Читать книгу Wenn alle Stricke reißen - Beate Vera - Страница 10
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ОглавлениеUnd stündlich mit den schnellen Schwingen
Berühr’ im Fluge sie die Zeit.
Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang im Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, dass nichts bestehet,
Dass alles Irdische verhallt.
Tara konnte am besten nachdenken, wenn sie Gedichte aufsagte. Was war bloß geschehen?
Am frühen Freitagabend hatten sie in der Schule Kleists Der zerbrochne Krug geprobt. Sie spielte die Eve. Ihre Freunde Max, Tobi und Leander waren auch auf der Bühne gewesen, ebenso Annalisa, die als Eves Mutter auftrat, und Louise, die den Part der Brigitte hatte. Die Probe war gut gelaufen, und danach waren sie alle zum Pavillon in den Park an der Bäkestraße gegangen. Max hatte Wodka und Energy Drinks gekauft. Er wurde nie nach seinem Ausweis gefragt, im Gegensatz zu Tobi, der ebenfalls neunzehn war, aber immer sein Alter nachweisen musste. Bei dem Gedanken an Max wurde Tara rot. Sie mochte ihn, aber er schien das gar nicht zu merken. Max war ein Mathe-As und wie Tobi und Leander im Mathe- und im Sportleistungskurs. Außerdem begeisterte er sich für Musik und Theater. Er spielte Gitarre, und Tara hatte sich schon oft gewünscht, dass er einmal nur für sie spielen würde. Er sah mit seinen dunkelbraunen halblangen, lockigen Haaren und den geschwungenen Lippen nicht nur aus wie der Sänger von Razorlight, er klang auch wie der.
Tobi und Leander waren seine besten Freunde, machten aber aus einem ganz anderen Grund bei dem Theaterprojekt mit: Die AG zog viele Schülerinnen an. Tobi mochte Annalisa, und Leander war scharf auf alle Mädchen, die er kriegen konnte. Tara fand Annalisa sympathisch, und sie konnte nachvollziehen, was Tobi an ihr gefiel. Im Park hatte Tobi wie üblich rumgekaspert, während Max ziemlich still gewesen war, selbst für seine Begriffe. Am Pavillon hatten sie alle Wodka-Energy getrunken. Sie selbst auch, obwohl sie wusste, dass sie keinen Alkohol trinken durfte. Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
Glander war gespannt darauf, was ihn gleich erwarten würde, als er vor der großen, dunkelblau gestrichenen Tür der Lüdersstraße 23 stand. Tara, siebzehn Jahre alt, die Tochter der Anruferin Maria Berthold, war angeblich entführt worden. Die Familie lebte in einer klassischen Altberliner Stadtvilla aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Souterrain, Hochparterre und verwinkeltem Dachgeschoss. Das Haus war in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts saniert worden, und die vier großen Wohnungen waren in eine sehr große und vier kleinere umgebaut worden. Familie Berthold bewohnte als Eigentümer rund dreihundert Quadratmeter des Hauses, die sich auf die zusammengelegten Wohnungen im Hochparterre und die darüberliegende Etage erstreckten.
Glander betrachtete das Klingelschild. Neben dem Namen der Bertholds befanden sich vier weitere darauf: Gruhner, Lemke, Schneider und Obentraut. Rechts und links von der zur Haustür hinaufführenden Treppe lagen zwei kleine Rasenstücke, jeweils von Beeten umrahmt und makellos gepflegt. Glander drehte sich um und ließ seinen Blick wandern. Dem Haus gegenüber lag eine Grünanlage, die parallel zum Teltowkanal verlief und diesseits des Wassers am Stadion Lichterfelde endete. Jenseits des Kanals führte sie durch den Schloßpark Lichterfelde und mündete hinter dem Charité-Campus Benjamin Franklin in den Bäkepark. Er war die Strecke ein paarmal mit Lea und Talisker gejoggt.
