Читать книгу Wenn alle Stricke reißen - Beate Vera - Страница 13

6

Оглавление

Es kostete Tara große Überwindung, den Eimer zu benutzen, der ihr für ihre Notdurft hingestellt worden war. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad mit ihrem Lieblingsbadegel. Tara dachte an ihre Mutter, die sich sicherlich große Sorgen machte, und an ihren Vater, der bestimmt wie immer im Krankenhaus war. Dennoch versuchte sie, ruhig zu bleiben und nicht über ihre Situation nachzudenken. Mit diesem Mechanismus war sie schließlich bestens vertraut. Dinge auszublenden und sich aus der Gegenwart wegzudenken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie griff nach der Taschenlampe und dem Buch und las im Palast der Winde weiter. Dabei dachte sie an Adam, mit dem sie seit einigen Wochen chattete, und fragte sich einmal mehr, wie er wohl aussah. Er war so verständnisvoll. Sie hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können. Vielleicht fände sie ihn sogar noch toller als Max. Tara stellte sich vor, wie einer der beiden zu ihrer Rettung kam, sie in seine Arme nahm und an einen sicheren Ort brachte.

Glander war unzufrieden mit sich. Er spürte, dass er ein entscheidendes Detail übersehen hatte, kam aber nicht darauf, was es sein konnte. Er ging in Taras Zimmer, um sich selbst darin umzusehen. Der Raum wirkte unpersönlich und stillos im Vergleich zum Rest der eleganten Berthold’schen Wohnung. Als Glander die Kissen auf dem Bett anhob, fand er Taras iPhone. Es steckte zwischen der Matratze und dem Bettrahmen, der Akku war leer. Das war es, was ihn unterschwellig beschäftigt hatte! Warum hätte Tara, betrunken wie sie war, grundlos noch einmal das Haus verlassen sollen? Sie hätte doch eine Nachricht erhalten haben müssen, die sie dazu veranlasst hätte. Und wenn es so gewesen wäre, dann hätte sie sicher ihr Handy mitgenommen. Glander fand das Ladekabel in der Schreibtischschublade, verband es mit dem iPhone und schaute sich die eingegangenen Nachrichten an, nachdem das Handy ohne Passwortsicherung wieder angegangen war. Taras Mutter hatte im Laufe der letzten 24 Stunden acht Sprachnachrichten hinterlassen und zehnmal angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Es gab außerdem sechs SMS von Louise, die von Mal zu Mal mehr Ausrufezeichen hinter ihre Aufforderung an Tara setzte, sich bei ihr zu melden.

Glander ging noch einmal nach unten zu Louise, die sofort an der Tür war. »Louise, hatte Tara ihr Handy gestern bei sich?«

»Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie jedenfalls nicht damit gesehen. Sie vergisst ihr iPhone aber öfter auf dem Bett, wenn sie beim Surfen oder Chatten einschläft.«

»Danke, Louise.«

Wenn Tara ihr Handy nicht dabeigehabt hatte, dann hatte sie unmöglich durch eine Nachricht dazu gebracht worden sein können, das Haus wieder zu verlassen. Tara Berthold hatte es offenbar nicht bis in die Wohnung geschafft. Also musste jemand sie im Hausflur abgefangen haben.

Als Glander gegen sechzehn Uhr wieder in das Wohnzimmer der Bertholds trat, erwartete ihn dort Prof. Dr. Berthold.

Heinz Berthold, ein drahtiger Mann Anfang sechzig mit graumeliertem kurzgeschnittenem Haar und einer schmalen, spitzen Nase, hatte ein hageres Gesicht und unruhige Augen, die ihm den Anschein verliehen, ständig auf der Hut zu sein. Oder auf der Suche nach einem besseren Investment. Er streckte Glander die Hand entgegen, ohne die Spur eines Lächelns auf seinen schmalen Lippen.

Glander schüttelte die Hand mit einem gewissen Unwohlsein.

