Читать книгу Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten - Beate Morgenstern - Страница 7

DAS BILD SEINER FRAU

Оглавление

Wie fühlst du dich, Liebling?

Besser. Durchaus. Die Lebenskräfte kehren zurück.

Wirklich? Du hast so wenig geschlafen.

Manchmal macht das nichts. Sorg dich nicht.

Aber wohlfühlst du dich nicht.

Man kann sich ja nicht jeden Tag wohlfühlen. Ich habe keine Schmerzen, und mir ist auch nicht übel, nicht schwindlig. Das sollte reichen. Hab ja auch schon wieder Appetit.

Das ist wahr. Zärtlich besorgt blickte er auf sie. Mitgenommen sah sie aus, ohne Schminke sowieso. Nun aber war ein Tiefpunkt erreicht. Durch die Auskunft, sie hätte Appetit, mutig geworden, fragte er: Was hieltest du von einem kleinen Ausritt?

Sie lächelte. Er hatte diese Angewohnheit, Dingen andere, leicht hochtrabende Namen zu geben. Hm.

Hm ja oder hm nein?

Hm ja!

Es wird dir gut tun. Jeden Tag ein paar Schritte mehr. In einer Woche bist du wieder aufm Damm! Dann tanzt und springst du und drehst wieder deine Pirouetten, du wirst sehen.

Wenn du es sagst.

Sie war krank gewesen. Sie hatte Fieber gehabt, was sie beide nicht von ihr gewohnt waren. Er hatte sich sehr darüber erregt. Es musste ihr immer gut gehen. Sein Wohlbefinden hing davon ab. Manchmal war ihr seine Liebe zu viel. Sie konnte es sich nicht leisten, dass es ihr schlecht ging. Gleich litt er mit. Also tat sie munterer als ihr zumute war. Nach anstrengenden Tagen in der Schule zum Beispiel. Sowieso war sie oft kraftlos, deprimiert. Woher das auch kam. Die Stunden bei ihrem Psychotherapeuten gaben wenig Aufschluss. Er aber wollte immer wissen, ob es ihr auch gut ginge, ob ihr diese Stunden etwas genutzt hätten, ob sie sich nun besser fühle. Ja, sagte sie, ja. Immer dieser Zwang zum Lügen. Aber er hatte nun einmal ausdrücklich erklärt, dass er nur durch sie lebe, sie brauche. Er ja so sensibel. Ein Künstler eben. Seine Werke, da glaubte sie ihm aufs Wort, bedeutend. Er hatte noch nicht die Anerkennung gefunden, war bei Weitem unterschätzt. Ganz sicher waren beide, seine Zeit würde kommen. Ganz klar, sie lebten für sein Werk, da hatte sie zu funktionieren. Nachdem er seine gut dotierte Anstellung aufgegeben hatte, lastete eine noch größere Verantwortung auf ihr. Die Bildverkäufe brachten hin und wieder Geld. Doch er verkaufte ungern. (Seine Bilder waren seine Kinder. Er sammelte sie für seine große Ausstellung, die er ganz sicher eines Tages haben würde.) Pass auf!, sagte er jeden Morgen, ging sie aus dem Haus. Allen Ernstes hatte er die Vorstellung, sie könne unter ein Auto geraten oder sonst etwas würde ihr zustoßen. Wurde sie krank, fürchtete er, die Krankheit führe zum Tode. Er ein Hypochonder, ein Künstler eben. Es war nicht leicht mit ihm. Sie liefen die Straße entlang, sie am Arm ihres Mannes. Teils aus Gewohnheit, teils, weil sie sich noch schwach fühlte. Er nicht besonders groß. Doch von athletischer Statur. Das bärtige Gesicht wie aus einem Picasso Bild, die Nase wuchs deutlich in die linke Gesichtshälfte, das eine Auge höher und größer als das andere. Hässlich sah er deshalb nicht aus, eher männlich verwegen. Frauen fühlten sich von ihm angezogen. Sie erwarteten einen starken, einen väterlichen Freund. Sie, die Frau neben ihm, bestätigte den Eindruck, den sie von ihm hatten. Nicht besonders klein, sehr schmal mit der Figur einer Tänzerin, sie trainierte, aß hauptsächlich Salate. Neben ihm schien sie zart, ein Wesen, das er zu beschützen hatte. Sie war übrigens nicht eigentlich schön. Die Nase hakig und dünn, das schmale Kinn vorspringend. Doch wegen ihrer schönen Augen und ihres stark überzeichneten roten Mundes, ihrer roten Locken kam man nicht auf die Idee, an Einzelheiten zu mäkeln. Hatte sie sich zurechtgemacht, war sie ein Kunstwerk. Er liebte es so. Sie übrigens auch. Er der starke Mann, sie die schwache, nervöse Frau, das war also der Eindruck, den sie erweckten. Sie tatsächlich nervös, bewegte sich zu rasch, lachte zu schnell hoch und übertrieben, wobei sie ihre roten Locken schüttelte. Oh Gott, Kinder, was ich heute wieder erlebt habe! Nicht nur ihre Haare, auch ihr Gesicht in ständiger Bewegung, und ihre schmalen, geradezu gotischen Hände fuhren ständig in ihre Lockenpracht oder malten in der Luft. Ja, ganz richtig wurde sie als etwas nervös eingeschätzt, wenig belastbar. Dass sie zum Psychiater ging, verheimlichte sie nicht. Wer ging heute nicht zum Psychiater!

