Читать книгу Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten - Beate Morgenstern - Страница 5
DER WETTLAUF
ОглавлениеDie kleine alte Pendeluhr tickte. Tagelang hatte er immer wieder auf die Uhr geschaut, ein auf vier Säulchen stehendes Türmchen, mit dem runden Zifferblatt. Die Zeiger standen auf halb elf. Noch nicht!, hatte er sich gesagt, wenn er überlegte, die Uhr auf der alten Konsole mit nie benutztem Fach über dem Herrenschrank wieder aufzuziehen. Er hatte sich den Trost des hin und her schwingenden Pendels versagt, hatte sich versagt zu hören, wie die Zeit ablief. Obwohl eine solche Gewissheit, ein solches Versprechen in diesem Ticken lag, in dem Blick auf das hin und her schwingende Pendel, hatte er sich diesen Trost vorenthalten. So schlecht war es ihm gegangen!
Als wäre es kein bedeutungsvoller Vorgang, hatte er heute ganz nebenbei den Schlüssel von der Konsole genommen, ihn in das Zeigerblatt der Uhr gesteckt und sie aufgezogen. Wahrscheinlich, weil ein schöner Morgen geworden war, anders als vorausgesagt und er bei seinem Aufstehen in der Dunkelheit befürchtet hatte. Früher hatte er an Wochenenden ausgeschlafen, bis neun, bis zehn Uhr. Jetzt sein Schlaf war nicht mehr gut. Wovon sollte er auch müde werden? Erst recht aber brauchte der Tag Struktur. Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend. Diese Einteilung machte den Tag nicht zu einem einzigen langen Stück, durch das man nie hindurch käme. Halb acht stand er auf. So war die Regel, an die er sich auch im Winter hielt. Obwohl er an Beklemmungen litt, bis es endlich hell wurde. Dafür erlebte er das Anbrechen des Morgens und die Überraschung, wenn sich allgemeine Wettervoraussagen nicht erfüllten, der Himmel nicht das eintönige helle Grau annahm, das ihm vor allem verhasst war. Regen ihm lieb. Regentage ihm immer lieb. Die hüllten ihn ein, umgaben ihn wie einen Mantel. Auch einen gleichmäßig düsteren Novemberhimmel mochte er, aus dem es leise nieselte. Das Grau heute aufgelockert, dunkle Wolken, die schnell zogen, helle kleine, die sich kaum fortbewegten, große verwischte Flächen. (Er hatte diese Aussicht auf den Himmel. Das hatte ihm der zweite Umzug gebracht.) Noch hatte er gar nicht nach draußen geschaut, bloß das Licht gefühlt, genau richtig für ihn dosiert, war sich wieder ein bisschen mehr gut gewesen. Das hatte ihn sicher zum Uhrschlüssel greifen lassen. Jetzt erst betrachtete er den Himmel. Bis er sich zu nächstem Tun aufraffen konnte, lag er nach dem Frühstück auf dem Kanapee. Er sah, wie sich die Sonne ihren Weg durch die Feuchtigkeitsmassen bahnte: Bleich war sie, lächerlich kreisrund, geradezu wie mit einem Zirkel gezogen. So war sie ihm recht. Seine Beklemmung hatte einer Melancholie Platz gemacht, in der er sich wohlfühlte, die sich an den seltenen guten Tagen bis ins Heitere steigern konnte. (Wie lange war es her, dass er tatsächlich einen ganzen langen Tag gelassen gewesen war und sich selbst wie von ferner Warte mit ein wenig gutmütiger Häme betrachtete: Soweit bist du gekommen, und das Übrige wirst du auch noch hinter dich bringen.) Er schaute in den Himmel und wieder auf die Uhr. Sie das Lebendigste, Schönste in seiner Wohnung, die eine Mischung war zwischen Altem und Neuem, alles aufeinander abgestimmt. Nicht den kleinsten Mangel konnte er ertragen, weshalb er bei der Einrichtung Schulden gemacht hatte, von denen er wohl nie herunterkäme, was ihn weniger bedrängte, als wenn er etwas Unvollkommenes hätte anschauen müssen. Der halbhohe Herrenschrank mit seinen Säulchen und Kapitälchen, die Innenflächen marmoriert, die Konsole darüber und darauf die Uhr hatte er bewusst als Blickfang gewählt. Er konnte schauen, wie die