»Ich bin Professor Doktor Heinz Berthold. Was haben Sie bis jetzt in Erfahrung bringen können?«

»Es ist gut, dass Sie da sind, Professor Berthold. Ich möchte Sie bitten, Ihrer Frau noch einmal dringend zu raten, den Fall der Polizei zu übergeben.«

Berthold sah ihn interessiert an. »Möchten Sie etwa kein Geld an uns verdienen, Herr Glander?«

Glander widerte diese Frage an. Er hatte größte Mühe, die Abneigung, die er unwillkürlich gegen diesen Mann empfand, für den Moment zu verdrängen. Betont sachlich antwortete er: »Die Polizei hat erheblich mehr Personal als unsere Agentur, was den entscheidenden Unterschied ausmachen kann.«

Bertholds Antwort war deutlich. »Es tut mir leid, aber Maria wünscht keine Polizei, und auch ich werde ihre Meinung nicht ändern können. Mir ist im Übrigen wie ihr an einem Höchstmaß an Diskretion gelegen. Die Öffentlichkeit darf auf keinen Fall etwas erfahren. Sie werden sich also um die Suche nach Marias Tochter kümmern!«

Glander nickte. Er erkannte Granit, wenn er darauf biss. »Professor Berthold, gab es Probleme mit Tara? Hatten Sie öfter Streit? Mädchen in dem Alter können ja ganz schön schwierig sein.«

Berthold dachte nicht im Traum daran, die Brücke zu betreten, die Glander ihm gebaut hatte. »Tara ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie ist klug und fokussiert. Sie wird ein ausgezeichnetes Abitur machen und etwas Ordentliches studieren.«

»Was ist mit ihrer Liebe zum Tennis?«

»Was soll damit sein? Das Tennisspiel ist ein Hobby, mehr nicht. Wenn sie studiert, wird sie zwangsläufig damit aufhören. Ich sagte ja bereits, sie ist sehr fokussiert.«

Papa saß bei Taras Turnieren mit Sicherheit nicht in der ersten Reihe. Glanders Eindruck stimmte bislang mit Louise Schneiders Beschreibung ihres Vermieters vollkommen überein. »Professor Berthold, können Sie mir etwas über Ihre Nachbarn erzählen?«

Dem Mann gelang es tatsächlich, seine unsympathische Art noch zu steigern. »Was sollen unsere Nachbarn damit zu tun haben? Meinen Sie etwa, einer von denen versteckt Tara in seinem Schlafzimmerschrank?«

»Ich meine gar nichts, ich möchte mir nur einen Eindruck von Taras Umfeld verschaffen, und dazu gehören die Mitbewohner dieses Hauses. Louise und ihren Vater habe ich bereits kennengelernt.«

»Ein schönes Paar, finden Sie nicht?«, erwiderte Berthold abschätzig. »Die beiden wohnen seit neun Jahren im Souterrain. Sie kommen aus dem Wedding.« Berthold sah aus, als wische er sich gerade Dreck von der Schuhsohle.

Glander musste sich jetzt größte Mühe geben, sich seine Aversion gegen diesen überheblichen Mann nicht anmerken zu lassen.

Der Professor fuhr fort: »Die Mutter war schwere Alkoholikerin und starb an den Folgen von zu viel schlechtem Fusel. Schneider wollte einen Neuanfang für Louise, eine Verbesserung des Umfelds, wenn Sie so wollen. Das war auch dringend nötig. Louise war eine echte Rotzgöre. Ich war nicht angetan von ihr, als sich ihr Vater und sie hier vorstellten. Tara hat aber so lange gequengelt, bis ich nachgab und den beiden die Wohnung vermietete. Seitdem sind Tara und Louise unzertrennlich. Tara hängt ständig bei den Schneiders herum.«

»Was macht Herr Schneider beruflich?«

»Er fährt Taxi. In grauer Vorzeit hat er Philosophie studiert, was ihn sicherlich bestens auf seine jetzige Tätigkeit vorbereitet hat.« Berthold schüttelte den Kopf und sah Glander mit zusammengekniffenen Lippen an. »Es ist mir ein Rätsel, warum Menschen so weltfremdes Zeug studieren und sich dann wundern, dass ihre unnütze Weisheit nicht gefragt ist. Aber Taxis müssen ja auch gefahren werden.«