Diese Gegend hier, diese Straße! Sie atmete durch. Die Villen dieser Straße gerade noch nicht zu protzig, nicht tief in den Gärten versteckt. Und vor den großen Häusern auch noch ein Raum für hohe Bäume, ein wenig Rasen, Pflanzen, immergrünes Rankenwerk. In den weitläufigen Höfen mit ebenfalls hohen Bäumen lud man sich an Sommerabenden Gäste ein oder feierte auch miteinander. Die lange, krumme Straße Kopfstein gepflastert. Damals hatten die Anwohner nicht das Geld ausgeben wollen für einen Straßenneubau. An den Rändern Asphaltbelege für Fahrräder. Heute gab das dieser Straße einen noch größeren Reiz. Kaum fünfzehn Fahrminuten bis zum Zentrum und doch war man wie j.w.d. Janz weit draußen, wie der Berliner sagte. Sie beide keine Berliner. Die meisten, die sie kannte, keine Berliner. Die, die die Stadt umtrieben, kamen in der Regel von sonst woher. Heute mehr denn je. Manche auch Rückkehrer. Sie hatte ja die Insellage geschätzt. Heute die Stadt überflutet, hatte einen ganz anderen, einen weltstädtischen Charakter bekommen, was auch etwas für sich hatte. Doch in dieser Gegend lebte man wie vor zwanzig, vor dreißig, womöglich vor vierzig Jahren. Unbehelligt. Als sie damals noch beide verdienten und sich für Wohneigentum entschieden hatten, waren sie bei der Suche sehr gründlich vorgegangen und hatten sich für diesen grünen Bezirk entschieden, hatten - nach heutigen Maßstäben - die große Wohnung billig erworben. Auf Abzahlung natürlich. Die Erhaltungskosten noch im Rahmen. Sie verdiente gut. Hatte Pensionsansprüche. Weshalb er wirklich nicht den mindesten Grund hatte, ein Drama daraus zu machen, wenn es ihr mal nicht besonders gut ging. Seine Leinwände, Farben, sein Papier und sonstige zu seinem Beruf gehörigen Utensilien versuchte er sich durch den Verkauf von Grafiken selbst zu finanzieren. Da war er Gott sei Dank eigensinnig. Natürlich hatte sie sich alles mal anders vorgestellt. Sie ja wahrhaftig nicht von robustem Naturell, hatte gedacht, sie hätte jemanden gefunden, an den sie sich anlehnen könnte. Wie sich eine Frau das eben so wünschte. Sie hatte sich von seiner Ausstrahlungskraft täuschen lassen. Nach und nach klärte sich ihr Irrtum auf. Ihr ging es wohl wie den meisten Frauen. Nach außen brauchten die Männer die Fassade eines Menschen, der gelassen das Leben meisterte. Aber soweit sie Einblick hatte, waren sie tief im Inneren schwach, fürchteten vor allem Veränderungen. Dass er so an ihr hing, nervte sie. Aber sie würde lügen, sagte sie, dass es sie nur nervte. Sie war in die Rolle