Читать книгу Wo der Hund begraben liegt - Beate Vera - Страница 8
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ОглавлениеGlander hatte richtig vermutet: Das LKA 1 übernahm den Mordfall Hantschke, und der Streifenwagen, der Lea am folgenden Tag um elf Uhr abholte, brachte sie in die Keithstraße. Sie fand Prinz genauso unangenehm wie bei ihrem kurzen Treffen in der vorangegangenen Nacht, aber überraschenderweise hatte er gar kein großes Interesse an ihrer Aussage und ließ diese von einem Kollegen mit niedrigerem Dienstrang protokollieren. Der Beamte nahm ihr auch Fingerabdrücke ab. Reine Routine. Auf dem Heimweg bat Lea den Fahrer, sie am Thuner Platz abzusetzen, von dort würde sie laufen oder den Bus nehmen. Nachdem sie ausgestiegen war, überquerte sie die kopfsteingepflasterte Straße und ging auf den gegenüberliegenden Parkfriedhof.
Marks Vater, ein britischer Soldat mit einem schweren Alkoholproblem, ließ ihn und die Mutter sitzen, als Mark zehn war. Der Vater kehrte nach England zurück und meldete sich nie wieder. Marks Mutter kam nicht darüber hinweg, und nach ihrem dritten Suizidversuch übertrug das Amt die Vormundschaft für den Sohn der Großmutter. Bei ihr lebte er, wenn er nicht im Internat auf Schwanenwerder war. Der vierte Versuch seiner Mutter, ihrem Leben ein Ende zu setzen, glückte, als Mark sechzehn war. Trotz dieses belastenden familiären Hintergrunds war Mark ein sehr guter Schüler. Nach dem Tod seiner Mutter stürzte er sich in seine Ausbildung, legte ein glattes Einser-Abi hin und zog sein direkt anschließendes Architekturstudium ebenso konsequent durch. Er machte den besten Abschluss seines Jahrgangs und bewarb sich im Büro des britischen Architekten Richard Rogers um einen Job. Als einer der jüngsten Mitarbeiter war er knapp ein Jahr später an den Bauvorhaben am Potsdamer Platz beteiligt.
Marks Großmutter Elisabeth war eine resolute und pragmatische Frau, die die ersten Zeichen ihrer beginnenden Krebserkrankung sofort richtig einschätzte. So überschrieb sie Mark das Haus und richtete ihm sämtliche Vollmachten ein. Sie sprach ausführlich mit ihm über ihre Wünsche und versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen um sie zu machen brauchte. Elisabeth war über siebzig, hatte ein erfülltes Leben geführt, von dem sie nur die wenigsten Dinge bereute, und sah dem Tod gelassen entgegen. Als es ihr langsam schlechterging, kündigte Mark seinen Job entgegen allen Warnungen seiner Kollegen und Freunde und pflegte Elisabeth. Zunächst alleine, später mit der Unterstützung zweier Pflegerinnen. Er hielt Elisabeths Hand, als sie starb.
Nach ihrer Beerdigung buchte er einen Flug nach Glasgow, packte seinen Trekkingrucksack und begann eine lange Wanderung durch das Schottische Hochland. Lea begegnete ihm bei Duncansby Heads, vor den Stacks, der spektakulären Felsformation im Norden des Landes. Bereits ein Jahr nach ihrem ersten Treffen kam ihr Sohn Duncan in Berlin zur Welt. In den folgenden Jahren bauten sie das Haus aus, in dem Elisabeth bis zu ihrem Tod gelebt hatte, gestalteten den großen Anbau und legten den Garten ganz neu an.
Mark hatte seinen Tod genauso ordentlich geregelt wie seine Großmutter den ihren. Und Lea hatte ihm versprechen müssen, nicht öfter als einmal im Monat auf den Friedhof zu gehen. Sie sollte nach vorne blicken und ihr Leben neu gestalten. Bislang war ihr das noch nicht gut gelungen.
Mark wurde verbrannt und seine Asche in einem Urnengrab auf dem nächstgelegenen Friedhof beigesetzt. Heute tauschte Lea die Lavendelpflanze in dem Topf vor seinem Grabstein aus und steckte die alte in eine kleine Plastiktüte, die sie aus ihrer Vintage Schultertasche zog. Sie setzte die alten Lavendelpflanzen alle zwei Monate in eine Ecke ihres Gartens, diese würde die siebente sein. Bis jetzt war keine eingegangen, auch die nicht, die sie im Winter in den gefrorenen Boden gepflanzt und mit warmem Wasser gegossen hatte.