»Das können Sie bestimmt besser beurteilen als ich«, konnte sich Glander nicht verkneifen zu erwidern. »Wer wohnt noch im Haus?«

»Die Obentrauts, ein älteres Ehepaar, beide in Rente. Sie haben die Wohnung im Souterrain gegenüber den Schneiders und wegen der Behinderung von Frau Obentraut einen eigenen Eingang ohne Treppen. Frau Obentraut ist todkrank. Ich kenne Herrn Obentraut aus unserem Corps, weshalb ich ihm und seiner Frau ein wenig unter die Arme greife. Wir selbst bewohnen dieses Stockwerk und das darüber. Ganz oben sind die Gruhner – Sekretärin bei BMW oben in Moabit, arbeitet viel, ist selten hier, verdient extrem gut für eine Tippse – und der Lemke, Lehrer für Deutsch und Geschichte am Albrecht-Berblinger-Gymnasium hier in Lichterfelde. Tara hat bei ihm Deutschleistungskurs. Ein guter Mann, ich kenne ihn wie Herrn Obentraut aus der Prudentia, der schlagenden Verbindung der Uni Heidelberg. Er hat Kultur und ist eine echte Bereicherung für das Haus.«

Glander war weit davon entfernt, sich von dem zur Schau gestellten Snobismus des Chirurgen beeindrucken zu lassen. Menschen wie Berthold lebten in ihrer eigenen Welt, die von Statusgehabe, Geld und dem Umgang mit Gleichgesinnten bestimmt war. Die Realität gewöhnlicher Menschen konnten sie gar nicht mehr beurteilen, maßten sich aber stets eine Meinung darüber an. Glander beschloss, dem Professor ein wenig den Tag zu versauen. »Doktor Berthold, Ihre Frau hat mir von Ihrem, sagen wir mal, eher unterkühlten Verhältnis zueinander erzählt. Warum lassen Sie sich nicht scheiden?«

Berthold schwieg und blickte durch das große Fenster hinaus in den Garten. Schwere, dunkle Wolken hingen drohend am Himmel, und die Baumwipfel bogen sich in dem starken Wind, der aufgekommen war. Der Professor wandte sich wieder Glander zu. »Herr Glander, wissen Sie, was ich wert bin? Ich leite seit fast zwanzig Jahren als Chefarzt die Neurochirurgie, ich bin ein international begehrter Redner und Dozent. Letzte Woche war ich in Shanghai, um eine komplizierte Operation durchzuführen. Meine Eltern waren wohlhabende Leute, und ich habe unser Vermögen stetig vermehrt. Seit jeher gehört meiner Familie dieses Haus, ich bin hier aufgewachsen. Außerdem besitze ich weitere Mietshäuser in der ganzen Stadt. Maria lebte mit ihrer Familie in einem Slum in Manila, bevor ihre große Schwester als Katalogbraut nach Deutschland kam und ihre zwölf Jahre jüngere Schwester kurz darauf nachholte. Marias Schwager ermöglichte ihr eine Ausbildung an der Hanns-Eisler-Schule, sie erlernte dort das Cellospiel. Als ich sie auf einem Konzert kennenlernte, verlor ich meinen Verstand vor Lust und Liebe. Sie hätten sie hören müssen! Wir heirateten an ihrem achtzehnten Geburtstag. Einen Ehevertrag haben wir nicht, und ich bin nicht gewillt, ihr die Hälfte meines Vermögens zu überlassen – dafür, dass sie mich so hintergangen und der Lächerlichkeit preisgegeben hat.«

»Kümmert es Sie gar nicht, dass Tara in solch unterkühlten Verhältnissen aufwachsen muss?«

Berthold schnaubte verächtlich. »Ach, kommen Sie mir doch nicht so, Glander! Tara ist Marias Kind. Ich gebe beiden ein Dach über dem Kopf und ausreichend Spielgeld für Hobbys und sonstige Freizeitaktivitäten. Im Gegenzug ist Maria die schöne Frau an meiner Seite und Tara die hochbegabte Tochter, die das Bild abrundet. Es ist ein Arrangement, mit dem alle sehr zufrieden sein können.«