Zeit verging. Die Möbel wohl aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. So musste man jetzt schon sagen, obwohl das neue Jahrhundert gerade erst ins zweite Jahr ging. Als Junge hatte er sich nie vorstellen können, dass er diesen Zeitsprung ins nächste Jahrhundert/Jahrtausend mitmachen würde. Wenn es auch bloß ein angenommener war. Andere, weniger bestimmende Kulturen lebten in ganz anderen Zeiten. Die Möbel würden ihn überdauern, die Uhr auf jeden Fall einen Liebhaber finden. Es tat ihm gut, an das zu denken, was Bestand hätte, wäre er nicht mehr. Die Uhr würde fort und fort ticken. Aber diesen tröstlichen Klang wie für ihn hätte sie für einen nächsten Besitzer wohl kaum noch. Andere Menschen besorgte es eher, dass Zeit verging. Er würde gern von dem, was ihm an Jahren blieb, abgeben. Sofort alle Tage und Jahre an jemanden, der noch einen Sinn in seinem Leben sah, vielleicht tatsächlich Sinnvolles tat in dieser Zeit, die nicht mehr die seine war, in der er aussortiert war, von der er aber nicht nur deshalb keine gute Meinung hatte. Bitter notierte er: Je größer der Unsinn, je größer die Unvernunft, umso mehr hatte sie Aussicht auf Erfolg. Wahnwitziges ereignete sich. Wo er doch allen Ernstes an den Sieg der Vernunft geglaubt hatte. In dem vergangenen System, als ihm noch deuchte, lediglich Reformen ständen aus, die Einführung des Zweifels als Kategorie würde die Gesellschaft in die richtigen Bahnen lenken.
Nicht einmal als Organspender kam er in Frage. Seine Körperfunktionen unzuverlässig. Der Wurm war in ihm. Der Wurm!, wiederholte er leise, genussvoll vor sich hin sprechend. Ein leichtes Grinsen überzog sein Gesicht. Seine dicken schräg liegenden Augenlider verengten sich. Sein breiter Mund zog sich leicht in die Höhe. Schmal seine Nase, die am Ende wie zu einem Tropfen auslief. Kräftig, männlich sein gespaltenes Kinn. Sein Gesicht von einem beinahe vollkommenen Oval, was nun durch völlig fehlenden Haarschmuck auffiel. Was noch kümmerlich spross, rasierte er sich ab. Er selbst bezeichnete sich als hässlich, was aber seiner geringen Selbstachtung geschuldet war. Seitdem er seine Arbeit und dann seine Liebe verloren hatte, war er sich nicht gut, wenn er sich auch nicht so sehr hasste, dass er auf Annehmlichkeiten verzichtete, auf eben diese in aller Bescheidenheit bis zum letzten Winkel vollkommen ausgestattete Wohnung, auf schmackhafte Mahlzeiten, wobei er nie so ganz genau im Voraus wusste, ob sie ihm bekommen würden. (Die bekömmlichsten waren ihm die von Nina, der Lebensgefährtin seines Freundes. Sie bevorzugte die südländische Küche. Keiner begriff, warum er sich ausgerechnet mit Nina so gut verstand. Norbert warf ihm sogar vor, er würde immer auf ihrer Seite stehen.) Kaffee in Maßen, Trinkschokolade, Kuchen. Er buk auch selbst, bekam er einmal einen Gast. Er suchte zu genießen, so gut er es vermochte. In den letzten Tagen allerdings war ihm die geringste Maßnahme zum Erhalt seines seelischen Gleichgewichts zuwider gewesen, als könne er so sein Ende beschleunigen. Heute nun schien wieder ein Anfang gemacht in dieses Stück Leben, das er vor sich hatte. Sein Blick wanderte zum Foto einer nicht mehr ganz jungen Frau in altmodischer dunkler Kleidung. Hübsch war sie mit ihren dunklen locker aufgesteckten Locken, dunkeläugig und die Züge sehr weich. Diese Frau, seine Großmutter, hatte ihn geliebt, und er sie. Er nahm sie, wie sie auf dem Bild war: als junge Frau, und drängte beiseite, wie kläglich ihre letzten Jahre gewesen waren und wie erbärmlich ihr Tod. Noch hatte sie ihr Leben nicht an das ihrer bösen, wenn auch schönen Tochter gehängt, diese seine Mutter, über die er keinen einzigen guten Gedanken hatte.