Glander klingelte bei den Bertholds, der Summer ertönte, und er betrat das Haus. Er folgte dem dunkelroten, mittig verlegten Teppich die halbe Treppe hinauf. Das Treppengeländer aus Holz war elfenbeinfarben gestrichen und mit aufwendigen Intarsien verziert. Das Treppenhaus roch frisch gebohnert. Die Wohnungstür der Bertholds war geöffnet, davor stand eine ausgesprochen schöne Frau. Sie hatte glattes, langes schwarzes Haar und dunkle Mandelaugen. Frau Berthold trug unverkennbar Designermode – Glander tippte auf Armani – und hielt ihm zur Begrüßung ihre Hand entgegen.
»Herr Glander, ich bin Maria Berthold. Ich bin sehr froh, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte kommen Sie doch herein!«
Glander schüttelte ihre Hand und betrat den Flur der Wohnung, der ganz in Weiß gehalten war. Der Fußboden bestand aus Marmorfliesen, und an den Wänden hingen großflächige abstrakte Leinwände. Die Bertholds sammelten anscheinend moderne Kunst. Auf kleinen Tischen und Schränken standen verschiedene Skulpturen.
Maria Berthold führte ihn in das Wohnzimmer, in dem ebenfalls die Farbe Weiß dominierte. Auch dort hingen große Leinwände, darauf grafische Farbmuster. Maria Berthold bat Glander, auf der hellen Ledercouch Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber auf einen Sessel. Sie hielt ein Taschentuch in den Händen und blickte ihn an. Ihre Augen waren gerötet, sie sah übernächtigt aus, und Glander bemerkte, wie sehr sie sich zusammennehmen musste, um ihre Angst unter Kontrolle zu halten.
»Frau Berthold, was genau ist passiert?«
Sie wrang das Taschentuch, während sie antwortete: »Ich weiß es nicht. Tara war gestern in der Schule, wie immer. Sie ist im ersten Semester auf dem Gymnasium, das liegt nicht weit von hier. Gewöhnlich nimmt sie das Fahrrad oder läuft. Meine Tochter hatte sechs Stunden Unterricht, danach Tennistraining – das ist auch gleich um die Ecke – und um fünf Uhr noch Theater-AG, ich habe sie also nicht zum Abendessen erwartet.« Sie hielt inne und betrachtete liebevoll das Foto eines hübschen Mädchens in Tenniskleidung, das auf einem Beistelltischchen stand. Tara hatte die großen Augen und das dunkle Haar der Mutter geerbt.
»Ist das Tara?«
Maria Berthold nickte und tupfte sich die Augenwinkel. »Ja, das ist meine Tara. Im Sommer, als sie das Turnier gewonnen hatte. Ich war so stolz auf sie.«
Glander vermisste die Worte »wir« und »unsere« in den Schilderungen der Frau und fragte nach Taras Vater. »Frau Berthold, ist Ihr Mann auch zu Hause?«
Sie blickte ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf. »Nein, Heinz, mein Mann, arbeitet im Krankenhaus. Er ist Neurochirurg und beruflich sehr eingespannt. Ich …« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Tara ist meine Tochter, Herr Glander. Sie trägt Heinz’ Nachnamen, aber sie ist nicht sein leibliches Kind. Ich denke, Sie sollten das wissen. Außerhalb unserer Familie hat niemand davon Kenntnis, selbst Tara habe ich es erst vor kurzem gesagt, und ich bitte Sie, diskret mit dieser Information umzugehen.«
Glander ließ die Neuigkeit zunächst unkommentiert im Raum stehen. »Wann begannen Sie sich Sorgen zu machen?«
»Erst, als sie auch um elf noch nicht zu Hause war. Heinz war noch in der Klinik, er arbeitet oft spät. Er ist ein gefragter Dozent auf Kongressen und Seminaren, wissen Sie. Ich sah fern. Um elf wurde ich dann unruhig, denn ich hatte nichts von Tara gehört.« Wieder ging das Taschentuch an die Augenwinkel.