Glander fand das eher deprimierend. Auch wenn immer zwei zum Tangotanzen gehörten, wie Lea es ausdrückte. »Herr Berthold, haben Sie Affären mit anderen Frauen?«

»Das geht Sie überhaupt nichts an, Herr Glander!«

»Sie irren sich. Eine unzufriedene Geliebte, die auf eine Heirat spekuliert, würde ich ziemlich weit oben auf die Liste meiner Verdächtigen setzen. Gleich hinter die abgelegte Liebhaberin, die auf Rache sinnt. Wo waren Sie gestern Abend zwischen neun Uhr und Mitternacht?«

Der Arzt schnappte nach Luft. »Worauf wollen Sie mit dieser Frage hinaus?«

»Ich will auf gar nichts hinaus, ich stelle Alibis für die Tatzeit fest. Sie sind Ihrer Frau und deren Tochter nicht sehr wohlgesinnt. Ihre Frau ist Ihnen seit Jahren ein Dorn im Auge und bedeutet ein Leck in Ihrem Geldtank. Es mag Ihnen nicht passen, aber so wie ich die Sache sehe, haben Sie ein wirklich bestechendes Motiv.«

»Nun, dann schlage ich vor, Sie ändern ganz schnell Ihre Perspektive, wenn Sie keine Verleumdungsklage am Hals haben wollen, Herr Glander.«

»Herr Berthold, wenn Ihr Anwalt auch nur ein bisschen was taugt, wird er Ihnen von einem solchen Schritt abraten. Wie sieht denn das aus? Der piekfeine Professor, dem die Entführung seiner Tochter egal ist …«

Auf Bertholds Hals machten sich rote Flecke breit.

Hab ich dich, du bornierter Sack!, dachte Glander.

Berthold hatte sich wieder gefasst und räusperte sich. »Ich war gestern Abend im Virchow-Klinikum und habe eine Notoperation geleitet. Das Team wird Ihnen das jederzeit bestätigen. Und ja, ich habe schon seit vielen Jahren eine Affäre, aber die Dame ist ebenfalls verheiratet und stellt keinerlei Ansprüche.«

»Ich brauche ihren Namen und eine Telefonnummer.«

»Auf keinen Fall!«

»Dann bitten Sie die Dame, sich umgehend mit mir in Verbindung zu setzen! Damit ist mein Entgegenkommen auch schon erschöpft. Wenn ich bis morgen Mittag nichts von ihr höre, erfährt die Presse von Ihren wahren familiären Verhältnissen. Selbstverständlich erst, nachdem Tara in Sicherheit ist.«

»Das wagen Sie nicht!«

Glander sah den Mann nachsichtig lächelnd an. »Möchten Sie es darauf ankommen lassen? Morgen Mittag zwölf Uhr, Professor!«

Der Arzt nickte und verließ das Wohnzimmer. Fast wäre er mit seiner Frau zusammengestoßen, die durch die Tür kam. »Einen feinen Ermittler hast du da an Land gezogen, Saya-Maria. Einmal Gosse, immer Gosse! Ich werde bis auf weiteres in der Klinik übernachten. Wenn Tara gefunden ist …«, er machte eine hässliche Pause, welche die Worte »tot oder lebendig« zu beinhalten schien, »… werde ich die Stelle in Paris antreten.«

Maria Berthold neigte den Kopf in die Richtung ihres Mannes.

Glander wandte seinen Blick von dem Ehepaar ab. In der Geste dieser schönen Frau lag so viel Würde, dass er sich für den Chirurgen fremdschämte.

Über dem Haus kündigte ein leises Grollen das bevorstehende Gewitter an.

Merve hatte Glander ihr Gespräch mit Lea umrissen und ihm deren Verbindung zu Tara Berthold erklärt. Danach hatten sie ihre nächsten Schritte geplant. Glander hatte keine weiteren Nachbarn angetroffen. Er würde es später erneut versuchen.

