Читать книгу Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten - Beate Morgenstern - Страница 6
EIN DUFT VON ROSEN
ОглавлениеNoch immer dieser Duft von Rosen!
Er rollte sich nach vorn ab, wieder zurück, mehrere Male hintereinander, legte die Beine gestreckt über sich, dass sie den Boden berührten. Seit Jahrzehnten immer die gleichen Übungen, die sowohl seinen Körper gelenkig hielten, wie seine Sinne vor dem Einschlafen beruhigten. Der Flur bot genügend Platz. Früher waren die Männer, die sich seine Frau einlud, manchmal im Dunklen über ihn gestolpert, über ihn, diesen kleinen schmalen Mann, der sich nackt diesen Bewegungen zuwendete, unbeirrt, was im Zimmer seiner Frau geschah. Er hatte nichts gegen die Männer, die seine Frau einlud. Sie gingen ja bloß auf das ein, was ihnen angeboten wurde. Auch seiner Frau nahm er es nicht übel. Sie sah zu gut aus. Sie war Opfer ihres Aussehens. Sie hatte keine Möglichkeit zu widerstehen, folgte blindlings dem, was ihr verheißen wurde, sah darin wahrscheinlich eine Anerkennung ihrer Person. So hatte er es sich nach und nach zusammengereimt. Denn sie war durchaus nicht sexbesessen. Heute Abend hatte er am Anfang ihrer Ehe gesagt, damit sie sich vorbereitete, freute. Doch sie hatte sich nie gefreut, obwohl er ihr einen ganzen Tag Gelegenheit dazu gegeben hatte. Was also trieb sie zu den Männern? Sie wollte Anerkennung! Etwas anderes konnte es nicht sein. Er hatte heulend, dem Zusammenbruch nahe, schließlich zurückgefunden in die Zeit vor ihr, in der er sich selbst genügt hatte. Niemals würde er wieder unter einem Menschen leiden, das hatte er sich geschworen. Er hatte sich entschieden, von den Menschen unabhängig zu werden. Man sagte, damals habe er sich verändert. Er schor sich seine lockigen Haare, reduzierte sein Gewicht. Ein ständiges leichtes Hungergefühl rechnete er sich als Genuss an. Sein Gesicht und Körper magerten ab. Leicht wollte er sein. So konnte er bei seinem täglichen Lauf in Geschwindigkeiten diesen einen Baum erklettern, den er sich ausgesucht hatte. Dieser andere Mensch, der nun für alle sichtbar zum Vorschein kam, war schon in ihm gewesen. Selbst in dieser kleinen Kinderbande, der er angehörte hatte, war er nie jemandes besonderer Freund gewesen. Durften die anderen nicht nach draußen, weil es zu kalt, zu nass war, dann war er eben allein in den nahen Wald am Rande der Kleinstadt gegangen und hatte sich dort stundenlang beschäftigt. Die Mutter hatte nichts dagegen unternehmen können. Er hatte gemacht, was er wollte. Mit anderen Menschen oder ohne sie. Eingebrochen war er in diesen Jahren, ohne jemanden zum Zeugen zu haben und ohne Gier auf die Dinge. Etwas zu besitzen, bedeutete ihm nichts. Er war in Häuser eingebrochen, um auszuprobieren, wie das Gefühl dabei sei, hatte etwas mitgehen lassen und dann auf den Müll getan. Da freute sich der Nächste, der kam. Damals gingen die Leute noch auf die Müllkute, suchten sie nach Brauchbarem ab. Damals, nach Kriegsende. Er hatte auch nie gedacht, dass die Leute sich grämten, wenn er ihnen etwas wegnahm. Vielleicht hätte er auf den Gedanken kommen sollen. Aber er kam nicht darauf. Weil Dinge ihm eben nichts bedeuteten. Waren die Menschen