Glander nickte Maria Berthold ermutigend zu, und die fuhr fort: »Normalerweise schickt sie mir eine SMS, wenn sie noch zu ihrer Freundin Louise geht oder sich verspätet. Tara ist sehr verantwortungsbewusst. Ich muss mich oft ausruhen, meine Gesundheit ist nicht sehr stabil, und manchmal bekomme ich gar nicht mit, wenn sie nach Hause kommt. Als sie um Mitternacht immer noch nicht da war, begann ich, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Mein Mann leitete eine Notoperation und war nicht erreichbar, und ich wusste, dass er nicht gewollt hätte, dass ich die Polizei kontaktiere und damit Taras Rumtreiberei, wie er es genannt hätte, offiziell mache. Um diese Zeit konnte ich auch keine Klassenkameraden von Tara mehr anrufen, auch das wäre Heinz nicht recht gewesen. Ich bin die ganze Nacht durch die Wohnung gelaufen und habe sie immer wieder auf dem Handy angerufen, aber sie hat nicht abgenommen. Um acht Uhr heute Morgen wollte ich hinunter zu Louise gehen, um sie zu fragen, ob sie etwas wisse. Dann fand ich das hier vor unserer Wohnungstür.« Sie reichte Glander ein Blatt Papier, das mit der Rückseite nach oben auf dem Couchtisch gelegen hatte. Auf einem DIN-A4-Bogen stand ein mit Computer verfasster Text:
Wir haben Tara.
Wir wollen 500 000 Euro.
Übergabedetails folgen.
Keine Polizei, sonst stirbt sie!
Glander seufzte innerlich. Erpresser setzten auf die Angst der Familien ihrer Entführungsopfer, und es war jedes Mal mühevoll, diese zu durchbrechen. Hier musste die Polizei ermitteln, es führte kein Weg daran vorbei. »Frau Berthold, ich helfe Ihnen gerne, aber Sie müssen die Kriminalpolizei einschalten.«
Maria Berthold zuckte zusammen. »Nein! Auf keinen Fall! Sie sehen doch, was da steht! Meine Tara wird umgebracht, wenn ich die Polizei verständige. Deshalb habe ich Sie ja um Hilfe gebeten. Ich habe neulich einen Bericht im Tagesspiegel über Ihre Agentur gelesen, das fiel mir wieder ein. Auf Ihrer Website habe ich Ihre Nummer gesucht und gelesen, dass Sie rund um die Uhr erreichbar sind. Sie sind doch ein erfahrener Kripobeamter. Bitte, Herr Glander, Sie müssen Tara finden!«
Die Tageszeitung hatte im Wirtschaftsteil, in der Rubrik BERLIN, aber oho, über seine neugegründete Agentur berichtet. Die Website war noch nicht ganz fertig, aber ihr waren immerhin seine Telefonnummer und Kurzbiographien von Merve und ihm selbst zu entnehmen. »Ich war Hauptkommissar, das ist richtig, und genau deshalb rate ich Ihnen: Schalten Sie die Polizei ein!«
Doch auch weitere zehn Minuten Überzeugungsarbeit nutzten nichts. Frau Berthold weigerte sich, die Polizei zu kontaktieren.
Resigniert entschuldigte Glander sich für einen Moment und ging in den Flur, um seine Partnerin auf dem Handy anzurufen.
Während Glanders Wochenende durch die Entführung von Tara Berthold beendet wurde, bevor es richtig begonnen hatte, saß Lea in ihrer Küche und blätterte durch die Steglitz-Süd-Ausgabe der Berliner Woche, eines Anzeigenblatts, das über Ereignisse und Neuigkeiten in den Berliner Stadtteilen berichtete. Mark hatte sie stets damit aufgezogen, dass sie noch nicht alt genug für diese Lektüre sei, doch Lea wusste, wie leicht man bei der Informationsflut aus aller Welt das unmittelbare Umfeld aus dem Blick verlor. Außerdem las sie für ihr Leben gerne die Kontaktanzeigen. Heute fiel ihr auf Seite drei des Blattes ein Name ins Auge: Arne Sabersky. Ihr Nachbar war zum neuen kommissarischen Schulleiter des Albrecht-Berblinger-Gymnasiums am Hindenburgdamm ernannt worden und wurde in einem Porträt vorgestellt. Arne hatte seit langem mit dem Gedanken gespielt, die Brennpunktschule, an der er tätig war, zu verlassen und dem Schuldienst adieu zu sagen. Es überraschte Lea, dass er nun einen Direktorenposten antrat, aber sie freute sich für ihn und seine Familie. Sicherlich bot diese Stelle mehr finanzielle Sicherheit, ein Aspekt, der Arnes Frau Carola am Herzen lag. Der Arbeitsweg war überdies um eine gute Stunde kürzer, und die Schule hatte einen sehr guten Ruf. Duncan hatte dort sein Abitur gemacht.