Maria Berthold hatte darauf bestanden, dass sie auch die Videoüberwachung installierten. Merve hatte verdeckte Kameras an den Eingängen und an strategischen Plätzen im Treppenhaus angebracht und war dabei, ihren Laptop entsprechend einzurichten. Selbst wenn einem der Mieter die Kameras auffielen, erwartete sie nicht, dass sich jemand beschwerte.

Glander nahm wieder im Wohnzimmer Platz und sah sich die Kontaktliste und den Wochenplan des Mädchens an. Da Tara ihrem Entführer vermutlich im Hausflur begegnet war, musste jemand den beiden Mädchen ins Haus gefolgt sein. Vielleicht hatte er die Tür blockiert, um kurz darauf hineinschlüpfen zu können. Auch war der hintere Eingang zu den Kellerräumen laut Frau Berthold nie abgeschlossen, da das Reinigungspersonal und der Gärtner ständigen Zugang brauchten und Prof. Berthold ihnen keine Schlüssel überlassen wollte. Hier hätte also ebenfalls jemand ins Haus gelangen können. Oder, und der Gedanke schmeckte Glander gar nicht, jemand war bereits im Haus gewesen, als Tara und Louise aus dem Park gekommen waren. Jemand, der Taras Wege kannte oder der – das war ebenfalls eine Möglichkeit – sogar im Haus wohnte. Glander schloss Maria Berthold zunächst aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Sie müsste eine wirklich gute Schauspielerin sein, wenn die Angst um ihr Kind nicht echt wäre. Dem Professor traute er nicht über den Weg. Sie würden seine Finanzen genau durchleuchten. Verwandte hatten die Bertholds nicht. Prof. Berthold war Einzelkind, und Maria Bertholds Schwester war mit ihrem Mann vor ein paar Jahren nach New York gezogen.

Glander ging die Nachbarn durch: das Ehepaar Obentraut, die Chefsekretärin Anneke Gruhner, Taras Lehrer Gerd Lemke und Louises Vater Jürgen Schneider. Louises Schilderung des Abends würde er in jedem Fall überprüfen, sie war bislang die letzte Person, die Tara vor der Entführung gesehen hatte. Er würde sich außerdem die Mitglieder der Theatergruppe vornehmen, mit denen Tara und Louise am Pavillon gewesen waren. Vielleicht hatten die Jungs in ihren betrunkenen Köpfen einen Schabernack ausgeheckt, der außer Kontrolle geraten war. Glander wollte auch mit dem Vertrauenslehrer der Schule über das Mädchen sprechen und nachfragen, ob es auffällige Schüler gab.

Glander war unruhig. Er hasste Untätigkeit, zumal es viel zu tun gab für eine Firma mit nur zwei Köpfen. Bei der Kripo hätte er jetzt Teams auf Nachbarn, Freunde und Lehrer angesetzt. Nun aber würde er diese Arbeit alleine übernehmen müssen, obwohl ihnen die Zeit davonrannte. Glander lief eine Weile im Wohnzimmer herum und entschied sich um kurz vor halb neun, doch noch einmal nachzusehen, ob einer der Mieter inzwischen zu Hause war.

Als er die Wohnungstür der Bertholds öffnete, wäre er beinahe auf einen braunen Umschlag getreten, der auf dem Fußabtreter lag. Er riss ihn auf und las die Nachricht:

500 000 Euro.

Gebrauchte Hunderter in einem dunklen Rucksack.

Im Pavillon im Park an der Bäkestraße.

Übergabezeit folgt.

Keine Polizei, sonst stirbt sie!

Glander spurtete die Treppe hinunter, in der absurden Hoffnung, noch jemanden zu erwischen. Doch natürlich war niemand zu sehen. Er würde sich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras gleich mit Merve anschauen. Als er wieder ins Haus gehen wollte, kamen zwei Menschen gemeinsam auf den Eingang zu.

