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Tara Berthold war zu erschöpft, um weiter zu schreien. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte Durst. Erneut schaltete sie die Taschenlampe ein und leuchtete ihre Umgebung aus. Sie befand sich in einem Keller mit einer Klappe an der Decke. Tara versuchte, die Klappe zu erreichen, aber die lag zu hoch. Es gab auch nichts, worauf sie sich hätte stellen können, der Raum war völlig leer. Was, um Himmels willen, war denn nur mit ihr passiert? Tara hatte immer noch keine Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war. Von ihren Schläfen ausgehend hämmerte ein pochender Schmerz die Schädeldecke entlang, und ihr Magen fühlte sich wund und hohl an. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, oder gar, welcher Tag, konnte also auch nicht wissen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sie lehnte sich gegen die nackte Steinwand und begann, mit leiser Stimme Schillers Lied von der Glocke aufzusagen:

Fest gemauert in der Erden

Steht die Form aus Lehm gebrannt.

Heute muss die Glocke werden!

Frisch, Gesellen, seid zur Hand!

Von der Stirne heiß

Rinnen muss der Schweiß,

Soll das Werk den Meister loben;

Doch der Segen kommt von oben.

Lea hatte nach ihrem Lauf die Dusche neben der Sauna im Keller benutzt, um Glander nicht zu wecken. Sie war gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten, als ihr Handy vibrierte. Für einen Studenten war ihr Sohn am Wochenende ausgesprochen früh wach, stellte sie fest, als sie auf ihr Display sah. »Hello, love! Bist du aus dem Bett gefallen?« Duncan war zweisprachig aufgewachsen, wie seine Eltern. Marks Vater war Engländer gewesen – ein Soldat, der zu viel trank und seine Familie sitzenließ. Wenn sie unter sich waren, unterhielten sich Lea und ihr Sohn in einem bunten Gemisch aus beiden Sprachen.

»Hi, mum! Vielleicht sind wir ja gerade erst nach Hause gekommen …«, erwiderte Duncan mit geheimnisvoller Stimme.

»Wir? Das heißt, du bist in Begleitung der lovely Nina

Jetzt lachte Leas Sohn laut. »Mama, dir kann man ja normalerweise nicht viel vormachen, aber diesmal liegst du falsch. Ich muss für eine Klausur lernen und bin schon seit sechs Uhr auf den Beinen. The early bird, the worm – du weißt ja.«

»Welchen Wurm hoffst du früher Vogel denn zu fangen?«

»Ökologische Grundlagen der Umweltplanung.«

»Zweifelsohne ein ganz packendes Thema. Kommst du gut voran?«

»Na ja, es geht so, aber ich habe noch das ganze Wochenende, das wird schon.«

»Ich habe vorhin Tobi mit einem Freund getroffen. Die beiden sahen ganz schön fertig aus.«

»Wirklich? Dabei trinkt Tobi nur ganz selten einen über den Durst. Er darf doch nicht viel Alkohol trinken wegen des Ritalins. Ich werde ihn mal wieder bei Facebook anstupsen. Mum, ich wollte dich fragen, ob Nina und ich am nächsten Wochenende nach Berlin kommen können.«

Lea kamen die Details wieder in Erinnerung. Tobi hatte in der neunten Klasse arge Probleme bekommen. Ein Tadel jagte den nächsten, und irgendwann stand er kurz vor dem Schulverweis, nachdem er die Turnhalle mit Graffiti dekoriert hatte. Alle dachten damals, der ohnehin als Klassenclown bekannte Junge sei einfach nur pubertär und ungezogen. Es hatte über ein Jahr gedauert, bis die Diagnose ADHS gestellt wurde. Tobi hatte das Schuljahr wiederholen müssen. Er trieb seitdem regelmäßig und mit großem Eifer Sport und hatte vor Beginn der Oberstufe noch ein Jahr auf einer Schule in England verbracht, um seine miserablen Englischkenntnisse zu verbessern. Beinahe hätte Lea Duncans Frage ignoriert, dabei wartete sie schon seit ein paar Monaten darauf, seine Freundin Nina kennenzulernen, eine Kommilitonin aus Hamburg. »Klar, ihr seid hier jederzeit willkommen. Dann kannst du mir Nina endlich vorstellen. Und ich dir Glander.«

»Ahhh, den Herrn Kriminalhauptkommissar!«

»Not anymore. Ex-Kommissar. Jetzt ist er Chef der Detektei Celik & Glander.«

»Whatever, ich bin sehr gespannt auf ihn.« Duncan zögerte kurz und fragte dann: »Bist du verliebt?«

Lea betrachtete sich im Flurspiegel: Ihre graugrünen Augen leuchteten, ihr kastanienbraunes Haar glänzte, und ein Dauerlächeln zierte ihr Gesicht. Sie fühlte sich rundum phantastisch, daran bestand kein Zweifel. »Ja, Schatz, ich bin verliebt.« Überraschend, bis über beide Ohren und mit einer Menge Schmetterlingen im Bauch.