Die Sonne drang nun ganz durch die Wolken, gleißte unangenehm, traf bald genau seine Augen. Eine Weile lag er, unfähig, Abhilfe zu schaffen. Jede Aktion kostete Mühe. Doch das Licht stach so sehr, dass es ihn dann doch von der Liege trieb. Er zog das Sonnenrollo herunter. Nun herrschte eine Dämmerung im Zimmer, die ihn aufatmen ließ. Der schöne Morgen durfte noch fortdauern. Es schien ihm, er brauchte nur auf seinem Kanapee zu liegen und Zeit verrinnen zu lassen. Tag um Tag um Tag, ein Jahr und noch eines und noch eines.
Die Zeiger rückten vor. Wie sie zehn Uhr anzeigten, wusste er nicht, warum er nicht heute wie jeden Samstag um diese Zeit weit hinausfahren sollte aus der großen Stadt in den Norden.
Er sah sich noch einmal in der Wohnung um, räumte noch Kleinigkeiten beiseite, damit er die Wohnung so vorfand, wie er sie vorzufinden wünschte: in bester Ordnung. Es war ihm nicht bewusst, dass er damit jede Spur seiner Anwesenheit tilgte.
Mit dem kleinen Auto, das er sich nach der Wende geleistet hatte und dessen Reparaturen ihn eines Tages ganz ruinieren würden, war er nach fünfzwanzig Minuten aus der Stadt und auf der Autobahn, die bald mitten durch Wälder führte.
Hin und wieder nahm er Norbert auf diesen Fahrten mit. Der hatte kein Auto und würde niemals eines haben. Was ihn Ende vierzig betroffen hatte, war Norbert schon mit im Alter von dreißig Jahren zugestoßen, wie so vielen, die jenes Land bewohnt hatten, das es jetzt nicht mehr gab. Er war arbeitslos geworden. Nach allen Anläufen, irgendwo doch noch unterzukommen, schien es zwölf Jahre später vollkommen aussichtslos, dass er je eine Anstellung erhalten würde. Obwohl man Norbert, anders als ihm, nicht einmal Systemnähe vorwerfen konnte. (Wie ungerecht der Vorwurf auch war. Er war nie Parteigänger gewesen.) Nina und Norbert hatten sich um denselben Posten beworben. Nina hatte man genommen. Nina, die nicht jünger war und keine Berufserfahrung besaß, aber eine andere Biografie, eben eine westliche. Das ist doch merkwürdig, hatte Norbert gemeint. Oder? Das kann einem doch zu denken geben. Es gab zu denken. Er hatte sein Leben gelebt, nicht gerade erfolgreich oder glücklich, was machte es. Aber dass man dem Freund keine Chance einräumte, kränkte ihn mehr, es erbitterte ihn. Es änderte auch nichts, dass Norbert nun mit Nina zusammen war. Norbert hatte ja schon vorher Beziehungen zu Frauen gehabt. Er war Gott sei Dank über das Schlimmste hinweg. Klinik, Gruppe lagen hinter ihm. Er hatte abgeschlossen. Norbert war seine große Liebe gewesen. Die hatte so und so viele Jahre gedauert. Gutes stand ihm sicher nicht mehr bevor.
