Читать книгу Ein Sommer in Berlin - Beate Vera - Страница 13
ОглавлениеEs war nach Mitternacht, und ich fand keine Ruhe. An Schlaf war nicht zu denken, auch wegen der schwülen Nachtluft nicht, die durch das offene Zimmerfenster kam. Ich saß auf meinem Bett, hörte Jacques Brel und schaute mir alte Fotos an. Fotos aus einer Zeit, die ich beinahe vergessen hatte. Dabei war es eine so wunderbare Zeit gewesen.
Schon bei meinem Vorstellungsgespräch in seiner Buchhandlung hatte ich ein Prickeln auf der Haut gespürt, kaum dass ich Quintus Hartmann gegenübergesessen hatte. Der große, schlanke und leger gekleidete Mann schaute meine Papiere durch und grinste mich dann unverhohlen an. Er habe den Buchladen erst ein paar Monate zuvor von seinem Vater übernommen, den ein Schlaganfall gezwungen habe, seine Arbeit niederzulegen, und nun habe er, Quintus, ein ziemlich großes Problem. Das Studium der Philosophie habe ihn nämlich keineswegs auf die Führung eines Buchladens vorbereitet, wie er mir frank und frei mitteilte. Er habe auch keine Ahnung davon, wie man Bewerbungsgespräche führe, weshalb er sich die Fragerei schenken werde. Er brauche dringend jemand, der den Laden leiten könne, ich sei ihm sympathisch, und sollte ich am Montag anfangen können, sei der Job meiner.
Ich fand den Gedanken ganz großartig, bei meiner ersten Festanstellung gleich eine Buchhandlung zu führen, auch wenn das eine ganz schöne Herausforderung war. Quintus hätte selbstverständlich das Sagen, hatte mir aber deutlich zu verstehen gegeben, dass ich Buchhaltung, Marketing und Bestellwesen eigenverantwortlich übernehmen müsse. Ich sagte auf der Stelle zu, obwohl das Anfangsgehalt alles andere als üppig war. Es würde trotzdem für eine kleine Wohnung reichen, rechnete ich mir aus. Mit Anfang zwanzig hatte ich schließlich noch keinen ausufernden Lebensstil.
Meine Mutter war selbstredend dagegen gewesen. Sie wollte, dass ich mein abgebrochenes Studium beendete, schließlich sei ich noch jung. Nach meiner verkürzten Schulkarriere hatte ich Zeit, die Ausbildung zur Buchhändlerin noch vor ein mögliches Studium zu stellen. Nach bestandener Prüfung und einem Auslandsjahr als Au-Pair im Languedoc schrieb ich mich mit zwanzig für Französische Literatur an der FU ein. In den Semesterferien jobbte ich in einer Buchhandlung und las Bücher und Abhandlungen über Émile Zola, der mich damals über alle Maßen faszinierte.
Die Faszination meines damaligen Profs dagegen galt jungen Frauen, insbesondere mir, und er machte mir eindeutige Avancen. Als ich darauf nicht einging, fiel meine Note in Französische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts in schwindelerregende Tiefe, ohne Aussicht auf Erholung, und ich schmiss das Studium nach dem dritten Semester. Den Grund behielt ich aus Scham für mich. Es hatte damals zu Hause unzählige Diskussionen über meinen Berufswunsch gegeben, denn meine Mutter hatte im Anschluss an meine »ohnehin überflüssige Ausbildung« nichts Geringeres als ein Germanistik- oder Romanistikstudium erwartet. Danach eine steile Karriere als Autorin existenzphilosophischer Bestseller oder als Leiterin eines renommierten Verlagshauses, aufgrund meiner Fremdsprachenwahl am besten in Paris. Dass ich nun schnöde arbeiten ginge, noch dazu in einem »Laden« in Schöneberg – was sie mit einem Lippenkräuseln betonte, das keine Zweifel an ihrer Haltung ließ –, passte ihr ganz und gar nicht. Sie können sich vorstellen, wie begeistert sie war, als Quinn und ich dann auch noch eine Beziehung begannen. Ich war überglücklich, und meine Mutter sprach drei Monate lang kein Wort mit mir.
