Читать книгу Die Parkscheinsammlerin - Bea Ludwig - Страница 8
ОглавлениеKapitel 2 - Tiramisu
Der Zeitpunkt, an dem dieser Mann in mein Leben gepurzelt war, war passend und unpassend zugleich. Ich war gerade mit dem Umzug in meine neue Wohnung beschäftigt und hatte dafür eine Woche freigenommen. Mit dieser Wohnung erfüllte ich mir einen Traum, denn schon lange hatte ich mitten in der Stadt und in einer Altbauwohnung mit Charme wohnen wollen. Dies tat ich nun seit drei Tagen und ich konnte mein Glück noch immer nicht fassen. Schon lange hatte ich mit einer Wohnung in dieser Gegend geliebäugelt. Ich nahm das Gewimmel auf den Geschäftsstraßen in mich auf und war begeistert von den vielen schönen Restaurants und Cafés, die in unmittelbarer Laufumgebung zu meiner Wohnung lagen. Und ich hatte bereits eine Joggingstrecke für mich erkundet, die mein Herz wirklich höherschlagen ließ. Am Fluss entlang und mit einem fantastischen Blick auf die Skyline der Stadt konnte ich nun täglich joggen gehen. Herz, was willst du mehr?
Es war ein neuer Abschnitt in meinem Leben, dem ich mit Spannung entgegensah. Ich hatte gerade viel Vertrautes hinter mir gelassen und wagte mutig einen Neustart. Lange hatte ich über diesen Schritt nachgedacht und letztendlich alle aufkommenden Zweifel über Bord geworfen. Ich stand in meiner neuen Wohnung und in meinem neuen Leben, frei, unabhängig und erleichtert, den Sprung gewagt zu haben. Eine neue berufliche Chance stand unmittelbar bevor und ich hatte das Gefühl, auf eine große und aufregende Reise zu gehen, und erwartete die Erlebnisse mit Spannung wie auch mit gemischten Gefühlen.
Viele Kisten waren noch auszupacken; sie standen kreuz und quer in meinem Flur herum. Es hingen noch keine Bilder an der Wand, die Ausstattung der Küche war improvisiert, nur das Schlafzimmer war bereits einigermaßen wohnlich. Nach dem Aufbau der Möbel, all den Besorgungen und der Schlepperei fiel ich abends erschöpft ins Bett.
An diesem Dienstag bekam ich am frühen Nachmittag Hunger und beschloss, vor dem Auspacken der nächsten Kisten in eines der Restaurants zu gehen, die ich am Ufer entdeckt hatte. Ich griff zu Schlüssel, Handy, Portemonnaie und Jacke, ging los und schlenderte über die Geschäftsstraße. Ein Duft von Gewürzen kam mir entgegen, als ich das Lokal betrat. Da die Mittagszeit vorbei war, es aber noch zu früh für die Gäste am Abend war, waren nur wenige Plätze belegt. Der Raum war freundlich und lichtdurchflutet. Mir fielen die schönen frischen Blumen auf, die in üppig gebundenen Sträußen auf den Tischen standen. Alles wirkte sehr einladend und mit viel Liebe zum Detail und sehr geschmackvoll eingerichtet.
Die Bestellung gab man an einzelnen Stationen selbst auf. Da vorwiegend italienische Gerichte angeboten wurden, gab es Bereiche für Pasta und Pizza, eine Theke für Salate und wieder einen anderen Bereich für Fleischgerichte, außerdem einen Tresen, an dem man Getränke ordern konnte und einen für die Süßspeisen.
Ich stellte mich bei den Getränken an und plötzlich stand ein Mann neben mir, den ich zuvor schon mit einem kurzen Seitenblick als ausgesprochen attraktiv wahrgenommen hatte. Doch was mir noch vor meinem Seitenblick auffiel, war sein himmlischer Duft, der mir in die Nase stieg. Dieser Duft traf mich unerwartet und zog mich sofort magisch an. Er stand etwas orientierungslos vor dem Angebot an Speisen und Getränken und verschaffte sich gerade einen Überblick über das Bestellsystem. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment und er hatte ein Funkeln in den Augen, das mein Herz sofort höherschlagen ließ.