Duncan lachte wieder und sang den alten Hit von Madness an: »It must be love, love, love … Auweia, das kann ja ganz schön kitschig werden mit uns vieren!«

»Ich befürchte auch, darling, wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.«

Sie prusteten beide los, und Duncan verabschiedete sich. Er wollte mit Nina am Freitagabend eintreffen, und sie würden alle zusammen essen.

Lea summte das Lied weiter und wusste, sie würde den ganzen Tag Mühe haben, diesen Ohrwurm wieder loszuwerden.

Als Glander ein zweites Mal wach wurde, duftete es im Haus verlockend nach Leas full English breakfast: nach Spiegeleiern, gebackenen Bohnen, gebratenen Tomaten, krossem Bacon und Oxford sausages, englischen Würstchen, die sie über das Internet bezog. Deutsche Würstchen zerstörten den fiesen Gesamteindruck, hatte sie ihm lachend erklärt.

Glander kehrte noch einmal ins Bad zurück und zog sich nur seine Jeans an, bevor er nach unten ging.

Er sah Lea vor ihrem Herd stehen, mit dem Rücken zu ihm. Sie trug einen Slip und ein recht kurzes, enganliegendes Top mit Spaghettiträgern. Der tiefe Schnitt, den der Wahnsinnige ihr im Juli am linken Oberarm zugefügt hatte, war gut verheilt, nur eine feine, noch rötliche Narbe verlief wellenförmig zwischen Schulter und Ellenbogen. Lea war barfuß und bewegte ihren wirklich hübschen Po, wie Glander einmal mehr bemerkte, zu einem Lied auf ihren Bluetooth-Kopfhörern. Lea hörte Musik ungern leise, schon gar nicht beim Kochen, und es war süß, dass sie in ihrem eigenen Haus auf ihn Rücksicht nahm. Glander war das Frühstück auf der Stelle egal, das konnten sie nachholen.

Er stand nur zwei Schritte hinter ihr, als sein Handy sich mit der Titelmelodie der TV-Serie Die Profis meldete. Glander hatte keine Folge verpasst und konnte nicht ausschließen, dass die beiden Agenten William Bodie und Raymond Doyle einen Einfluss auf seine spätere Berufswahl gehabt hatten.

Lea drehte sich erschrocken um, das große Messer, mit dem sie Tomaten halbierte, auf ihn gerichtet. Das Handysignal hatte ein Knacken in ihren Kopfhörern verursacht.

Glander hob beschwichtigend die Hände und ging auf die Terrasse hinaus, während Lea die Kopfhörer abnahm, achtlos in die Tomaten legte und schimpfend hinter ihm herkam. »Sodding hell! Ich habe mich zu Tode erschreckt!« Sie boxte ihn gegen den Oberarm. Lea verfiel meist in die Sprache ihres Vaters, wenn sie wütend oder aufgeregt war. Im Fluchen konnte sie es mit jedem waschechten Briten aufnehmen.

Glander meldete sich am Telefon. Zu Lea gewandt, mit der Hand über dem Handy, flüsterte er: »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.« Dann widmete er sich wieder dem Anrufer. »Beruhigen Sie sich! Ich verstehe kein einziges Wort. Atmen Sie tief durch, und sagen Sie mir, was los ist!«

Lea zog ein Gesicht und ging wieder hinein. So sah sie nicht, wie sich Glanders Blick verfinsterte.

»Sie haben eine Nachricht erhalten, dass jemand Ihre Tochter in seiner Gewalt hat?« Er wartete die Antwort ab. »Waren Sie bei der Polizei? Okay, keine Polizei. Geben Sie mir Ihre Adresse! Ich bin bei Ihnen, so schnell ich kann.« Glander musste die Adresse nicht notieren, er hatte ein sehr gutes Gedächtnis. Leider blieben dort nur Dinge haften, die ihn interessierten – eine Eigenschaft, die bei ihm zu einem zweiten Anlauf fürs Abitur geführt hatte. Er ging wieder hinein. »Lea, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken. Du sahst einfach so gut aus. Leider wirst du ohne mich frühstücken müssen, ich muss gleich weg. Weißt du, wo die Lüdersstraße hier in Lichterfelde liegt?«

Lea sah ihn belustigt an. Sie genoss es, ihn so durcheinanderbringen zu können. »Die geht von der Königsberger ab. Nimmst du das Auto?«

»Ja. Das war höchstwahrscheinlich unsere erste Klientin.« Sosehr er es bedauerte, auf das gemeinsame Frühstück im Bett verzichten zu müssen: Er ging bereits im Geiste die ersten üblichen Schritte bei Entführungsfällen durch. Dabei nahm er Lea in seine Arme und küsste sie ins Haar. »Es tut mir wirklich leid. Lass es dir schmecken!« Er gab ihr noch einen Kuss auf den Mund und ging dann wieder nach oben, um zu duschen und sich anzuziehen.

Umso mehr bleibt für mich!, dachte sich Lea und stapelte drei Spiegeleier und einige Löffel gebackener Bohnen neben den Bacon und zwei Würstchen auf ihren Teller.

Wenn alle Stricke reißen

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