hineingewachsen. Ja, sie, die Neurotikerin, als die sie sich selbst einschätzte, war dann doch in der Lage, einen Mann auszuhalten, der dauernd Angst um ihr Leben hatte. Sie wusch, bügelte für ihn. Hatte er Schnupfen, machte sie ihm seine Dampfbäder. Sonntags kochte sie schwäbisch. Sie kamen ja beide daher. (Sie waren beide vom Dorf ausgerissen in die Großstadt.) Seine Unselbstständigkeit ärgerte sie. Wiederum, sie waren schon so lange zusammen. Und er war ja auch nicht nur schwach. Er arbeitete wild, leidenschaftlich, war geradezu ein Berserker, wofür sie ihn bewunderte und sowieso für das, was er schuf. Auch hatten sie schon so viel miteinander erlebt. Sie kannte kein Paar, das solange beieinander geblieben war. Wollte sie etwa einen von diesen Männern unter ihren Kollegen, deren Lebensinhalt sich darauf beschränkte, sich ständig etwas zu beweisen, die ständig etwas darstellen mussten? Was sie auch taten, sie taten es weniger um der Sache willen, sie versuchten mit ihrem Tun, Ansehen zu erwerben und zu verteidigen. Er war anders. Er hatte diese Begabung in sich entdeckt. Außer ihr brauchte er niemanden und nichts außer seiner Kunst und dass ihm einige Kollegen sagten: Das und das, da hast du was gekonnt. Darum beneide ich dich! Ganz sicher, es war unumgänglich, eines Tages würde er den ganz großen Durchbruch haben. Und sie hatte ihren Beitrag dazu geleistet. Das war überhaupt nicht wenig. Auch rührte sie, dass dieser große Mann so auf sie angewiesen war. Obwohl sie es nicht wollte und darunter litt und davon träumte, ihn vier Wochen, ja vielleicht ein viertel Jahr allein zu lassen, beispielsweise in die Staaten zu gehen, die Sprache noch besser zu erlernen. Ganz ausgeschlossen, ein Sabbatjahr einzulegen und eine ganz andere Kultur kennenzulernen. (Sie so neugierig auf andere Kulturen. Gerade lernte sie Spanisch. Sprachen lagen ihr.) Aber es war auch schön mit ihm. Sie wollte keinen anderen. Ja, sie gab es ruhig zu: Auch sie hatte Angst, ohne ihn zu sein. Er war schon immer da gewesen. Jedenfalls solange sie erwachsen war. Seit ihrem neunzehnten Lebensjahr. Ohne ihn zu sein, wie oft sie sich das auch wünschte, es würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Gewohnheit war so etwas verflucht Zähes. Die setzte sich fest. Die kriegte man mit keinem Lösungsmittel der Welt aus sich heraus. Also ließ sie es. Sie würde übrigens den Psychiater aufgeben. Auch so eine Gewohnheit, die überdies Geld kostete und im Grunde nichts brachte. Ehe sie sich in noch tiefere Abhängigkeit auch noch zu ihrem Psychiater begab!