Arne und Carola hatten vier Kinder, alle sehr aufgeweckt und sportlich. Wie Carola den Haushalt stemmte, konnte Lea nur bewundern. Zusätzlich zu den sechs Personen, die es mit Mahlzeiten und sauberer Wäsche zu versorgen galt, waren da noch Horst, der Bassett, die Wellensittiche Holmes, Marple, Derrick und Brisgau sowie Cindy, Claudia, Heidi und Linda, die Zwergkaninchen, die im hinteren Teil des Gartens ein großes Gehege bewohnten. Die Namen der dicklichen Hasen waren Carolas Rache an allen Frauen mit einer Kleidergröße unter 38, die sie selbst vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Lea mochte Carola sehr. Sie war unerschütterlich, und es schien kein Problem zu geben, das die Nachbarin nicht in den Griff bekam. Nie beschwerte sie sich, dass sie zu kurz komme. Vielmehr genoss sie ihr lebhaftes Familienleben in vollen Zügen.
Ganz im Gegensatz zu ihrer beider Freundin Svenja Ritter, die wie Lea und die Saberskys im Dürener Weg wohnte. Leas Laune sank rapide, als sie an den Streit dachte, den sie in der letzten Woche mit Svenja gehabt hatte. Der saß ihr noch immer in den Knochen. Im Juli, kurz nach den dramatischen Ereignissen in der Siedlung, hatte Svenjas Mann René seiner Frau gestanden, dass er seit Jahren eine Beziehung zu einem Mann in München unterhielt, den er auch finanziell unterstützte. Lea hatte ein gespanntes Verhältnis zu René gehabt und sich oft gefragt, was hinter dessen sprödem Verhalten Frauen gegenüber, ganz speziell seiner eigenen, steckte und warum Svenja sich das bieten ließ. Dass René eine heimliche homosexuelle Beziehung führte, und das bereits seit Jahren, damit hätte Lea allerdings im Leben nicht gerechnet. Es hatte Svenja besonders hart getroffen, dass es ein Mann war, der ihr den Ehemann ausspannte, und sie stand seitdem völlig neben sich. Lea verstand nicht, warum ein Mann als Trennungsgrund so viel ärger sein sollte als eine Frau. Es war immer traurig, wenn eine Beziehung in die Brüche ging. Doch Svenja war nicht traurig, sie war maßlos wütend und ließ ihren Zorn ungeniert an ihrem Umfeld aus. Bei ihrem letzten Treffen hatte Lea einiges abbekommen und sich ein paar sehr hässliche Dinge anhören müssen. Bei allem Verständnis für Svenjas Situation – die vermeintliche Freundin war entschieden zu weit gegangen, und Lea war immer noch über die so offen zur Schau gestellte Homophobie und Boshaftigkeit schockiert. Sie hatte Svenja sehr deutlich gesagt, was sie von deren Einstellung hielt, und sie gebeten zu gehen. Diese hatte mit lautem Gezeter und Türenschlagen reagiert. Seither herrschte eisiges Schweigen, und Svenja ignorierte Lea, wenn sie sich auf der Straße über den Weg liefen. Lea war nicht froh über diese Situation, aber Chauvinismus jedweder Couleur war ihr zutiefst zuwider. Svenja schien überdies schon länger einen gewissen Groll gegen sie gehegt zu haben, was Lea zu denken gab.