Nachdem Lea die alte Pflanze eingepackt hatte, zog sie einen silbernen Flachmann aus ihrer Tasche und hob ihn wie zum Toast in die Höhe. »Rum Cask, unser ewiger Favorit. Ich denke, die Flasche schaffe ich heute. Die zu Hause, du Schaf, nicht den Winzling in meiner Hand! Den mache ich hier alle. Es ist genauso mies wie im letzten Monat, nur kann ich inzwischen so gar nicht mehr schlafen. Letzte Nacht habe ich Hantschke gefunden, tot, auf dem Mauerweg. Mit ’ner toten prossie an seiner Seite. Nee, glaubste nicht, is klar. Die Polizei hat meine Nikes mitgenommen, so ein Scheiß! Hoffentlich laufe ich mir in dem Ersatzpaar keine Blase. Slainte, my heart!” Sie nahm einen zweiten Schluck und fluchte dem unglaublichen Abgang nach. »Holy pirate rum influence!«
Sie hatten beide so gelacht, als sie diese Beschreibung des Whiskybouquets auf einer Website entdeckt hatten. Mark hatte da gerade seine erste Chemo hinter sich gehabt, keine Haare mehr und sich grauenvoll gefühlt. Sie hatten beide im Bett gelegen, es war ein Sonntagmorgen gewesen, Lea hatte den Laptop auf ihren Knien gehabt und ihm die Neuigkeiten auf der Balvenie Website vorgelesen. Durch Zufall war sie danach auf die amerikanische Seite gestoßen. Sie hatte die Flasche geholt und ihn daran riechen lassen, danach hatten beide einen Schluck davon getrunken. Es war der letzte Whisky gewesen, den Mark hatte schmecken können.
Lea steckte den leeren Flachmann zurück in ihre Tasche, als sie Frau Wieland auf sich zukommen sah. Frau Wieland ging seit vierzig Jahren zweimal in der Woche zum Grab ihrer Tochter, die kurz nach ihrem vierten Geburtstag an einer Hirnhautentzündung gestorben war. Tragisch, dachte Lea, und dann im direkten Nachgang: Ja, super, schau dich mal selbst an!
Frau Wieland war noch sehr gut zu Fuß, fiel Lea auf. Sie musste doch schon an die siebzig sein. Sah man ihr jedenfalls nicht an. Die alte Dame stand vor ihr und schaute auf Marks schlicht gehaltene Grabstelle. Die Fläche von einem Quadratmeter war mit dem hellen Sandstein gepflastert, der auch vor ihrem Haus lag. Darauf stand der steinerne Topf, der die Lavendelpflanzen hielt. Der Grabstein war ein kleiner graublauer Findling, der erste, den sie beide vom Mauerweg für ihren Garten mitgenommen hatten. In den Stein war gemeißelt: Mark Storm. 1964 – 2011. Na mo chrìdhe daonnan. Gälisch für »Immer in meinem Herzen«.
»Lavendel. Wunderschön, Frau Storm! Es ist heute ein Jahr her, oder irre ich mich?«
»Nein, Frau Wieland, Sie irren sich nicht. Es ist genau ein Jahr.«
»Ihnen geht es nicht gut, nicht wahr?«
»Nein, gar nicht gut. Ich kann nicht schlafen.«
»So ging es mir auch am Anfang. Es wird besser, meine Liebe, es wird besser. Kommen Sie, lassen Sie uns was essen gehen, heute sollten Sie nicht alleine sein!«
Lea wollte zunächst ablehnen, aber sie war tatsächlich hungrig, und Frau Wieland war ihr sympathisch, auch wenn sie sie nicht so oft traf. Vielleicht mochte sie die alte Dame genau deswegen.
»Gleich um die Ecke ist ein thailändisches Restaurant, das ist neu und richtig gut. Mögen Sie die thailändische Küche, Frau Wieland?«
»Ich habe keine Ahnung, mal sehen. Sie können mir sicher etwas empfehlen.«
Das neueröffnete Restaurant war überraschend gut besucht für einen Donnerstagnachmittag. Aber es hatte sich wohl schnell herumgesprochen, dass das Essen im »Thai by Thai« exzellent war. Sie nahmen einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants, Frau Wieland bestellte sich einen halben Liter Weißen Burgunder, Lea ein Mineralwasser.