selbst schuld, wenn sie ihr Herz an Dinge hängten. In Hochschulzeiten hatte es ihn sommers wieder in die Wälder gezogen, die die Universitätsstadt umgaben. Wochenlang hauste er in einer selbst gezimmerten Unterkunft da draußen und hatte an ein Leben gedacht, in dem er frei herumziehen wollte. Dann hatte er seine Frau kennengelernt, war einmal unvorsichtig gewesen, hatte sich ganz auf sie eingelassen. Was hatte er in sie hineingesehen! Gedichte hatte er ihr geschenkt, die ihm in seinem Nachdenken um die Welt wichtig geworden waren. Ausgerechnet ihr Gedichte! Ihre hellen lang bewimperten Augen hatten ihn träumen lassen. Ahnungslos war er in die Falle getappt und fast daran krepiert, als sie sich mit einem Mal von ihm abwandte, ihn aus dem gemeinsamen Haus haben wollte, nicht mehr mit ihm gesprochen hatte und ihm auf jede Weise hatte fühlen lassen, wie unerwünscht er war. Er hatte sich als Gescheiterter angesehen, sich das Ende der Beziehung als eigenes Versagen angerechnet. Sein Gerechtigkeitssinn ließ allerdings nicht zu, dass sie ihn aus dem Haus trieb. Er hatte aller Feindseligkeit widerstanden. Stunde um Stunde, Tag um Tag! So hatte er gedacht. Daraus war ihm ein Gerüst erwachsen. Die Zukunft interessierte ihn nicht, genau so wenig wie die Vergangenheit.
Seit drei Jahrzehnten war er wieder unabhängig. Schaute er auf das Glück anderer Leute, dachte er mit Schadenfreude an das, was auf sie zukäme. Und wen ein Unglück traf, konnte kein Mitleid einfordern, nicht einmal Mitgefühl. Mitleid, Mitgefühl, Worte, die seinen Ärger erregten. Mitleid hatte er erlebt. Seine Frau hatte getan, was sie tun musste. Alle wussten Bescheid in der Kleinstadt, in der er geboren, aufgewachsen und in die er nach dem Studium zurückgekehrt war und die er nur verlassen hatte, um in der Kreisstadt zu arbeiten oder dort auf ein Amt zu gehen. Wie demütigend, erniedrigend war ihm gewesen, wenn die Leute mit ihm über seine Frau sprachen und wie leid ihnen das täte, was ihm geschähe. Nein, er wollte kein Mitleid, und er hatte keines. Er war ganz für sich allein und mit sich allein glücklich. Was andere über ihn dachten, interessierte ihn nicht. Er ging seinen Weg genau so, wie er es für richtig befand. Seiner Frau war er nie gram gewesen trotz allem, was sie ihm angetan hatte. Sie war eine Getriebene, wie er es nannte. Manchmal hatte er tatsächlich Mitleid mit ihr empfunden, das er ja eigentlich ablehnte. Als die dauerhafte Beziehung, die seine Frau seit vielen Jahren hatte, in eine Krise geriet, hatte sich nicht einmal Schadenfreude eingestellt, zu der er sonst neigte. Zulange war alles her. Sie war nicht glücklich geworden. Der Mann mit ihr, war nicht glücklich geworden. Er hatte es ohne Bewegung notiert. Möglicherweise war er ihrem wie auch immer gearteten Glück im Weg gewesen. Hätte er das Haus geräumt, wäre der Mann eingezogen. So kam der nur zu Besuch. Denn sie war genauso wenig bereit gewesen wie er, das Haus zu verlassen. Im Grunde aber interessierten ihn solche Erwägungen nicht. Jeder war seines eigenen Unglücks Schmied und seines eigenen Glückes auch. Er war eins mit sich. Aus seinem Beruf war er bei guter Gelegenheit ausgeschieden, hatte bei einer alten