte. Und meist riss er mich einfach mit seinem Sturm der Gefühle mit – unser Vorspiel der ganz eigenen Art.

Dass mir dieser attraktive Mann begegnet war, war wohl ein Wink des Schicksals. Und eines war mein Leben an seiner Seite wirklich nie – langweilig.

Die Parkscheinsammlerin

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