Wie schön dieser kleine Gang durch die frische Luft. Und diese Straße. Dass man eine Viertelstunde zu Fuß bis zur S-Bahn brauchte, kein Nachteil. Außer bei widrigen Wetterverhältnissen. Man war gezwungen, ein wenig zu marschieren und das durch eine Gegend, in der die Jahreszeiten sich zu erkennen gaben. Man konnte sich auf das freuen, was man abends vorhatte. Und auf dem Nachhauseweg genießen. Ihr Auto nahm sie nur selten. Noch eher das Fahrrad.

Schön, nicht wahr?, sagte er.

Immer diese Gleichzeitigkeit! Eigentlich sollte sie sich über ihren Gleichklang freuen. Doch neuerdings war sie nicht mehr sonderlich erbaut, wenn er aussprach, was sie dachte.

Ihr Hirn kreiste ständig um dieselben Dinge. Das Alltagsleben nahm sie gefangen. Er aber mit ganz anderem befasst. Wenn er davon sprach, sie als Wand benutzte, um sich über sich zu verständigen, hörte sie atemlos und mit großer Bewunderung zu. Seine Fragestellungen immer bedrängend und der Ausgang ungewiss, neue Blickweisen taten sich auf. Hatte er etwas gehört, gelesen, musste er laut darüber nachdenken. Daran Anteil zu nehmen, bedeutete viel für sie. Daneben gab es diese Alltagswelt. Er sprach aus, was sie gerade gedacht hatte und umgekehrt. Als sei er ein ganz gewöhnlicher Mensch.

Sie mochte es nicht, dass er ein ganz gewöhnlicher Mensch war. Obwohl natürlich, er hatte ein Recht, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu sein. Doch immer mehr überkam sie Ärger. Seine intellektuelle Überlegenheit hatte sie von jeher fasziniert. Aber er war nicht ihre Freundin. Bei Gott nicht. Eine Freundin sollte einen verstehen. Ja du auch? Ist das nicht komisch. Solche Sätze waren bei Frauen durchaus erfreulich. Man lachte miteinander. Wir Weiber, was? Bei ihm sah sie nur, dass er sich zu eng an sie anschloss.

Zwei Wochen war sie nicht nach draußen gekommen. Sie spürte es. Der Rückweg würde ihr schwerer fallen. Bis zur Ecke, dachte sie. Dann kehren wir um.

Ich denke, an der Ecke sollten wir umkehren!, sagte er.

Ihr Arm glitt aus seinem. Ein Lachen kam sie an. Sie beugte sich nach vorn, krümmte sich zusammen. Die Locken fielen vom Hals über ihr Gesicht. Es schüttelte sie durch. Endlich richtete sie sich auf, schöpfte Atem und tupfte sich die Tränen aus den Augen.

Seine Miene unbewegt.

Entschuldigung, sagte sie. Ihre Hand schlüpfte wieder in seine Armbeuge. Eine Weile nahm er ihren hysterischen Lachausbruch kommentarlos hin. Dann fragte er doch: Könntest du mich vielleicht aufklären?!

Es ist nur, es ist nur ... , sagte sie, und versuchte das erneut aufkommende Lachen zu bezwingen.

Corvina!, sagte er streng.

Sie mochte, wenn er streng war, ihr Grenzen zeigte. Ihr Lachen fiel in sich zusammen. Du hast gesagt, was ich gerade gedacht habe!, antwortete sie.

Und was ist daran so komisch?, erkundigte er sich. Ich sorge mich um dich. Was ist daran komisch!

Eigentlich nichts, gab sie zu. Es ist nur, es ist nur ...

Ja?

Es passiert so oft.

Aha.

Es ist doch auch schön, sagte sie. Und es war ja auch schön. Wollte sie einen Mann, den es nicht bekümmerte, wie es ihr ging? Gewiss nicht.

Sie kehrten um. Das Gehen wurde ihr immer schwerer, sie schleppte ihre Füße, die sie sonst so flinken, gefälligen, fast flog sie mit ihnen. Nun wollten sie ihren Dienst aufsagen. Er verlangsamte das Tempo.

Du hast dich überschätzt, sagte er. Ich hätte meinen Gedanken umzukehren, vor dir haben sollen!