Ich sog seinen Duft ein und rückte ein wenig näher an ihn heran, weil ich einfach noch mehr von diesem Duft einatmen wollte. Wenn mich etwas betören kann, dann sind das gute Düfte. Und dieser Mann mit seinen braunen Augen bescherte mir sofort weiche Knie.
In diesem Moment sprach er mich einfach an, ganz selbstverständlich und entspannt, und fragte, ob ich ihm ein Gericht empfehlen könne. Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte, und auf die Speisekarte konnte ich mich nun wirklich nicht mehr konzentrieren. Ich erwiderte daher nur knapp, dass ich selbst das erste Mal hier sei und daher noch nichts empfehlen könne, und heftete meinen Blick nervös auf die Speisekarte.
Als ich an die Reihe kam, gab ich meine Bestellung auf, füllte mein Tablett und setzte mich an einen der vielen freien Tische. Und der Mann mit dem betörenden Duft setzte sich an den Nebentisch, hielt seinen Kopf etwas schief und strahlte mich an, einfach so. Er hatte etwas Jungenhaftes, Verschmitztes an sich, und irgendwie wirkte es frech, dass er ausgerechnet den Nebentisch angesteuert hatte, da doch fast alle Tische frei waren.
Ich erwiderte seinen Blick und wir mussten spontan beide lachen, denn es war sehr offensichtlich, dass da eine Neugierde zwischen uns in der Luft lag. Und so fragte er vom Nebentisch aus, ob wir nicht gemeinsam essen wollten. Ich willigte spontan ein und dachte nur wenige Sekunden darüber nach, was ich da eigentlich gerade tat. Schon schnappte er sich sein Tablett und setzte sich mir gegenüber und sein Duft stieg mir wieder in die Nase.
Wir kamen sofort ins Gespräch. Es war so selbstverständlich und offen, wie wir miteinander umgingen, und es dauerte keine zehn Minuten und wir lachten gemeinsam über alles Mögliche. Es gab sofort etwas Vertrautes, Anziehendes und zwischen uns war direkt eine Nähe, wie sie selten auf den ersten Blick entsteht. Wir redeten über Alltag, Sport, er erzählte viel von seinem Beruf, der ihn an diesem Tag auch zu einem Termin in meine Stadt gebracht hatte. Offensichtlich reiste er viel, hatte bereits die schönsten Strände der Welt gesehen, und wirkte in diesem Moment so, als wäre er gerade von einem Surfspot zurückgekommen, so erholt und sommerfrisch sah er aus. Ich erzählte von dem Viertel, in dem ich nun lebte, von meinem Umzug, deutete an, dass ich gerade zu neuen Ufern aufbrechen würde, und die Zeit verflog.
Er wirkte auf mich auf der einen Seite total entspannt, gut gelaunt und offen, und auf der anderen Seite tippelte er unter dem Tisch mit dem rechten Fuß immer wieder auf und ab, was doch ein wenig seine Aufregung verriet. Ich fand ihn hinreißend. Und die Atmosphäre war heiter und sinnlich zugleich.
Innerlich verschob ich bereits die Pläne für den weiteren Nachmittag, um nur nicht zu schnell wieder gehen zu müssen, und auch er zeigte keinerlei Ambitionen, zu zahlen. Unsere Blicke versanken ineinander, unser Lachen erfüllte das Lokal. Und wir gestanden unsere gemeinsame Leidenschaft für Tiramisu.
Und so stand dieser Mann mit den dunklen Haaren, der sonnengebräunten Haut und dem fröhlichen Blick auf und holte uns ein Tiramisu mit zwei Löffeln unter dem Vorwand, dass er allein gewiss das Tiramisu gar nicht aufessen könne. Bei dieser Erklärung zwinkerte er mir kurz zu. Wir saßen also tatsächlich mit zwei Löffeln über ein Tiramisu gebeugt, ich atmete seinen Duft ein und er meinen, und es war einfach ein völlig unerwartet perfekter Moment, den offensichtlich keiner von uns beenden wollte. Wochen später erzählte er mir, dass er in diesem Moment alles darum gegeben hätte, in meine Haare zu fassen, aber das hatte er in seiner jungenhaften Art, die eine Mischung aus schüchtern und frech zugleich war, an diesem Nachmittag noch nicht gewagt.