Ich war damals bis über beide Ohren verliebt, und ich war mir sicher, Quinn fühlte ebenso. Wir verstanden uns auf Anhieb blind und wurden unzertrennlich. Wir teilten die Liebe zum Lesen, und Quinn erweiterte sein Angebot um ein Regal mit französischen Titeln, das ich alleine gestalten durfte. Nach Feierabend gingen wir aus, sahen Filme im Odeon Kino oder bummelten die Goltzstraße entlang. Wir kannten alle Bars und Restaurants im Kiez und waren Stammgäste im Südwind, einem mediterranen Lebensmittelladen mit kleiner Gastronomie im Akazienkiez. Wir wurden einander nicht überdrüssig. Dann kam drei Jahre, nachdem wir zueinandergefunden hatten, jener Sonntagmorgen, an dem ich alles ruinierte.
Quinn und ich hatten uns nach dem Aufwachen geliebt und waren danach hungrig. Er kam aus der Küche ins Schlafzimmer zurück und trug ein liebevoll angerichtetes Tablett, auf dem sich Brötchen, Frühstückseier und die große Chambordkanne mit Kaffee aus selbstgemahlenen Bohnen befanden. Ich lächelte ihn lasziv an, denn noch mehr Appetit als auf ein opulentes Frühstück hatte ich auf etwas ganz anderes. Er stellte das Tablett ab und legte sich neben mich.
Ich schmiegte mich an ihn. »Lass uns ein Baby machen!«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ganz ehrlich? Dass er mich in seine Arme nähme, mich küsste und etwas sagen würde wie »Nichts lieber als das, Catia, ich möchte eine ganze Fußballmannschaft«?
Natürlich sagte er nichts dergleichen. Quinn hatte überhaupt kein Interesse an Fußball. Er löste sich aus meiner Umarmung und sah mich zornig an. Dann griff er sich schweigend seine Kleidung und verließ die Wohnung.
Ich verstand die Welt nicht mehr und blieb zitternd auf dem Bett liegen. Irgendwann wurde es wieder dunkel draußen, und ich zog mich an. Ich saß am Küchentisch, als er gegen zehn Uhr abends wieder nach Hause kam. Er war betrunken und sagte Dinge, die mich sehr verletzten. Dabei zeichnete er ein hässliches Bild der Frau im Allgemeinen. Ich zog aufs Sofa.
Am Tag darauf wechselten wir im Buchladen kein Wort miteinander. Es gab auch nichts zu sagen. Er hatte mir doch deutlich gezeigt, was er von meinem Vorschlag hielt, was er von mir hielt. Nach drei Tagen des Schweigens packte ich meine Sachen und zog zu meiner damaligen Freundin Corinna. Ich heulte eine ganze Woche lang, dann wurde ich sauer. Im Laden sprachen Quinn und ich nur das Nötigste miteinander, und ich begann mich nach einem neuen Job und einer neuen Bleibe umzusehen. Zwei Wochen nach meiner Frage, die alles kaputtgemacht hatte, fiel ich in das Günter-Grass-Display.
Mittwochvormittag. Die Kinder waren in der Schule, die E-Mail an Stefan Starke mit der Bitte um einen dringenden Termin war versandt. Wie von der Kanzleileiterin empfohlen, mit der ich zuvor telefoniert hatte, hatte ich dem Schreiben eine kurze Schilderung der Situation beigefügt. Ich lungerte vor meinem Kleiderschrank herum und bereute meine Zusage, Quinn zu treffen, aus vollem Herzen.