Er hatte es gut heraus, durch eine ironische Wendung sein Gesicht zu wahren. Sie nahm das Friedensangebot dankbar an. Sie war jetzt so schwach. Im Treppenhaus wollte sie sich auf einer Stufe ausruhen. Geh schon mal vor, sagte sie. Er drängte sie nicht, wie sie es sonst gewohnt war, ihr beizustehen, sie zu stützen, ja die Treppe hochzutragen, wozu er in der Lage war. Er hatte Bärenkräfte. Sie hangelte sich am Geländer von Stufe zu Stufe. Das Treppenhaus nahm nicht viel Platz ein, was den Wohnungen zugutekam. Die Wände, die Treppenstufen auf gemeinsamen Beschluss der Eigentümer in einem Orangeocker gestrichen, die Kokosläufer grün, die schön geschnitzten Türen und Türrahmen ebenfalls grün. Das Ganze etwas dunkel, aber anheimelnd. Dass sie zu Hause war, half ihr. Er könnte schon mal nach mir schauen, dachte sie. Gleichzeitig gefiel es ihr, dass er sie auf ihr Geheiß hin im Stich ließ. Sie setzte sich nun noch öfter hin. Es wurde eine Probe, wann er nach ihr sah.

Sie ahnte nicht, dass er hinter der Tür stand und sich bezwang, nicht nachzuschauen, wo sie blieb, dass ihr Lachen vorhin ihn tief getroffen, ja erschüttert hatte.

Die Wohnungstür stand offen. Sie trat ein. Er offenbar in seinem Atelier. Etwas merkwürdig schon, dass er sich nicht um sie kümmerte. Die Wohnung quadratisch geschnitten. Durch zwei der hohen Räume hatten sie einen Durchbruch gemacht. Sie waren nun wie ein einziger Saal und dienten ihm als Atelier. Auf der anderen Seite ihr gemeinsames Schlafzimmer, das Vierte war ihres. Von der Diele in der Mitte der Wohnung ging übereck übergangslos die Küche ab. Ein langer Tisch, lange Bänke. Luden sie Gäste ein, wurde hier in der Küche gefeiert.

Sie ging in ihr Zimmer, legte sich auf die Couch, schaute in den Nussbaum. Bald würde er so gewachsen sein, dass er ihr alle Aussicht nahm. Sie hasste den Nussbaum. Den Bewohnern unter ihnen nahm er schon die Sicht in den Hof. Er würde ihren winzigen Balkon bedrängen. Vielleicht half irgend so ein Fungizid oder wie das Teufelszeug sich nannte. Sie sollte Bäume ja lieben, setzte sich für den Erhalt der natürlichen Umwelt ein. Aber wenn ihr eigener Lebensraum eingeschränkt wurde, hörte die Toleranz auf. Sein Atelier der Straße zu. Da störte kein Baum. Er brauchte Licht seiner Arbeit wegen und hatte welches. Sie war von Sonne abhängig, ging auch im Winter ins Bräunungsstudio, um ihre bleiche Gesichtsfarbe aufzubessern, wurde dennoch nicht besonders braun. (Er hingegen sah nach den ersten Sonnenstrahlen wie ein Südländer aus.) Matt war sie. Aber das war ja normal. Sie schaltete wie üblich den Klassiksender an. Ein Konzert wurde übertragen. Sie nahm sich eine Decke, schlief ein. In der Nacht wurde sie wach. Immer noch lief das Radio. Sie holte sich aus dem Kühlschrank ein Glas Saft, bekam darüber Hunger, schnitt sich vom Käse ab und ging dann ins Schlafzimmer. Er hatte es offenbar vorgezogen, in seinem Atelier zu schlafen, was er sonst nie tat. Aber sie wollte sich keine Gedanken machen. Sie brauchte ihren Schlaf.

In den nächsten Tagen kam er nur, um sich etwas zu essen zu holen. Er offenbar in einer guten Phase, redete allerdings mit ihr nur das Notwendigste, erkundigte sich nicht, ob es ihr wieder besser gehe. Nichts. Auch sie fragte nicht nach seiner Arbeit, wie sie es sonst tat. Mal zeichnete er sie in der Küche. Bleib so sitzen, sagte er. Seine Augen glitten beim Zeichnen über sie weg, als sei sie irgendein Gegenstand. Was ist?, fragte sie schließlich. Bist du mir böse?