Wir machten uns einen Spaß daraus, wer den letzten Löffel Tiramisu aus dem Schälchen kratzen konnte, und lachten dabei wieder. Dass wir so dicht beisammensaßen, war kein bisschen befremdlich und ich schaute auf seine Hände. Einen Ehering trug er nicht. Einigen Randbemerkungen konnte ich entnehmen – und es wäre mir auch ohne diese Bemerkungen klar gewesen – dass es eine Frau in seinem Leben gab. Doch es schien in diesem Moment keine Bedeutung für ihn zu haben.
Als sich das Lokal langsam zum Abend hin füllte, zahlten wir unsere Rechnungen und gingen gemeinsam nach draußen; ich begleitete ihn noch ein Stück am Ufer entlang in Richtung seines Wagens. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich nach so einer Begegnung verabschieden sollte. Ich wusste nur: Ich wollte diesen Mann wiedersehen und ich wusste schon in diesem Moment, dass es reizvoll, aber unvernünftig war, mir das zu wünschen. Ich hatte meinen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, da nahm er mich einfach in seine Arme, küsste mich und sagte, dass er mich bald wiedersehen möchte, einfach so sagte er das, ohne jede erkennbare Furcht vor einer Abfuhr. Es war ihm anzumerken, dass er alles auf eine Karte setzte, um diese Begegnung fortsetzen zu können.
Wir tauschten unsere Handynummern aus und keine zehn Minuten später erhielt ich seine erste Nachricht. Dass dieser Begegnung tausende von Nachrichten folgen würden, ahnte ich in diesem Augenblick noch nicht. Wir schrieben nach diesem Tag so oft, wie es sich einrichten ließ, und ich war froh, dass ich noch ein paar freie Tage hatte. Und während ich in meiner Wohnung weiter die Umzugskartons auspackte, dachte ich immer wieder an diesen Mann, sah seine funkelnden Augen vor mir und versuchte mich an seinen Duft zu erinnern.
Schon zwei Tage später trafen wir uns wieder. Länger hielten wir es wohl beide nicht aus, auf unser Wiedersehen zu warten. Die zwei Tage hatten wir beide wohl nur anstandsweise hinter uns gebracht, und wir wussten, dass ich ihm an diesem Abend meine neue Wohnung zeigen würde.
Wir trafen uns in einem Café und bestellten Kakao. Wir waren beide sehr aufgeregt und hielten uns an den Händen und küssten uns bereits bei der Begrüßung mehr als flüchtig. Und im Grunde genommen ließen wir uns von diesem Moment an, als wir mit dem Kakao dort saßen und unsere Hände hielten, nicht mehr los. Diese Begegnung zwischen uns ließ uns beide nicht mehr los.
Ich wusste, dass ich mich auf ein Abenteuer mit diesem Mann einlassen würde, und er wusste es auch. Aber dennoch klingelte zumindest ein winziges Alarmglöckchen zart in mir und mein Verstand meldete sich ganz kurz zu Wort. Und so bat ich ihn in dem Café, mir seinen Ausweis zu zeigen. Er reagierte etwas verdutzt und lachte und meinte, ob ich das wirklich ernst meinen würde.
Ich erwiderte, dass er trotz aller Sympathie und Anziehung ja nun mal ein wildfremder Mann sei, und ich gerade im Begriff sei, diesen Fremden mit in meine Wohnung zu nehmen, und da wäre es doch mehr als angebracht, dass ich zumindest seinen Namen und seine Adresse kennen würde, denn ansonsten würden wir halt nur gemeinsam Kakao trinken. Und dabei lachte ich ihn genauso frech an, wie er mich angelacht hatte, als er sich mit seinem Tablett bei unserer ersten Begegnung an meinen Nebentisch gesetzt hatte. Er tat so, als würde er ein wenig beleidigt sein, dass ich ihm unterstellen würde, er könne ja auch ein Trickbetrüger oder ein schlimmer Bösewicht sein, aber dann lachte er auch und holte seinen Ausweis aus der Brieftasche.
Allerdings wirkte er plötzlich etwas nervös. Ich schaute auf seinen Ausweis, schaute noch mal und dann noch mal und wusste nun, dass er mich bei unserer ersten Begegnung angelogen hatte: Das Geburtsjahr in dem Dokument entsprach nicht dem Alter, das er mir gegenüber genannt hatte. In seinem Ausweis stand es Schwarz auf Weiß: Er war fünf Jahre älter. Und er schien mir auch kleiner zu sein, als aus der Größe hervorging, die er für seinen Ausweis angegeben hatte.