»Was mögen Sie denn, Frau Wieland? Huhn, Rind, Schwein oder Ente? Oder sind Sie Vegetarierin?«
Frau Wieland lächelte. »Ach, Ente klingt interessant. Hab ich lange nicht gegessen.«
»Wie scharf darf es denn sein? Es gibt mild, scharf und höllisch.«
»Scharf, aber so, dass ich die Ente noch schmecke, bitte.«
Lea bestellte Frühlingsrollen für sie beide, Ped Pat Kimao – Ente in Austernsauce – für Frau Wieland, das sie für sie ein wenig milder zubereiten ließ, und Chu Chee Pha – kross gebratene Dorade in rotem cremigem Curry mit Chili und Thai-Basilikum – für sich selbst.
»Haben Sie noch die schönen Disteln vor Ihrem Haus, Frau Storm?«
»Sagen sie doch bitte Lea, Frau Wieland. Die Disteln blühen ganz phantastisch dieses Jahr, die lieben es direkt an der Hauswand. Kommen Sie doch einfach mal vorbei! Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen meine Telefonnummer, dann können Sie vorher kurz anrufen, damit ich auch zu Hause bin.«
»Das ist eine nette Einladung, die nehme ich gerne an. Stellen Sie sich vor, der Kretin vor mir hat letzte Woche seinen Hund schon wieder in mein Beet gelassen. Glaubt man das?«
»Sie wohnen doch hinter dem Hantschke.«
»Ja, blau wie nichts war der am frühen Nachmittag, hing halb über dem Gartenzaun, und als ich ihn bat, seinen Hund und dessen Hinterlassenschaft aus meinem Beet zu entfernen, schimpfte er los, dass er sowieso bald viel Geld haben und dann ›diesen Slum‹ verlassen würde, und danach brüllte er noch lauter unflätiges Zeug. Unmöglich, der Mann! Ich bin erst einmal wieder ins Haus gegangen und hab den Dreck später in seinen Garten geschippt. Hoffentlich ist er reingetreten!«
Frau Wieland kicherte und schenkte sich Wein nach. Als sie Leas ernstes Gesicht sah, fragte sie: »Was ist denn los? Sie sind ja richtig blass geworden, Kindchen.«
»Frau Wieland, der Hantschke ist tot. Ich hab ihn gestern Nacht auf dem Mauerweg gefunden.«
Jetzt wurde Frau Wieland ein wenig blass. »O Gott, das ist ja schrecklich, Lea! Einen Toten zu finden. Er starb an einem Herzinfarkt, nehme ich an?«
»Nein, er wurde ermordet.«
»Ermordet? Der Hantschke? Wie grauenvoll!« Frau Wieland schüttelte den Kopf und leerte ihr Weinglas.
»Letzte Nacht, sagen Sie? Ich könnte schwören, dass er gestern Abend noch Besuch hatte, da war noch spät Licht bei ihm, und ich hab Schatten hinter den Gardinen gesehen.« Frau Wieland beugte sich zu Lea vor und senkte ihre Stimme. »Ich glaube, der hatte ’ne Frau da.«
»Vermutlich klingelt die Polizei gerade bei Ihnen, um Sie genau dazu zu befragen. Die sagten mir heute Nacht, sie würden die ganze Nachbarschaft abklappern.«
»Na, dann kommen sie eben noch einmal wieder, oder meinen Sie, ich sollte bei der Polizei anrufen?«
»Das sollten Sie vielleicht tun, Frau Wieland.«
Dann kamen die Hauptgerichte. Lea und Frau Wieland waren einige Minuten still und konzentrierten sich aufs Essen, bis Frau Wieland erneut den Kopf schüttelte und ihr Besteck zur Seite legte. »Das ist ganz phantastisch, Lea, es schmeckt hervorragend! Der Hantschke war ein schlechter Mensch. Sicher hat er es nicht verdient ermordet zu werden, aber traurig über seinen Tod wird bei uns kaum jemand sein, meinen Sie nicht auch?«
Lea schaute sie nachdenklich an. »Ja, da werden Sie recht haben. Aber irgendjemand ist nicht nur nicht sehr betroffen, sondern wohl höchst zufrieden mit sich selbst.«
Nach dem Essen hatte Lea für sich und Frau Wieland ein Taxi rufen lassen und sich erfolgreich gegen die fünf Euro gewehrt, die ihr Frau Wieland unbedingt hatte geben wollen. Lea hatte gerade ihre Haustür hinter sich geschlossen und Talisker begrüßt, als ihr Handy klingelte. Svenja Ritter, eine weitere Nachbarin aus ihrer Straße, rief an.