Er schüttelte den Kopf, sah sie jetzt aber voll an. Der Ausdruck in seinen Augen vielleicht schwermütig. Dieses Gesicht mit dem dunklen Stoppelbart, der Nase, die sich der linken Gesichtshälfte zuneigte, dem höher stehenden, größeren Auge. Es war ihr vertraut. Sie meinte immer, sie könne alle Stimmungen herauslesen. Doch er hatte es abgeschlossen, so dass sie zu seinen Gedanken keinen Zugang hatte. Ich wüsste auch nicht, weshalb. Ich bin dir ja auch nicht böse, fügte sie hinzu.

Schön, sagte er.

Aber irgendetwas stimmt nicht. Nicht reden!, ermahnte er.

Sie gehorchte. Wenn er arbeitete, durfte man nicht den Mund aufmachen. Dann sagte sie sich, dass sie aus der Tatsache, dass er sie zeichnete, schließen konnte, er wandte sich ihr zu. Eigentümlich aber war schon, mit welcher Distanz er sie plötzlich behandelte.

Als er eines der Blätter weglegte, wagte sie, wieder zu reden: Ich werde mich für die nächste Woche gesundschreiben lassen.

Ja.

Eingekauft müsste werden, das Übliche. Wenn du das übernehmen könntest. So gut fühle ich mich noch nicht.

Ja.

Ja, du machst es oder ja, du hast es gehört?

Ja. Nichts weiter.

Mein Gott, er ist beleidigt, aber wieso? dachte sie. Bisher hatte eine Verstimmung kaum Stunden angehalten. Noch dazu konnte sie keinen Grund erkennen, warum er sich abkapselte. Mit einem Mal wurde sie wütend. Sie hatte den ersten Schritt auf ihn zugemacht. Warum er ihr auch immer böse war, sie hatte genügend positive Signale gegeben. Sie behielt ihr freundliches Gesicht. In solchen Situationen hatte sie ihr sonst so bewegliches Gesicht vollkommen unter Kontrolle. Sie machte sich eine Freude daraus, zu lächeln und gute Laune zur Schau zu stellen. Das wirkte bei ihren Schülern. Da war es geradezu eine Waffe.

Schon wollte sie ihm sagen, sie werde sich für ein Schuljahr beurlauben lassen und in die Staaten fahren für eine Arbeit, die sie schon seit Langem vorgehabt hatte. So würde sie ihn ganz sicher aus der Reserve locken. Dann fiel ihr ein, dass er, wie er jetzt gestimmt war, ihr kalt lächelnd entgegenhalten würde, die finanziellen Mittel für die Reise, seinen Unterhalt und den der Wohnung würden nicht ausreichen. Warum muss immer ich zurückstecken! dachte sie. Warum? Dass er so an mir hängt, hat nur mit seiner Abhängigkeit zu tun. Ich bin es so leid! Ihre Wut nahm zu, wurde die beständige Wut, die sie auch schon an sich kannte.

Sie würde ihn nicht so einfach loswerden. Aber eine Lösung würde es geben. Wenn sie es wollte, würde sie eine Lösung finden. Sie hatte noch immer erreicht, was sie wollte.

Du magst mich nicht mehr!, sagte er.

Ja, antwortete sie.

Aber ich mag dich sehr.

Ja? Die Aussage zum jetzigen Zeitpunkt erstaunte sie. Ihr ganzer Hass löste sich in nichts auf. Manchmal könnte ich dich umbringen, sagte sie. Aber du mich sicher auch.

Ja.

Wir halten trotzdem noch einige Jährchen aus.

Er schüttelte den Kopf. Corvina, ich habe solche Angst, dich zu verlieren.

Deine Gedanken immer. Ich bin doch da.