Gerd Lemke war sofort als Lehrer auszumachen. Glander fand, der Mann hatte einen Schlaumeierblick, aber Glander hatte auch noch nie eine gute Meinung von Lehrern gehabt. Lemke war leger gekleidet: Er trug Jeans und ein hellblaues Oberhemd, darüber eine leichte Lederjacke. Sein Gesicht zierte ein d’Artagnan-Bärtchen. Er sah erheblich jünger aus, als Glander ihn sich vorgestellt hatte, und hatte eine Sporttasche bei sich.

Neben dem Lehrer ging eine mollige Mittdreißigerin mit einem aschblonden Pagenkopf. Sie hatte eine mächtige Oberweite und ein ausladendes Gesäß. Das Rund ihres pausbäckigen Gesichts wurde durch den Haarschnitt zusätzlich betont. Sie trug einen dunkelgrauen Hosenanzug mit einer Marlenehose und Schuhe mit mindestens acht Zentimetern Absatz. Unter dem Sakko lugte ein Top mit Spitzenbesatz am fleischigen Dekolleté hervor. Sie war stark geschminkt, ihr voller Mund mit einem dunkelroten glossigen Lippenstift akzentuiert. Alles an ihr schien zum Anfassen einzuladen.

Das Paar blieb stehen. »Kann man Ihnen helfen?«, fragte die Üppige.

»Frau Gruhner, Herr Lemke?«, fragte Glander zurück. Die beiden nickten, und Glander stellte sich ihnen vor. »Mein Name ist Martin Glander, ich bin privater Ermittler und von den Bertholds beauftragt. Es geht um Tara.«

Der Mann sah ihn voller Erstaunen an, die Frau legte in einem Ausdruck des Entsetzens ihre Hand über den Mund.

»Vielleicht könnte ich Ihnen im Haus ein paar Fragen stellen?«

Beide nickten erneut, der Lehrer hatte sich als Erster wieder gefasst. »Anneke, können wir zu dir gehen? Meine Junggesellenbude eignet sich heute nicht für spontane Gastgeberauftritte.«

»In Ordnung«, sagte Anneke Gruhner und lud Glander ein, ihnen zu folgen.

Glander folgte ihren wogenden Hüften die Treppen hinauf und simste Merve dabei:

lösegeld 500 t, brief lag vor wohnungstür. ort der übergabe genannt, zeit folgt. spreche mit nachbarn oben. check du die kameras!

Anneke Gruhner öffnete ihre Wohnungstür, und Glander betrat einen quadratischen Flur. Zur Linken lag das Bad, daneben die Küche, die in das Wohnzimmer überging, rechts vom Flur befand sich das Schlafzimmer. Glander konnte durch die geöffnete Tür ein ungemachtes Bett mit dunkelroter Satinbettwäsche erkennen.

Anneke Gruhner bemerkte seinen Blick und schloss die Schlafzimmertür. »Ich habe heute Abend nicht mehr mit Besuch gerechnet, aber machen Sie es sich bitte im Wohnzimmer bequem! Ich bin gleich bei Ihnen. Gerd, würdest du dich um etwas zu trinken kümmern?«

Gerd Lemke nickte und fragte Glander, was er trinken wolle. Der lehnte dankend ab und ging ins Wohnzimmer, während der Lehrer sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte. Nach kurzer Zeit gesellte Lemke sich zu Glander und schenkte seiner Nachbarin ein Glas Rotwein aus einer Flasche ein, die er einem Schränkchen unter der Dachschräge entnommen hatte. Das Schränkchen stand neben einer großen Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte.

Während bei den Bertholds kostspielige Materialien das Dekor dominierten, stand Glander bei Anneke Gruhner auf Klicklaminat, und der Küchenboden war mit einem PVC-Belag ausgekleidet. Eine weiße Ikea-Einbauküche bot Funktionalität und tat dem Auge nicht weh. Anneke Gruhner hatte sich bemüht, dem Ensemble einen eigenen Stempel aufzudrücken, indem sie teure Küchenutensilien in kräftigen Farben benutzte.