Töpferin im Nachbardorf angefangen, die ihm ihr Handwerk beibrachte, die ihn bezahlte, bis sie keine Aufträge mehr hatte. Er übernahm ihre Werkstatt, schaffte genauso lange, wie er es wollte, ließ sich von nichts und niemanden antreiben. Er probierte Dinge mit sich aus. Beim täglichen Lauf verlangte er sich das Äußerste ab, ob es schneite oder der Berg, auf dem er immer lief, glühende Hitze ausstrahlte. Grenzsituationen reizten ihn. Bei einem kleinen Eingriff, der sich als notwendig erwies, hatte er auf eine örtliche Betäubung verzichtet und war dann wie üblich mit seinem Fahrrad aus der Stadt nach Hause gefahren. Das Fahrrad aus Schrott zusammengesetzt. Die alte Karre sein ganzer Stolz. Die Schmerzen ertrug er mit einer Neugier, wann er wohl absteigen müsse. In die Berge zu klettern, hätte ihn reizen müssen, hatte jemand gesagt. Doch er hatte erklärt, es bedeute ihm zu viel Aufwand, Vorbereitung. Auch wäre eine Ausrüstung zu kaufen. Er hätte Geld zu verdienen, würde sich wieder in Abhängigkeit begeben. Nein, er kam mit Notwendigstem aus, fand an der Genügsamkeit Genuss, aß, ohne den Herd zu benutzen. Obst, Gemüse roh, Brot, gemahlenen Leinsamen, wenig Käse oder Wurst, trank klares Wasser aus der Leitung. (Neuerdings, seitdem der Wasserkocher seiner Frau in der Küche stand, leistete er sich, einen Früchtetee zu kochen.) Er schlief in einem vom Keller abgetrennten Raum, der nicht zu heizen war. Den hatte er sich ausgebaut. Die Temperaturen immer über null. Einen größeren Raum hatte er sich im Erdgeschoss erstritten. Dort hingen seine Modellflugzeuge, dort baute er mit Pappe und leichtem Holz historische Gebäude nach. Wenn er eines wieder abfackelte, lud er, eine kleine, dumme Gewohnheit, Frau und Freund dazu ein. Nein, nein, ich kann das nicht sehen! hatte seine Frau immer gesagt. Ich verstehe dich nicht. Erst gibst du dir soviel Mühe. Und dann zerstörst du es, und keiner sieht es außer uns! - Ich habe es gemacht, das reicht mir, antwortete er jedes Mal. Nichts ist für die Ewigkeit! Zu schaffen bedeutete Lust. Lange reichte die Lust. War ein Bauwerk fertig, schaute er sich ein anderes zum Abfackeln aus. Was noch einmal Lust bedeutete. Eine kürzere, aber dafür größere. Schon merkwürdig, wie langsam etwas entstand, wie schnell es zerstört war. Und dennoch gab es alles im Überfluss. Er kam nicht darauf, warum dies so war. Doch auch im Wildwuchernden lag eine Zerstörungskraft. Ein Zusammenbruch war programmiert. Das All war ewig, würde sich immer erneuern. Nichts sonst. Wie lange der Mensch sein Verschwinden auf dem Planeten hinauszögerte, das lange vor dem Aufblähen der Sonne lag, würde ihn schon interessieren. Nicht einmal ein größerer Asteroid war zu bemühen wie bei dem Ende der Dinosaurier. Seine scheinbare Vernunft würde dem Menschen zum Verhängnis. Dem Ursprung, dem Zusammenspiel allen Seins, aller toter wie lebender Materie, galt sein Sinnieren. Er fühlte sich eins mit sich, weil er sich aufgehoben in diesem grenzenlosen All glaubte. Er und das All, sie hatten eine Beziehung zueinander. So groß dachte er.
Eduard spinnt ein bisschen, hatte seine Frau immer gesagt mit einem kleinen Lächeln in ihrem hübschen Gesicht. Eduard spinnt.