Er hatte wohl gehofft, dass ich mir das Geburtsdatum nicht so genau ansehen würde – das hatte ich aber getan und ich sprach ihn sofort darauf an. Und wieder lachte er einfach sein jungenhaftes und unwiderstehliches Lachen und fragte, ob wir deswegen jetzt beim Kakao bleiben würden – blieben wir natürlich nicht.
Ich amüsierte mich innerlich eher über diese eitle Schummelei und zog ihn noch eine sehr lange Zeit immer wieder damit auf, dass er ja gerne jünger und offensichtlich auch größer wirken wollte. Und wenig später ging ich mit ihm die Treppe zu meiner Wohnung hoch und mit jeder nächsten Stufe wusste ich, dass ich mich auf etwas sehr Unvernünftiges einließ, und ich wusste, dass ich es wollte und dass dieser Mann mich faszinierte und reizte, und ich ahnte auch, dass das Glück und die Leidenschaft mit diesem Mann seinen Preis haben würde.
Seit diesem Abend waren wir ein Paar und lebten eine ungezügelte, sinnliche, fröhliche und mitreißende Beziehung miteinander, eine Nebenbeziehung, denn wie ich schon bei unserer ersten Begegnung vermutet hatte, gab es nun nicht nur eine unsichtbare Frau an seiner Seite, nämlich mich, an Ort B, sondern es gab seit über zwanzig Jahren eine Ehefrau an Ort A.
Der Mann mit den schönen braunen Augen und dem betörenden Duft verheimlichte mir gegenüber nicht im Mindesten, dass er schon lange in dieser festen Beziehung lebte, und die Selbstverständlichkeit, mit der er von seiner Frau sprach, wirkte anfangs irritierend auf mich, aber es hielt weder ihn noch mich davon ab, uns Hals über Kopf in eine gemeinsame Zeit zu stürzen. Es waren Begegnungen im Hier und Jetzt und wir blendeten alles andere um uns herum aus, was diese Begegnungen unmöglich gemacht hätten.
Und so begann für ihn ein Doppelleben, und er pendelte zwischen Ort A und Ort B hin und her und fuhr wöchentlich hunderte von heimlichen Kilometern zwischen seinen beiden Leben. Wir genossen die gemeinsame Zeit wie einen kostbaren Schatz und schnell gewöhnte ich mich daran, dass es jede Woche sehr intensive Zeiten mit ihm gemeinsam gab, und in den Zeiten, die er an Ort A verbrachte, lebte ich mein selbstbestimmtes eigenes Leben mit Beruf, Freunden und Hobbys. Ich war sehr froh, dass ich keinen Grund hatte, diesen Mann an meiner Seite zu verheimlichen, wenngleich er auch nur zu bestimmten Zeiten der Woche da war. Mir gefiel dieses neue Lebensmodell, und die Zeiten ohne ihn waren angefüllt mit meinen neuen Herausforderungen. Unsere gemeinsame Zeit machte mich glücklich und beflügelte mich. Und ihm erging es genauso.
Seine Verzettelaktionen mit den entsprechend tränenreichen Verzeih-mir-Momenten gehörten ebenfalls bald zu unserer Beziehung, denn dies brachte ein heimliches Doppelleben schnell mit sich. Und auch wenn es günstig war, nicht am eigenen Wohnort händchenhaltend mit der Nebenfrau im Eiscafé zu sitzen, sondern weit entfernt von diesem offiziellen Leben, so kostete es halt auch viel Benzin und Zeit. Auf die Ökobilanz wirkt sich so eine außereheliche Beziehung mit zwei verschiedenen Einsatzorten eher negativ aus, auf die Hormonbilanz aber positiv, und für eine lange Zeit waren die gemeinsamen Stunden an Ort B für uns geprägt von sinnlichen Momenten voller Leidenschaft und Leichtigkeit, und ich nahm mir fest vor, dass die Waagschale mit den wunderschönen Stunden stets deutlich schwerer wiegen sollte als die Waagschale mit den Schwierigkeiten, die so ein Doppelleben zweifelsfrei auch mit sich bringen würde. Diesen glücklichen Zustand wollte ich mir und uns so lange wie möglich bewahren.