Leas Gedanken wanderten weiter zu Margot Wieland, einer anderen Nachbarin aus dem Dürener Weg. Sie hatte die ältere Dame, die ihr im Sommer zur Seite gestanden hatte, ins Herz geschlossen. In den letzten Wochen hatten sie sich regelmäßig zum Essen verabredet. Margot Wieland war seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug mit Lea ins »Thai by Thai« ein großer Fan der asiatischen Küche und Stammgast des Restaurants in der Goerzallee geworden. Am kommenden Montag würde sie eine vierwöchige Kur antreten, und Lea hatte für Sonntagabend ein Abschiedsessen mit der liebgewonnenen Nachbarin geplant. Deshalb schrieb sie nun eine Einkaufsliste mit Zutaten, die sie für ein indisches Hühnchencurry und ein Spinat-Bhaji nach Rezepten eines alten Freundes aus Enfield brauchte. Steve machte das beste Curry außerhalb des Punjabs, wie seine Gäste in Anlehnung an das alte Britisch-Indien zu sagen pflegten. Lea notierte außerdem, was sie für ein Baileys-Tiramisu benötigte, und machte sich dann auf den Weg zum nahe gelegenen Supermarkt in Teltow.
Glander war alles andere als begeistert von seinem ersten Auftrag. Der würde zwar sehr lukrativ werden, aber ein gutes Gefühl hatte er bei der Sache nicht. Er nahm sein Handy, um Lea anzurufen. Er würde ihr die Lage in der Lüdersstraße erklären und sie auf Merves Besuch vorbereiten, denn er hatte seine Partnerin gebeten, auf ihrem Weg zu den Bertholds seinen Laptop mitzubringen, den er bei Lea gelassen hatte. Sowohl auf dem Festnetz als auch auf ihrem Handy meldete sich nur der Anrufbeantworter, und so verschob er das Telefonat auf später. Auch wenn er sich das Wochenende ganz anders ausgemalt hatte, stellte sich bereits das warme Kribbeln im Nacken ein, das er zu Beginn jeder Ermittlung verspürte. Er schaute sich in dem großen Flurspiegel der Bertholds an. Seine stahlblauen Augen waren umrahmt von kleinen Fältchen, viele davon hatten die unzähligen Stunden auf dem Wasser hinterlassen. Glander hatte seine frühe Kindheit an der Kieler Förde verbracht, später war die Familie nach Wannsee gezogen, und Glander war ein erfahrener Schwimmer und Wassersportler. Er war in sehr guter physischer Verfassung und fest entschlossen, in seiner neuen Rolle als privater Ermittler nicht weniger erfolgreich zu agieren als in seiner Position als Kriminalhauptkommissar. Die letzten sechs Wochen hatten ihm gutgetan. Er war Mitte vierzig und gewiss, dass es irgendwann zu spät für einen Neuanfang gewesen wäre. Seinen Job bei der Kripo aufzugeben war die richtige Entscheidung gewesen, er hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt.
Im Geiste ging Glander bereits durch, was als Nächstes zu tun war. Die Ortung von Taras Handy würde vermutlich nichts ergeben, sie würden es dennoch versuchen. Sie mussten sich ein detailliertes Bild von Tara und ihrer Familie sowie von den Lebensumständen des Mädchens machen, ihre wöchentlichen Aktivitäten von der Schule bis hin zu Hobbys akribisch in einem Zeitplan notieren und Freunde und deren Familien durchleuchten. Auch die Nachbarschaft mussten sie abklopfen und fragen, ob jemand verdächtige Personen oder Fahrzeuge bemerkt habe. Glander hoffte, dass Frau Berthold dem Druck standhielt und ihnen möglichst viele Informationen geben konnte. Er strich sich durchs straßenköterblonde Haar und ging zurück ins Wohnzimmer.
Lea hatte die Einkäufe gerade in der Küche abgestellt, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete und sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sie auf Anfang dreißig schätzte. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als sie selbst, die beinahe 1,80 Meter maß, hatte lange, gelockte rabenschwarze Haare und große dunkle Augen. Ihr voller Mund war mit einem matten Lippenstift in einem dunklen Rosa geschminkt. Sie trug bis etwas über die Knöchel hochgekrempelte Boyfriend-Jeans, grüne Converse High Tops, ein weißes Unterhemd aus Lycra und darüber ein kariertes Männerflanellhemd, das den Grünton ihrer Schuhe aufgriff. Die Frau hatte eine sehr ansehnliche Oberweite und einen Teint, den deutsche Boulevardmedien gerne als südländisch bezeichneten. Vor Lea stand eine Frau, derentwegen Männer Dummheiten begingen.