Norbert wusste, dass er samstags in den Norden fuhr. Immer dieselbe Strecke. Norbert hätte anrufen können. Er hingegen hatte darauf zu achten, dass er Norbert nicht lästig wurde mit seinen Anrufen, Angeboten. Er teilte sich seine Anrufe zu. Tage zögerte er. Rief er doch an, hatte er etwas mit Nina zu besprechen. Wollte auch Norbert mit ihm reden, war das seine Sache. Weder in der, noch in der vergangenen, noch in der Woche davor, hatte Norbert gesagt, lass uns mal zusammen rausfahren. Also fuhr er allein. Er kannte das alles inzwischen ja. Arbeit hatte es gekostet, nur noch zu sagen: ich. Sonst gibt es niemanden, überhaupt niemanden auf der Welt.
Es war wieder wie in seiner Kindheit. In der er auch niemanden gehabt hatte. Trotz der Mutter oder gerade der Mutter wegen und trotz des Vaters, ungeliebt von ihr, eben so hingenommen, weil dieser Sohn nun mal gekommen war. Oder gerade wegen des Vaters. Und trotz und gerade wegen der jüngeren Geschwister, deren Existenz die Mutter dann nicht mehr in Zusammenhang mit diesem Mann brachte, der ihr das leichte Leben mit anderen Männern vermasselt hatte. Gegen diese Einsamkeit hatte selbst die Großmutter nicht viel auszurichten vermocht, die die Mutter gnadenlos bis zum letzten Atemzug ausgebeutet hatte. Erfroren war sie eines Nachts in einem kalten Winter auf dem Weg von der Wohnung der Tochter zu ihrer. Gestürzt und erfroren in dem erzgebirgischen Dorf. Die Tochter hatte nicht sagen können: Bleib doch mal da, Oma. Es ist so kalt draußen. So ein Wort kam nicht über ihre Lippen.
Das Alleinsein ihm also gut bekannt. Oh ja. Aber ob es ihm leichter fiel, weil er an Erfahrung in Kindheit und früher Jugend anknüpfen konnte? Er steckte nicht in der Haut derer, die dieses Gefühl noch nicht kannten. Auf jeden Fall war es überaus hart, wieder an diesem Punkt anzukommen. Er hatte ja gedacht, mit Norbert auf immer und ewig.
Er bog auf die Landstraße ab. Die Alleebäume kaum noch belaubt, schwarz von der Feuchte Stamm und Äste, die Wiesen besonders grün. In dieser Umgebung ließ sich Sonne ertragen, die zudem immer wieder von Wolken überzogen wurde.
An einem Gehölz hielt er an. Es grenzte an eine der schwarzstruppigen Brachen, die hierzulande üblich geworden waren, weil man die Bodenfruchtbarkeit für zu gering hielt, nicht einmal Gras wurde gesät, um Vieh zu weiden. Aussortiert wie er auch diese Flächen. Er ging durch das Gehölz. Etwas außerhalb stand ein Bäumchen. Die Blätter gelb leuchtend. Ein kleiner Ginkgo, der ihn schon um Längen überragte. Wie wäre es ... ?, hatte Norbert gesagt und gelacht. Er hörte jetzt wieder seine männliche Stimme und sah, wie er die Augen zuzog, Spott darin, Zynismus, auch Übermut. Wie wäre es, wenn du einen Baum pflanzt. Hier in der Einöde. Ein Mann soll einen Sohn zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen. Söhne haben wir zu viel. Häuser ..., Norbert hatte angewidert den Mund verzogen und dann auf die um die Dörfer wuchernden Siedlungen verwiesen. Aber ein Baum, das wäre es doch! Wieder hatte er gelacht. Kalt, umbarmherzig war Norbert in der Zeit der Ablösung gewesen, hatte ihm nie gesagt, ob er die Nacht wegblieb oder nicht, so dass er sich im Warten aufgezehrt hatte. Heute verhielt er sich anders. Er, dem es selbst dreckig ging, dachte sich Dinge für ihn aus, die ihm Mut geben sollten. Und er nahm jeden Hinweis Norberts an wie ein Geschenk. Das