Читать книгу Wenn die Leichen stören - Beate Reinecker - Страница 5
Suchtfaktor: Unmündigkeit
ОглавлениеIrgendwann hattest du das selbstbestimmte Denken aufgegeben. Du warst dir deiner damaligen Situation nicht bewusst. Vorteile lockten, billige Unterhaltungen, deine Bequemlichkeit wurde bedient. Das Geld lullte dich ein. Wenn Inhalte drohten, stelltest du deine Ohren auf Durchzug. Nichts war dir wichtiger als dein Vorteil, deine vordergründigen Spaßfaktoren. Doch es wurde immer offensichtlicher, dass du an Orientierung und Spannkraft verlorst. Die Zeit vergeht, die Lebenszeit verstreicht, du erinnerst dich nur noch schemenhaft an deine Freiheit. Manchmal, wenn du gar nicht mehr damit rechnest, kommen Erinnerungen hoch. Irgendwelche Gerüche, Melodien aus dem Radio oder ein Essen erinnern dich an längst vergangene Zeiten, in denen du noch frei entscheiden konntest. Es ist alles so lange her, doch es lebt in deinem Kopf weiter. Dir war damals nicht bewusst, dass du frei entscheiden und leben durftest. Alles war so leicht und selbstverständlich. Du konntest aus dir schöpfen, weil du in Freiheit aus dir heraus handeln, reden und tanzen konntest. Alles kam aus deinem inneren Kern und ein Wohlgefühl überströmte dich in deiner Freiheit. Du durftest frei entscheiden, frei über deine Zeit verfügen. Doch diese Freiheit wurde dir lästig. Du hattest keine Lust mehr, für deine Selbstverantwortlichkeit einzutreten. Es wurde dir immer lästiger, frei zu denken, Inhalte aufzunehmen, eigene Standpunkte zu erarbeiten. Du spürtest, dass Freiheit Arbeit ist. Ohne es dir komplett einzugestehen, gabst du den Kampf um deine Freiheit auf. Du wurdest zum Nachplapperer, zum Verbogenen. Das Hinterher-Trotten, das Mitlaufen nahm dich gefangen. Waren es zunächst nur einige Schritte in Unfreiheit, so wurden es von Jahr zu Jahr mehr und schon bald konntest du kaum noch frei denken, entscheiden, Inhalte ehrlich durchdenken. Die Schere der Vorteilsnahme umkreiste dein Denken, Fühlen und Wollen. Inhalte wurden zensiert. Deine ganze Person unterlag der Zensur eines unfreien Menschen. Der Pfad der Bequemlichkeit hatte dich nun vollständig im Griff. Andere sollten für dich denken, irgendwie für dich sorgen, sich um dich sorgen. Du vergaßest selbstbestimmt mit klarem Kopf, Mut und Selbstverantwortung, dein Leben auszurichten. Dein Navi redete auf dich ein und die Baustellen wurden übersehen. Du bist nun immer öfter in Sackgassen gelandet und immer wieder in Baustellen gerast. Manchmal hast du dein Tempo gedrosselt und hast geglaubt, den Überblick zu haben. Fehlanzeige! Es überkamen dich Angst und Mutlosigkeit. Dein Ich ist zu weit weggesperrt worden. Die Orientierungslosigkeit nahm stetig zu. »Was war gestern? Wer war ich damals? Es gibt doch noch all die Gerüche, die Musik, die mich an meine Vergangenheit erinnern. All die Bilder sind noch in meinem Kopf. Wie kann ich an die Tage der Freiheit und Selbstbestimmtheit anknüpfen? Damals war ich noch nicht dem Konsum und der Bequemlichkeit verfallen. Damals hatte ich noch wache Augen, war voller Tatendrang und lebte selbstbestimmt. Es war schön, oft anstrengend, doch der Mut hatte sich gelohnt. Ich hatte mal ein erfülltes Leben!« Die Unmündigkeit wirft nun ihre Schatten voraus. Die Untätigkeit und Mutlosigkeit breiten sich weiterhin aus. Es ist wie eine Sucht, die langsam aber sicher das Leben auslöscht. Jeder, der nach Bequemlichkeit süchtig ist, wird irgendwann zum Zombie, zum Durchlauferhitzer fremder Gedanken, anderer Lebensentwürfe. Fremde Ansprüche kreisen im Kopf und um den Kopf: Mehr Wachstum, mehr Konsum, mehr Spaß, mehr Ablenkung, mehr Kultur, aber bitte nur mit Lachfaktor und ohne Inhalt. Noch mehr Lebensqualität, aber bitte ohne Bewusstsein. Neue Spielzeuge für ein sorgenfreies Leben ohne Denken. »Wer stört, wer nervt? Etwa ein Couragierter? Das muss nicht sein, das brauche ich nicht, ich benötige ganz dringend eine neue Dosis Spaß und Unterhaltung, Ablenkung von mir und den anderen. Ich will unterhalten und dabei nicht gestört werden. Ich brauche die Dosis der Verdrängung. Ich meide die Menschen mit Inhalten und Ansprüchen. Ich vermeide das Denken. Ich will nicht zu Bewusstsein kommen. Kommt her und gebt mir eine neue Dosis Spaß und gute Laune! Ich hänge doch so gern am Tropf. Ich hasse es zuzuhören. Vor allen Dingen, wenn ich selbst denken soll. Die Gerüche der Freiheit schmerzen mich. Die Erinnerung an meine Selbstbestimmtheit ebenso. Mein Bauch fühlt sich schon lange nicht mehr gut an. Darauf trinke ich und später buche ich: Kreuzfahrt all inklusive. Ich halte die Stille und Ruhe nicht mehr aus. Ich halte mein Denken nicht mehr aus. Ich halte es nicht mehr mit mir, in mir, in meinem Kopf aus. Ich ertrage keinen klaren Kopf mehr. Ich brauche die Dröhnung, die Beschallung. Lasst uns in See stechen. Wir wollen bewegt werden, denn das Bewegen und Denken fällt uns unendlich schwer. Ein klarer Gedanke könnte uns die Laune verderben. Die Wahrheit, die Wirklichkeit bedroht uns. Das Gehirn und die Gelenke sind eingerostet. Alles ist sicher, verplant und berechnet. Es ist so öde, trostlos, so langweilig. Gebt mir eine neue Dosis Spaß, eine ordentliche Portion gute Laune! Ich zahle jeden Preis um gut abgelenkt zu werden. Ich hänge am Tropf der Spaßkultur. Ich will nicht denken! « Die Erinnerungen an meine einstige Freiheit sind ein Qual. Die Lebenslust hat sich endgültig verflüchtigt. Es gibt keine Abenteuer auf der Kreuzfahrt. Es winken keine Überraschungen auf der Safari. Die Hungernden müssen ignoriert werden. Wer sich selbst nicht mehr erkennen kann, wird auch die Wirklichkeit nicht sehen können. »Du bist doch immer noch ein Teil der Wirklichkeit! Habe endlich Mut, den Kontakt zu dir wieder herzustellen. Dein Gehirn wird wieder lebendig werden. Deine Augen werden leuchten. Du wirst leuchten. Nun kannst du wieder klar denken, fühlen, die anderen wahrnehmen. Das Leben wird reich und erfüllt sein mit Inhalten und wahren Intuitionen. Du wirst neu aufblühen!«