»Aman Allahim! Scheiße, ist der riesig!«, entfuhr es der Frau, als sie Talisker sah, der neben Lea stand. »Ich kann gar nicht gut mit Hunden. Also, ich hab richtig Schiss vor denen.«
»Sit, Tally!«, befahl Lea ihrem Hund, der sich sofort setzte.
Die Frau sah verwundert zuerst den Hund und dann Lea an. »Das ist ja ungewöhnlich, dass hier jemand englisch mit seinem Hund spricht.« Sie streckte Lea die Hand entgegen. »Ich bin Merve, Glanders Partnerin. Er hat mich gebeten, seinen Laptop mitzubringen.«
Das war also Merve Celik, die Frau, mit der Glander sich selbständig gemacht hatte. Lea hatte sich seine Partnerin ganz anders vorgestellt: älter, gediegener – und bei weitem nicht so attraktiv. In ihrem Kopf schwirrten plötzlich eine Menge Gedanken umher, und keiner davon gefiel ihr so richtig. Sie sammelte sich. »Lea Storm, freut mich. Talisker war die englischen Befehle schon gewohnt, als mein Mann und ich ihn übernommen haben. Da ich wie mein Mann fließend Englisch spreche, haben wir uns nie die Mühe gemacht, ihm alles auf Deutsch beizubringen. Aber kommen Sie doch herein!« Lea tendierte dazu zu faseln, speziell wenn sie nervös war. Sie fragte Merve Celik: »Was ist denn eigentlich passiert?«
Merve zuckte mit den Schultern. »Ich weiß selbst noch nicht sehr viel. Eine Schülerin vom Albrecht-Berblinger-Gymnasium ist verschwunden, und die Eltern haben eine Lösegeldforderung erhalten. Wir werden versuchen, das Mädchen zu finden, gegebenenfalls übernehmen wir die Geldübergabe. Die Mutter weigert sich, die Polizei zu verständigen. Im Moment können wir nur darauf warten, dass die Entführer wieder Kontakt aufnehmen. In der Zwischenzeit werden wir so viel wie möglich über das Mädchen und seine Familie in Erfahrung bringen. Der Vater ist Neurochirurg im Virchow, der Familie wird es also an Geld nicht mangeln.«
Lea sah Glanders Partnerin erschrocken an. »Handelt es sich etwa um Tara Berthold?«
Merves Augen weiteten sich. »Sie kennen das Mädchen?«
Lea nickte. »Ja, wenn auch nicht sehr gut. Sie ist ein paar Jahre jünger als mein Sohn. Duncan ging auf dieselbe Schule wie Tara, und sie waren beide in der AG Theater und Musik. Die Truppe hat sich manchmal bei uns getroffen und Texte einstudiert. Einer der Jungs aus der Gruppe wohnt auch hier in der Straße, Tobi Verheugen. Er ist ein ehemaliger Klassenkamerad meines Sohnes, die beiden sind Freunde geblieben. Wie kurios, ich habe ihn gerade heute Morgen getroffen! Die arme Frau Berthold, sie ist sicherlich krank vor Sorge.«
»Glander sagt, sie ist einigermaßen gefasst. Frau Storm, können Sie mir mehr über diesen Tobi erzählen?«
»Sagen Sie doch bitte Lea! Tobi ist ein netter Kerl, sehr sportlich und ziemlich begabt in Mathematik. Er hat eine kleine Schwester, zwischen den beiden liegen zehn Jahre. Klara kam mit einer Behinderung zur Welt, das war nicht einfach für die Familie. Tobi war ein fröhlicher Junge, aber nach der Geburt seiner Schwester veränderte er sich sehr. Es ist nicht leicht, wenn der Kronprinz entthront wird. Die Eltern haben sich bestimmt Mühe gegeben, aber sie konnten mit seiner Eifersucht nicht umgehen. Ihre ganze Sorge galt dem Baby. Tobi war schon immer als Klassenclown und Störenfried verschrien, aber ab der neunten Klasse bekam er immer mehr Probleme und wäre beinahe von der Schule geflogen. Gezielte Tests führten schließlich zu der Diagnose ADHS. Seitdem nimmt Tobi Medikamente, er hat eine Therapie gemacht, und jetzt geht es ihm besser. Die Krankheit und ein Jahr im Ausland kosteten ihn aber zwei Schuljahre.«
»Was machen die Eltern?«