Ich halte es nicht mehr aus, Corvina. Ich muss dem ein Ende machen, verstehst du.

Nein, verstehe ich nicht.

Er ging an eine der Küchenschubladen, hielt mit einem Mal ein großes, scharfes Messer, das sie zum Bratenschneiden benutzte, in der Hand.

Tu dir nichts an, bat sie. Ich hab dich auch gern. Wirklich.

Nein, ich tu mir nichts an, sagte er. Was solltest du ohne mich anfangen, Corvina.

Sie wollte schon loslachen darüber, wie grandios er die Tatsachen verdrehte. Doch sie unterließ es. Sie waren nun auf dieser Ebene von Beziehung angekommen. Auf einer theatralischen. Noch mehr reizen sollte sie ihn nicht.

Er legte das Messer auf den Tisch, zog sie mit einem Griff um ihre Taille von der Sitzbank zu sich heran und in die Höhe. Selbst als er das Messer aufnahm und an ihre Kehle setzte, hielt sie es noch für einen Scherz. Sie war doch seine Lebensversicherung.

Lass es gut sein, sagte sie. Du würdest dich sehr unglücklich machen.

Erst, als er den Schnitt setzte, begriff sie. Mit einem Mal war ihr, als wäre ihr ganzes Leben auf diesen Punkt hinausgelaufen.


Die Polizei, die er selbst benachrichtigt hatte, traf ihn malend an. Er war an einer riesigen Leinwand beschäftigt, die auf den ersten Blick nur aus roter Farbe zu bestehen schien. Doch dann sah man Strukturen, kleine Textilstücke, aus weiblicher Kleidung bestehend, eine lange rote Haarlocke darin und wenn man genau hinsah, einen weiblichen Torso. Die Farbe, mit der er malte, stellte sich als Blut heraus. Corvina!, erklärte er den Polizeibeamten sein Bild. Ich war die letzten Tage wie im Fieber.

Er schien nicht wahnsinnig. Aber offenbar war er es. Er hatte, um sein Bild fertigzustellen, sein Objekt getötet. Er selbst gab ein ganz anderes Motiv an. Er sagte, er habe seine Frau zu sehr geliebt und sei mit der Vorstellung ihres Verlusts nicht mehr fertig geworden, so dass er sie schließlich getötet habe.

Warum er die Polizei gerufen und sich nicht selbst umgebracht habe, wollte man wissen, worauf er erwiderte, dass er doch sein Werk beschützen müsse.

Er wurde in eine geschlossene Anstalt überwiesen. Seine Bilder erzielten Höchstpreise. Er selbst zeichnete, malte nicht mehr, bat lediglich um einige Federzeichnungen, die ganz gegen seine Art einen konventionellen Stil aufwiesen und eine Frau mit langem, lockigem Haar, großen Augen, einer Hakennase und einem schmalen vorspringenden Kinn darstellten. Schön war sie nicht zu nennen. Aber wer zeichnete heute noch schöne Frauen.

Zehn Jahre nach dem Tod Corvinas wurde dem inzwischen reichen, wenn auch weiter in einer Anstalt befindlichen Maler der Wunsch einer großen Ausstellung erfüllt. Obwohl er als völlig ungefährlich galt, ging er mit zwei Beamten in Zivil in diese Ausstellung, der eine hatte sich mit Handschellen an seine linke Hand angeschlossen, ohne dass die Gäste es bemerkten. Man befürchtete für ihn einen großen Erregungszustand. Als er vor dem »Corvina« betitelten Bild stand, liefen ihm aber nur die Tränen. Ich liebe dich noch immer!, flüsterte er. Du bist jetzt berühmt und wirst nie vergessen. So sagte er, als ob auf dem Bild, das nichts weiter als verschieden strukturierte rote Farbe, eine leichte Kontur, einige Textilschnipsel und eine Haarlocke aufwies, tatsächlich seine jahrzehntelange Lebensgefährtin abgebildet und gegenwärtig sei.


Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten

Подняться наверх