Verhältnis hatte sich umgekehrt. Norbert jetzt der, der ihn beriet, auf den er hörte. Er wollte sich der Zuneigung wert erweisen. So war er tatsächlich in die Baumschule gefahren. Etwas Besonderes hatte es sein sollen. Ein Ginkgo wurde ihm angeboten. Er dachte an das Gedicht des Altmeisters, an die riesigen Bäume auf dem Hof der Humboldt-Uni. Er hatte sich ausbedungen, dass Norbert den Baum mit ihm gemeinsam pflanzte. Wenn du solchen Wert darauf legst!, hatte Norbert gesagt und wieder sein Grinsen im Gesicht gehabt. Etwas seltsam war es gewesen, wie sie ein Loch in die Erde gruben. Als ob sie ihrer Liebe ein Grab aushoben. Gleichzeitig aber sollte auf diesem Grab wachsen, das weit in die Zukunft zeigte. Eines Jahres, wer weiß, hatte Norbert mit seiner schönen Stimme gesagt, wir weilen schon lange nicht mehr unter den Lebenden, dann ist das ein mächtiger Baum. Die Leute wundern sich und staunen, wie der hierher gekommen ist. Er hatte laut und lange gelacht, was sowohl herzlich wie zynisch klang. Es soll ein Zeichen sein, was meinst du? Seither beobachtete er den Himmel, ob es genug regnete, nahm oft Wasserkanister mit. Sieben Jahre hatte der Ginkgo schon überlebt, war Stück um Stück gewachsen, erstaunlich schnell für diese Art von Baum. Er betastete die Blätter, sprach das Gedicht des Altmeisters vor sich hin, das sich auf die Zweiteilung des Blattes einen Vers machte. Es sah aus, als müsse er sich nicht mehr sorgen um dieses Bäumchen. Er nahm den Fotoapparat aus der Hülle, suchte sich seinen gewohnten Platz, drückte auf den Auslöser, trug auf einer kleinen Pappe das Datum und die Aufnahmenummer ein. Seit Jahren fotografierte er nichts mehr anderes als von Zeit zu Zeit diesen Ginkgo. Eines Tages würde er nach dem Vorbild von Max Skladonowski ein Büchlein fertigen mit Fotos von dem Baum. Blätterte man schnell, konnte man ihn wachsen sehen. Der Baum nicht das Werk von ihm und seinem Freund, soviel Hochmut hatte er nicht. Aber immerhin, sie hatten ihm Platz gegeben und er hatte ihn, war es notwendig, mit Wasser versorgt. Weiter fuhr er. Eine Bahnlinie überquerte er in stark verlangsamtem Tempo. Vielleicht hatte Norbert den Zug genommen. Die Abfahrtzeiten kannte er ja. Mehr als einmal hatte er auf dem Bahnhof gewartet und gesagt: Ich dachte, ich überrasche dich. Nein, im Ernst, ich bin erst heute früh auf die Idee gekommen. Es war mir zu dumm, dich noch anzurufen.
Keine Spur von Norbert. Natürlich nicht. Dass er doch immer noch etwas erwartete! Dass er doch immer noch Hoffnungen hatte! Er fuhr in den üblichen Waldweg, stellte sein Auto ab, stieg aus und begann zu laufen. Sein Tempo gleichmäßig. Er hatte eine bestimmte Route. Manchmal schaffte er sie, ohne anzuhalten und eine Weile zu gehen, manchmal musste er Pausen einlegen. Er war ein recht guter Läufer, was man ihm sicher nicht zutraute. Ein trauriger Büromensch mit zwei linken Händen, so war sein Bild von sich. Man sah ihm nicht an, dass er weder immer ein Trauerkloß gewesen war, noch ungeschickt, noch ein schlapper Büromensch. Er lief sich in eine Freude, in ein Bewusstsein von eigenem Wert, von eigener Kraft hinein. Das leistete er sich möglichst einmal in der Woche. Nicht im nahen Stadtpark, sondern ganz allein hier draußen im Barnimschen Land. Er war eben für das Besondere. Noch immer lief er, schob die Pause hinaus, die er heute wohl einlegen müsste.