Mochte es so sein. Na und? Mochte man es seinen wasserhellen Augen, randlos die Pupillen, das eine Auge schaute etwas mehr auswärts als das andere, ansehen, dass er anders tickte. Fischnatur hatte ihm eine der Frauen gesagt, die sich um ihn bemühten. Er fühlte sich in Gegenwart von Frauen wohl. Dass keine ihm zu dicht kam, dafür sorgte der Umstand, dass er noch immer verheiratet war und unter einem Dach mit seiner Frau lebte. Er brauchte gar nichts zu tun. Die Ehe, das Haus waren wie ein Bollwerk gegen Eindringlinge. Schon lange lebten er und seine Frau in gutem Einvernehmen. Ich weiß nicht, was damals in mich gefahren ist, sagte seine Frau. Er hingegen schaute nicht in die Vergangenheit und überlegte nicht, wie es heute wäre, hätte sie sich nicht als junge Frau ohne Not anderen Männern zugewandt. Ein Zurück gab es nicht. Ihr Fehler war, dass sie das nicht einsehen wollte. Er hatte zugelassen, dass sie wieder seine Wäsche wusch und bügelte. Sonntags setzte er sich auch hin und wieder mit an den Mittagstisch, wenn sie den Freund und ihre Tochter einlud, die sich gelegentlich einfand, in den letzten Monaten allerdings kaum noch. Aber nie war gewiss, ob er kam. Eduard hat eben seinen Kopf für sich, sagte sie darüber, dass man nie wusste, ob er etwas tat oder nicht. Selbst wenn er etwas versprach und er wieder anderer Meinung wurde, zögerte er nicht eine Sekunde, sein Versprechen zu widerrufen. Natürlich, amtliche Dinge mussten erledigt werden. So klug war er. Eduard. Immer hatte sie seinen Namen voll ausgesprochen, obwohl er es nicht ausdrücklich verlangt hatte. In letzter Zeit hatte sie ihn wie absichtslos berührt. Er war zusammengezuckt, hatte aber nichts sagen können, weil es ja tatsächlich Zufall sein konnte, dass sie ihn berührte. Dann hatte sie angefangen, ihm schöne Augen zu machen. Lass es!, hatte er streng zu ihr gesagt. Er wünschte, er hätte sich nicht bedrängt gefühlt. Ja, er hatte sich bedrängt gefühlt, was sie vielleicht auch bemerkt hatte und zu ihren Gunsten deutete. Noch einmal ganz von vorn, warum nicht, Eduard!, hatte sie gebeten. Man kann immer neu anfangen! Der Freund seiner Frau kam weiter zu ihr. (Nach so vielen Jahren konnte der nicht mehr anders.) Sie zeigte sich dem, der nach dem Gesetz immer noch ihr Mann war, in schwarzer, raffinierter Unterwäsche. Seine Nacktheit war sie gewohnt. Und er fand nichts dabei, wenn sie nackt herumlief. Damit hatte er nicht das geringste Problem. Aber dass sie sich für ihn auf diese aufreizende Weise anzog, war schwer erträglich gewesen. Du hast ja Angst, Eduard!, hatte sie gesagt und so hübsch gelächelt, wie nur sie es konnte. Und wenn es der Punkt wäre!, hatte er geantwortet, dann solltest du darauf achten und es auf sich beruhen lassen. Sie aber hatte alle Warnungen missachtet, war stattdessen immer übermütiger geworden, hatte gespielt wie ein Kind, wie damals als junge Frau. Eindringlich hatte er sie gewarnt, hatte nach Lösungen gesucht. Sie wohnten nun einmal in einem Haus zusammen, und keiner würde weichen. Er hatte begonnen, das Dachgeschoss auszubauen mit einem ganz eigenen Ausgang für ihn zum Grundstück. Er unter dem Dach wohnend, sie im Erdgeschoss. Beide vollkommen getrennt voneinander. Das wäre es gewesen. (Der Keller für beide zugänglich. Sie benutzte ihn als Garage für ihr Auto, und er hatte eine große Werkstatt dort eingerichtet.) Eintritt verboten! Ein Schild mit dieser Aufschrift hatte er über dem Zugang zum Dachgeschoss angebracht. Sie hatte sich nicht schrecken lassen. Als junge Frau war sie trickreich wie zielstrebig vorgegangen, um ihn, in dessen