»Die Mutter arbeitet in der Redaktion einer Tageszeitung, der Vater in der angeschlossenen Druckerei. Tobi war immer schon viel sich selbst überlassen, Klara geht auf eine Ganztagssonderschule – sorry, in ein sonderpädagogisches Förderzentrum mit Ganztagsbetreuung, das heißt ja heute alles anders. Abends kümmert sich die Oma um die Kinder, bis die Eltern nach Hause kommen. Sie lebt in der Seniorenwohnanlage nicht weit von hier. Tobi hat vor zwei Jahren in den Ferien ein Schülerpraktikum in der Firma meines Mannes gemacht. Er hat wohl einen guten Eindruck hinterlassen, alle waren sehr angetan von ihm.«
»Und was wissen Sie über die Bertholds?«
Lea schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nicht sehr viel. Tara machte auf mich immer einen zurückhaltenden Eindruck. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, aber nicht eingebildet. Auch merkt man ihr nicht im Geringsten an, dass sie aus einem betuchten Elternhaus kommt. Ihr Vater gehört wohl zu den Topgehirnchirurgen. Er hat der Schule seiner Tochter einen Raum für naturwissenschaftliche Experimente gesponsert und ist bezirkspolitisch engagiert. Zumindest war er das, als Duncan die Schule noch besuchte.«
»Was ist mit Taras Mutter?«
»Sie kenne ich kaum. Es gab ja bis auf die Theater-AG keine Berührungspunkte zwischen Tara und Duncan. Das Aussehen hat Tara aber eindeutig von ihrer Mutter, und ich nehme an, auch das freundliche Wesen. Ich habe Frau Berthold als auffallend schön in Erinnerung. Die arme Frau, ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es ihr jetzt geht.«
»Lea, ich bin sicher, wir kommen noch einmal auf Sie zu. Je mehr Einblick wir in Taras Umfeld haben, desto leichter können wir herausfinden, wer es auf die Familie abgesehen haben könnte. Wissen Sie, wo Glanders Laptop ist? Und könnten Sie ihm einen Satz Wechselwäsche und sein Waschzeug zusammenpacken? Wir werden uns vorerst bei den Bertholds einrichten müssen.«
Lea nickte. »Natürlich. Wenn Sie mich kurz entschuldigen, das dauert nicht lange.«
Während Lea Glanders Sachen zusammensuchte, schaute sich Merve die gerahmten Fotos an, die auf einem Sideboard im Wohnzimmer standen. Sie zeigten Lea über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren. Glanders neue Freundin stand auf jedem Foto an der Seite eines großen, gutaussehenden dunkelhaarigen Mannes mit dunklen Augen und eindringlichem Blick. Der Junge, der in der Bildergalerie vor Merves Augen an der Seite seiner Eltern heranwuchs, hatte die kastanienbraunen Haare, die grauen Augen und das strahlende Lächeln seiner Mutter und wirkte doch wie ein Abbild seines Vaters. An der Treppe hing ein mit Bleistift gezeichnetes Porträt von Leas Mann, das den Blick auf sich zog. Die Storms waren eine schöne Familie gewesen, und Merve ahnte, wie hart der Tod ihres Mannes Lea getroffen haben musste. Ob Glander wirklich wusste, worauf er sich einließ?
»Wir haben in jedem Sommerurlaub ein Foto gemacht.« Lea war zu Merve getreten und stellte Glanders Tasche auf dem Boden ab.
»Sie sehen sehr glücklich zusammen aus.«
»Das waren wir auch. Bis zum Ende.«
»Es muss für Sie schlimm gewesen sein, Ihren Mann zu verlieren.«
Leas trauriges Lächeln sprach Bände, und Merve verabschiedete sich. »Ich muss leider wieder los, Glander und ich haben eine Menge zu tun. Es hat mich sehr gefreut, Lea.«
»Mich auch. Hoffentlich geht es Tara gut! Und hoffentlich finden Sie das Mädchen schnell!«
Merve nickte ihr zu und verabschiedete sich.
Lea sah ihr nach und schloss die Haustür mit einem flauen Gefühl in der Magengegend.