Seit einiger Zeit hörte er Schritte hinter sich. Ein anderer Läufer war wohl aus einem Nebenweg eingebogen. In ihm wuchs die Gewissheit: Norbert war es. Norbert, der ihn mit einem lässigen, guten Tag auch, junger Mann!, überholen wollte. Er zog sein Tempo an. Noch gönnte er Norbert den Triumph nicht. Der Freund konnte ihn ja rufen. Doch er rief nicht. So blieb es ein Wettlauf, ein Kräftemessen zwischen einem sechzigjährigen und einem zweiundvierzigjährigen Mann. Er dachte nicht mehr daran, was die Ärzte nach seinem letzten unerklärlichen Zusammenbruch vor eineinhalb Monaten gesagt hatten. Alle Gedanken aus ihm heraus bis auf den einen, der Freund hinter ihm. Er eine Laufmaschine, die prächtig funktionierte. Ja, merkwürdig, Kräfte wuchsen ihm zu. Immer schneller wurde er. Doch der Freund immer weiter hinter ihm. Irgendwo würden sie beide zusammenbrechend sich umarmen. Eh, lass mal gut sein, würde der Freund dann sagen. Mit einem Mal trat ihm ein Bild vor Augen. Ein übergroßer Baum, in ganzer Pracht von leuchtend gelben Blättchen, zwei gespalten. In dieses Bild mischte sich das einer nicht ganz jungen Frau mit weichen Gesichtszügen, das dunkle Kleid hochgeschlossen. Das muss ich dir erzählen, Norbert, sagte er. Ich bin angekommen. Er fühlte die Hand des Freundes an seinem Gesicht. Er lächelte. Er war wohl hingefallen. Zum Aufstehen war er zu müde. Doch dann stand er auf und begann zu fliegen. In diesen herrlichen Baum hinein auf die Frau zu, seine Großmutter.
Noch am selben Abend fand die Polizei auf der Waldstrecke den Körper eines Mannes, Mitte, Ende fünfzig, glatzköpfig, mittelgroß, athletisch kräftige Figur. Ein Lächeln im Gesicht. Ein Jogger hatte angerufen, seinen Namen allerdings nicht angegeben. Doch da man von einem natürlichen Tod ausging, maß man diesem Umstand keine weitere Bedeutung bei. Nach einigen Tagen wurde er in Zusammenhang mit einem Wagen gebracht, der nahe einer Bahnstation in einem Waldweg geparkt war. Anhand der Papiere wurde der Tote identifiziert und schließlich ein Bruder ausfindig gemacht, der die Identität bestätigte und den Freund des Toten benachrichtigte.
Freund und Bruder betraten die Wohnung. Sie sah aus wie für eine Abreise hergerichtet. Er war penibel darin, erklärte der Freund. Sieh mal, sagte der Bruder und deutete auf eine Wand: In drei Reihen untereinander ein Baum in wechselnder Jahreszeit und offenbar immer größer werdend. Unser Baum, sagte der Freund. Ich hab ihm etwas geben wollen, woran er sich halten kann.
So ein Tod im Laufen, das soll was Schönes sein, sagte der Bruder. Ich wollte, mir würde das passieren.
Man muss eben einen guten Freund haben!, sagte der andere und in seinen Augen, die sich zu leicht verengten, stand nichts als Trauer.
In Gott oder so!, sagte der Bruder verstehend. Er arbeitete neuerdings bei einer kirchlichen Behörde.
Nenn es, wie du es willst, sagte der Freund.