Lebensplan keine Frau vorgesehen war, zu bekommen. Nun tat sie dasselbe und meinte, sie hätte wieder Erfolg. Doch erst als sich dieser Rosenduft aus ihrer Jugendzeit wie eine Schleppe durch die Räume zog, durch die sie ging, wusste er keinen Ausweg mehr. Überall dieser Duft, den er hasste und liebte. Er atmete ihre Gegenwart ein. Ja, es konnte sein, dass seine Fantasie den Duft in Räumen freisetzte, wo sie sich nie aufhielt, so überreizt war er. Kein Entweichen gab es. Sie hatte nichts weniger als seine Freiheit, seine Unabhängigkeit bedroht. Wäre sie nicht so starrsinnig gewesen! Ihr Tod wurde unausweichlich. Er hatte es mit seinen beiden Händen tun wollen. Als er sie berührte, war sie aus dem Schlaf aufgefahren. Was ist los?, hatte sie gefragt, geglaubt, er hätte eine Nachricht von ihrer drogenabhängigen Tochter. Er hatte sie in seine Arme genommen, gestreichelt, was sie willig geschehen ließ. Ach Eduard, wie ich mir das gewünscht habe! Er hatte leise und freundlich: ja? gesagt, sie nicht beunruhigen wollen, nun, da es keine andere Lösung mehr gab. Wie im Scherz hatte er ihren schmalen Kinderhals umfasst. Was du für starke Hände hast, Eduard!, hatte sie gesagt. So'n dünner Mann, aber Hände wie Schraubstöcke und können doch so zärtlich sein. Sie hatte sich wie eine Katze an seinen Händen gerieben. - Verzeih, es geht nicht anders, hatte er gesagt und schnell zugedrückt. In einem Augenblick war es vorbei. Schade! dachte er, hörte mit fast wissenschaftlicher Neugier das Knacken und in sich hinein, was er empfand. Schade, schade! Es wäre ihm lieber gewesen, es wäre nicht so weit gekommen. Er also nicht so kalt, dass er nicht Trauer empfinden konnte. Trotz seines Gewinns an Freiheit. Nun hatte er diese Grenzerfahrung gemacht. Das wiederum hatte sie ihm geschenkt. Sie hatte ihm diese ganz außerordentliche Grenzerfahrung geschenkt, die kaum ein Mensch machte. Er notierte seine Gefühle. Es tat ihm leid. Doch er bereute nicht. Er hatte genügend gewarnt, nach einer anderen Lösung gesucht. Er lebte gern. Er hätte auch ihr gegönnt, noch weiter zu leben. Aber er hatte zwischen ihr und sich zu entscheiden gehabt. Die Entscheidung war ihm allerdings nicht schwer gefallen. Die Folgen würde er auf sich nehmen. Doch er würde den Schaden zu begrenzen versuchen. Vielleicht war eine Fahrt ans Meer angezeigt. Ja, sie würden eine Fahrt ans Meer unternehmen. Nach so vielen Jahrzehnten würden sie zusammen verreisen. Das würde ihr gefallen. Er lächelte über seinen Gedanken. Als ob einer Toten noch etwas gefallen oder missfallen könnte! Er schlug eine Rolle rückwärts, eine nach vorn, schloss seine Übungen ab, zog sich an, war nun in der Lage, zu tun, was weiter getan werden musste. Er trug sie über der Schulter in den Keller. Unter hundert Pfund wog sie, war immer zierlich gewesen, hatte aber in den letzten eineinhalb Jahren noch abgenommen aus Gram über die Krankheit ihrer Tochter. Im Keller hatte er eine Plastikfolie bereit gelegt. Er tat die, die einmal seine Frau gewesen war, auf den Boden. Und wie er ihr hübsches Gesicht sah, fiel ihm ein, dass er doch gern eine Erinnerung von ihr hätte und beschloss, ein Abdruck von ihrem Gesicht zu machen. Er cremte es ein. Obwohl sie nicht mehr atmete, tat er zwei Röhrchen in ihre Nase. War es Pietät? Die durch ein nasses Handtuch geschlossenen Augen hatten sich wieder leicht geöffnet. Er drückte die Lider herunter, er nahm vom Mund die Binde ab, rührte Gips an, goss ihn über ihr Gesicht, löste ihn, als der Gips getrocknet war. Sie sah aus, als ob sie schlief. Er tat Geldstücke auf ihre Augen, band ein Tuch