Svenja und Lea hatten sich angefreundet, nachdem Svenja mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter vor zehn Jahren in die Siedlung gezogen war. Sie vermuteten beide, dass ihre Kinder später erste einschlägige Erfahrungen miteinander gesammelt hatten, wollten das aber eigentlich gar nicht so genau wissen. Svenjas Ehe lief nicht gut. Ihr Mann war ehrgeizig und achtete sehr auf Äußerlichkeiten. Er arbeitete als Projektleiter bei einem großen, renommierten Anbieter von Unternehmenssoftware und war regelmäßig geschäftlich unterwegs. Svenja hatte ihn im Verdacht fremdzugehen, war aber zu ängstlich – oder zu bequem, Lea wusste es nicht –, ihn zur Rede zu stellen, und so bügelte sie weiter jeden Sonntag sieben Hemden für ihn. René Ritter verdiente sehr gut, so dass Svenja seit Bellas Geburt Teilzeit arbeiten ging und sich ausgiebig sich selbst und ihren Fitnessaktivitäten widmen konnte. Sie sah immer aus wie aus dem Ei gepellt, und in ihrem Haus herrschte penibelste Sauberkeit. Reichlich Zeit hatte sie ja, dachte Lea. Das war zwar gemein, aber doch wahr.
»Svenja, hallo, ich bin eben erst zur Tür rein.«
»Hallo, Lea, ich weiß, ich hab dich kommen sehen. Hast du nachher mal Zeit? Ich würde gern vorbeikommen.«
Große Lust verspürte Lea nicht, schon gar nicht heute, sie hatte ganz andere Pläne. »Eigentlich hab ich schon was vor, Svenja, geht’s nicht auch morgen?«
»Es dauert auch nicht lange. René bringt um sieben zwei Typen von seiner Bürgerinitiative mit, da muss ich noch ein paar Happen vorbereiten.«
»Okay, aber ich muss erst mit Talisker raus. Komm doch um fünf, dann hab ich Zeit.«
»Super, dann bis nachher!«
Lea schaute ihren Hund an, der legte den Kopf schief. »Ich bin gespannt, was René jetzt wieder für ’nen Bock geschossen hat. Nach den Kondomen, die Svenja in seinem Kulturbeutel gefunden hat, kann es eigentlich nicht mehr viel schlimmer kommen. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass er irgendwo eine zweite Familie hat, die er während seiner Dienstreisen besucht.«
Lea mochte René Ritter überhaupt nicht. Svenja zuliebe hielt sie sich zurück, aber René wusste genau, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Er war in Leas Augen ein Mann, der Frauen nicht sonderlich schätzte. Er sah sich selbst als den archaischen Ernährer, der einen warmen Platz am Feuer erwartete, wenn er nach Hause kam. Das hätte im 21. Jahrhundert lächerlich wirken müssen, wenn er nicht in Svenja eine Frau gefunden hätte, die sich seinem manipulativen Verhalten nicht entziehen konnte. Aus Gründen, die Lea völlig rätselhaft waren. Dass Svenja überhaupt arbeiten ging, war René ein echter Dorn im Auge, und es gab regelmäßig Streit deswegen, aber hier setzte Svenja sich durch. Sie war Marketingkauffrau und arbeitete zwanzig Stunden die Woche als zweite Teamassistentin in einer mittelständischen Marketingagentur. René machte sich regelmäßig über ihren Job lustig, am liebsten vor Publikum. Sicherlich würde sie keine glanzvolle Karriere machen, aber darum ging es auch gar nicht, nur verstand dieser Holzkopf das nicht. Er war überdies extrem eifersüchtig und machte seiner Frau ständig Szenen, bestand aber gleichzeitig darauf, dass sie, wenn er mit ihr ausging, ihre gute Figur »angemessen zur Geltung brachte«, wie er es nannte. Immer wenn sie an die Ritters dachte, fühlte Lea sich ein wenig erschöpft, ging dann aber sofort mit sich ins Gericht. Es war nicht fair von ihr, sich ein Urteil über die Ehe der beiden zu erlauben. Sie hatte eine so ehrliche Beziehung mit Mark gehabt – was wusste sie denn schon von den Problemen anderer Paare? Svenja war erwachsen, und irgendetwas musste sie an René finden, sonst könnte sie ihn ja auch verlassen. Vermutlich war das alles normal, und sie und Mark hatten nur großes Glück gehabt. Wie auch immer, sie hätte nicht so ein Leben führen können.
Lea gab Talisker ein Zeichen und ging mit ihm hinaus.