Sie hatte sich umgezogen und trug nun eine weite Freizeithose, darüber ein schwarzes Wickelkleid. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihr Sofa fallen und griff nach dem Glas Rotwein. Sie nahm einen Schluck und beugte sich vor, um das Glas wieder auf den kleinen Tisch vor dem Sofa zu stellen. Dabei gewährte sie Glander einen freien Blick auf ihren dunkelroten Spitzen-BH. »Was ist denn mit Tara passiert?«

»Das wissen wir noch nicht genau. Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Lemke nahm einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche, und Anneke Gruhner langte erneut nach dem Glas auf dem Couchtisch. »Ist Tara etwa entführt worden?« Sie gab sich selbst die Antwort. »Was für eine dumme Frage! Die Bertholds haben eine Menge Geld. Man glaubt ja nicht, dass man selbst einmal mit so etwas in Berührung kommt, mit einer Entführung, meine ich, in der unmittelbaren Nachbarschaft.«

Glander ließ das unkommentiert. »Frau Gruhner, Herr Lemke, wo waren Sie gestern Abend zwischen neun Uhr und Mitternacht?«

Gerd Lemke trank erneut von seinem Bier. Die Gruhner zog einen Flunsch, antwortete aber zuerst. »Das ist einfach, Herr Glander, ich war bis kurz vor Mitternacht alleine im Büro. Wir haben am Montag eine große Vertriebsveranstaltung, und die Präsentationsunterlagen mussten noch fertiggestellt werden. Für so etwas brauche ich Ruhe, und die habe ich nur am Abend, wenn die Kollegen im Feierabend sind. Oder am Wochenende. Ich komme gerade auch aus dem Büro.«

Glander sah Gerd Lemke an, der noch einen Schluck von seinem Bier nahm, bevor er antwortete. »Ich war zu Hause, Herr Glander, und habe Deutscharbeiten des dritten Semesters korrigiert. Später bin ich auf bessere Lektüre umgestiegen und habe begonnen, die Memoiren unseres Kanzlers der Einheit zu lesen. Ich erwäge, diese im Geschichtsunterricht einzusetzen.«

Also hatte der Lehrer kein Alibi, und auch das der Sekretärin stand auf wackligen Beinen. Glander wandte sich erneut Gerd Lemke zu. »Herr Lemke, können Sie mir etwas über Tara Berthold erzählen? Was ist sie für eine Schülerin? Hat sie Feinde oder Neider an der Schule?«

Lemke überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Tara hat keine Feinde, nein, sie ist sehr beliebt, auch weil sie so bescheiden ist. Ihr Vater ist ziemlich wohlhabend, ihre Mutter kommt aus sehr einfachen Verhältnissen. Tara hat einmal einen Aufsatz über ihre Familie geschrieben, in der achten Klasse war das, glaube ich. Ihre Mutter ist Philippina und hatte es wohl nicht immer leicht, bis sie Professor Berthold kennenlernte. Jedenfalls ist Tara ein bodenständiges Mädchen, wenig affektiert für ihr Alter.« Er hielt inne, obwohl es schien, als wolle er noch mehr sagen.

Anneke Gruhner warf ein: »Tara ist eine ganz Liebe, Herr Glander. Wenn ich verreise, kümmert sie sich um meine Pflanzen. Manchmal bittet sie mich um Hilfe am PC. Sie ist sehr verlässlich, viel zu ernst vielleicht für ein Mädchen ihres Alters. Haben Sie schon mit Louise Schneider gesprochen? Das ist Taras beste Freundin, sie wohnt …«

»… unten im Souterrain. Ja, ich habe schon mit ihr geredet.«

Das Gespräch wurde zu Glanders Enttäuschung nicht ergiebiger. Tara war offenbar ein freundliches, intelligentes Mädchen, das alle mochten. Er legte den beiden Nachbarn eindringlich nahe, nicht über Taras Verschwinden zu sprechen, und verabschiedete sich um kurz vor 22 Uhr von ihnen. Auf dem Weg die Treppe hinunter nahm er sich vor, am nächsten Morgen noch einmal bei Gerd Lemke vorbeizuschauen. Er interessierte sich für dessen Wohnung, denn eine schnell erdachte Lüge erkannte Glander sofort als solche. All die Jahre bei der Kripo mussten ja für etwas gut gewesen sein.

Wenn alle Stricke reißen

Подняться наверх