um, ein weiteres um das Kinn wie bei seiner alten Töpfermeisterin, die er in den Tod geleitet hatte. Als ob dies eine Bedeutung hätte! Gründlich wusch er sich den Gips von den Händen, tat die Maske in seine Schlafkammer nebenan. Nach kurzem Nachdenken legte er die, die seine Frau gewesen war, zur Seite, zog ihre Knie an den Kopf, winkelte ihre Arme an, wie er das aus alten Bestattungsriten wusste, wickelte sie in Plastikfolie, nahm aus einer Wanne nassen Ton, eine bestimmte errechnete Menge, die ihren Auftrieb im Wasser verhindern würde, umwickelte und verklebte den Klumpen sorgfältig und gab ihn in ihre Arme. Dann hüllte er sie in eine zweite starke Plastikfolie ein. Dass er die erst verschweißte und dann auch noch verklebte, tat er aus reinem Vergnügen an handwerklicher Tätigkeit und ein wenig auch im Hinblick auf die Unversehrtheit des Leibes seiner Frau. Dabei befand er sich in völligem Gleichmut. Es geschah, was geschehen musste. Vielleicht glückte sein Unternehmen. Vielleicht misslang es. Er war da völlig sorglos. Dann verstaute er das Paket im Gepäckraum des Wagens seiner Frau, reinigte die Werkstatt. Einige Mühe kostete es ihn, das Auto aus dem Keller die Anhöhe hinauf zu fahren. Sein Grundstück lag tiefer als die Straße. Seit Jahren war er nicht mehr gefahren. Wozu auch? Noch immer war Nacht. Vielleicht sahen ihn Nachbarn oder auch nicht. Er machte sich auf gen Norden, fuhr langsam, hatte Schwierigkeiten, mit den Gängen zurechtzukommen. Am frühen Nachmittag bog er in einen Waldweg ein, legte sich auf die Rücksitze und holte seinen Schlaf nach. Als er aufwachte, war Nacht. Er fuhr zur Küste nahe ans Meer, zog sich nackt aus, hob das Paket aus dem Wagen, trug es auf den Schultern, ins Meer, das völlig ruhig und nachtschwarz war. Er fürchtete sich nicht. Als es tiefer wurde, tauchte er unter der Last ab, nahm das Paket in die Arme, schwamm mit ihm weiter hinaus. Währenddessen dachte er an die Ostseeurlaube, die er allein als Zwanzig-, Einundzwanzigjähriger hier verbrachte hatte und an die Urlaube mit seiner damals jungen Frau und ihrer kleinen Tochter. Wie er seine Frau auf den Armen gehalten hatte. Genau wie jetzt. Als seine Kräfte versagten, ließ er die Last aus seinen Händen gleiten, übergab seine tote Frau dem Meer. Er rechnete mit der Unterströmung, von der er damals gehört hatte. Die würde sie hinaus ins Meer ziehen. Vielleicht begegnen wir uns da oben!, dachte er und ermutigte sie, die ihn zu Lebzeiten nicht mehr hatte haben können. Er hatte die Überzeugung, dass von ihm etwas bleiben würde in diesem unendlichen All. Also auch von ihr. Er kam an Land, schlief im Auto, bis es Morgen war, dachte, es sei besser, erst in der Nacht zu Hause anzukommen. Er hatte Hunger, hielt aber nirgendwo. Er musste sich nicht unnötig zeigen. Als er wieder in seine Kellergarage einfuhr, waren Nachbarn vielleicht Zeugen oder nicht. Einige Tage hätte er noch Ruhe. Dann würde sich der Freund seiner Frau von seiner Reise zurückmelden. Sie war ja nicht dazu zu bewegen gewesen, ihn auf seinem Boot zu begleiten. Doch dann hielt er es für besser, selbst seine Frau als vermisst zu melden.
Er war auf alles gefasst. Lebenslange Haft wäre eine neue Herausforderung. So sehr er Zwang immer abgelehnt hatte, so eigentümlich war ihm, dass er gern Soldat gewesen war. Vielleicht lag ihm das Spartanische, bloß ein Rädchen in einem Uhrwerk zu sein. Er würde sich auch in einer Zelle sein Leben einrichten können. In gewisser Weise wünschte er sogar zu erfahren, wie er diese Situation bewältigte und ob er dennoch er selbst blieb, unberührt, unabhängig.
Die Polizei redete von möglichem Selbstmord. Immerhin, sie war ja krank gewesen, in einer Klinik. Der Tochter wegen. Sie maß sich wahrscheinlich Schuldgefühle zu. Die Kindheit hatte sie zunächst bei der Großmutter verbracht und dann in einer Familie, in der Krieg herrschte. Selbstmordgedanken hatte sie während der Therapie geäußert. Ich halte es für unwahrscheinlich, sagte er. Sie war unglücklich. Sie bewältigte nicht, dass unsere Tochter (er sagte jetzt »unsere Tochter«) von den Drogen nicht wegkommt. Aber wer spielt nicht einmal mit dem Gedanken! Man suchte nach ihr, schloss grundsätzlich auch Mord nicht aus. Als Täter erschienen Freund und Mann unwahrscheinlich, wenn auch beide kein Alibi hatten. Dennoch ordnete man eine Haussuchung an, fand bei dem Freund nichts Verdächtiges und bei dem Ehemann lediglich eine Gipsmaske, die er der Frau abgenommen haben musste. Die Löcher im Bereich der Nase deuteten darauf hin, die Frau hatte noch gelebt, als der Mann ihr die Maske abnahm. Und dass er seiner Frau eine Gipsmaske abgenommen hatte, schien sogar für eine gewisse Vertrautheit des Paares zu sprechen. Warum auch sollte der Ehemann seine Frau umbringen, nachdem er so viele Jahre die Beziehung hingenommen hatte. Der Freund sagte aus, er befände sich in einem nahezu freundschaftlichen Verhältnis zu dem Mann seiner Freundin. Der sei allerdings eigenbrötlerisch geworden und habe streng auf seine Unabhängigkeit geachtet. Eifersucht? Der Freund hatte, trotz seiner tiefen Bestürzung, bitter aufgelacht. Er konnte im Übrigen sein Unglück nicht fassen, faselte davon, warum er nicht dageblieben sei und stattdessen die Bootsfahrt allein gemacht hätte. Offenbar hatte er sich lange damit abgefunden, dass die Frau nie zu ihm in eine Wohnung gezogen war. Hatte es auch verkraftet, als sie sich weigerte in ein Haus zu ziehen, das er sich nach der Wende bauen wollte. Stattdessen hatte er sich entschädigt und dieses große Boot gekauft. Da sich keine Leiche fand, schloss die Polizei nicht aus, dass die Frau die beiden Männer verlassen hatte, um ein neues, ganz anderes Leben zu beginnen. Wie viele Menschen gingen jeden Tag absichtlich verloren! Keine zweite Frau in der Gegend wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Und so legte man den Fall zu den Akten.
Von Zeit zu Zeit besuchte der Freund den Ehemann, immer mit der Frage, ob er auch wirklich nicht störe. Der Ehemann bot ihm ein Glas Früchtetee an. Der Freund hatte stets Kuchen dabei. Manchmal nahm der Mann davon. Dann freute sich der Freund. Manchmal lehnte er ab. Er eben unberechenbar. Vielleicht ist sie in Australien oder Amerika!, sagte der Ehemann. Wer weiß! Sie sollten sich nicht so quälen.
Eines Tages machte der Ehemann dem Freund ein Geschenk: Eine Gipsbüste der Frau, rot gefärbt wie aus Ton. Der Freund erschrak. Als ob sie gleich anfangen würde zu sprechen, sagte er. Ganz echt! Sie sind ein wirklicher Künstler! (Obwohl sie sich Jahrzehnte kannten, siezte der Mann den Freund noch immer.) Der Freund war ein einfacher Mensch und hielt Porträtähnlichkeit für das Höchste in der Kunst. Sie tranken wieder Früchtetee in dem großen Raum, den der Mann sich von seiner Frau erstritten hatte und der im Übrigen inzwischen völlig ausgeräumt war. Modellflugzeuge wie Nachbildungen von Gebäuden entfernt, wahrscheinlich abgefackelt. Dieses Mal nahm der Mann wieder ein Stück Kuchen. Sie befanden sich im besten Einvernehmen miteinander, redeten über die Frau, bis beiden die Augen feucht wurden. Ein leichter Rosenduft hing im Raum.