Rund zwei Stunden lang hatte ich bereits meine Haare auf Wickler gedreht, die Locken wieder ausgebürstet und die Haare erneut gewaschen. Während ich meinen Kleiderschrank durchwühlte, musste ich mir eingestehen, dass selbst die durchgestylteste Frisur nichts an der Tatsache ändern konnte, dass ich, seitdem Quinn mich das letzte Mal gesehen hatte, dreizehn Kilo zugenommen hatte. Das machte, so wie die verteilt waren, an gewissen Körperzonen drei Kleidergrößen mehr aus. Sehnsüchtig erinnerte ich mich an die schwarze Bootcut-Jeans, die über Jahre mein Lieblingskleidungsstück gewesen war. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für einen Lagenlook, bestehend aus einer schwarzen Hose, die erheblich größer war als meine frühere Favoritin, einem schwarzen Longtop und darüber einem lockeren, dünnen, oversized Seidenpullover in einem hellen Türkis. Dazu noch eine auffällige Kette und die hohen Sandalen, die mein Gebein streckten. Da es unwahrscheinlich war, bis zum Abend zehn Kilo abzunehmen, musste ich mich mit diesem Outfit anfreunden.
Meine Nervosität nahm den Tag über stetig zu, gegen halb sieben war ich ein einziges Nervenbündel. Meine Haare hatte ich am Ende nur noch trockengeföhnt – ohne Wickler. Ohne alles, das gefiel mir am besten.
Franziska hatte mich einmal mehr nicht zurückgerufen, Pilar würde auf die Kinder aufpassen. Sie hatte gleich zugesagt, und ich hatte Helenes Proteste ignoriert. Die wähnte sich alt genug, einen Abend lang das Kommando zu übernehmen und ihre kleinen Brüder herumzuscheuchen, während sie selbst stundenlang chattete – so vermutete ich jedenfalls.
»Sie sehen toll aus, Frau Thomas!« Pilar schaute einmal an mir hoch und wieder herunter.
Ich musste zugeben, ich fühlte mich geschmeichelt. »Danke, Pilar. Den Zuspruch kann ich brauchen, ich war so lange nicht mehr aus. Na ja, wird schon schiefgehen!«
Mit einer Ermahnung an mein Trio, auf Pilar zu hören und nicht zu spät ins Bett zu gehen, drückte ich der Siebzehnjährigen einen Zettel mit Instruktionen und meiner Handynummer in die Hand. »Egal, was ist, du rufst mich an, wenn es ein Problem geben sollte! Ich mache mich dann sofort auf den Weg.«
Pilar schmunzelte. »Hier wird es keine Probleme geben, Frau Thomas. Machen Sie sich einen schönen Abend und keine Sorgen! Ich habe das eine oder andere As im Ärmel. Viel Spaß!«
Kam es mir nur so vor, oder schob sie mich geradezu über die Schwelle? »Na gut, um halb zwölf bin ich wieder zurück. Spätestens!«
Doch Pilar hatte die Wohnungstür schon hinter mir geschlossen. Auf in die eigene Vergangenheit!
Die Phoenix Lounge hatte sich nicht verändert, und ich fühlte mich sofort wieder heimisch. Ich sah das vertraute Dekor, den langen Tresen vor der rechten Wand des Lokals, die alten Tische und Bänke im hinteren Teil des Gastraums. Dann stockte mir der Atem. Hinten, in unserer alten Ecke, saß er. Quinn hatte mich noch nicht bemerkt, er las ein Buch.
Unzählige Male hatte ich ihn dort sitzen sehen, wenn ich mal wieder spät dran war, weil ich mit einer Kundin noch ins Schwärmen über den großartigen ersten Roman von Noëlle Chatelet geraten war, der gerade in deutscher Übersetzung erschienen war, oder mit jemand anderem die düsteren Bilder in Léo Malets Schwarzer Trilogie bewundert hatte.
Quinn war älter geworden, was nicht überraschend war. Doch Quintus Hartmann, Buchladenbesitzer, passionierter Buchkonsument und meine erste ganz große Liebe, sah immer noch ausgesprochen gut aus. Der braune Lockenschopf war einem modernen Kurzhaarschnitt mit graumelierten Schläfen gewichen. Er hatte seine athletische Figur nicht eingebüßt. Ob er immer noch Aikido trainierte? Er trug ein Twillhemd in Hellblau, eine Farbe, die, wie ich mich plötzlich erinnerte, ihm furchtbar gut stand, dazu eine dunkelbraune Canvashose und passende dunkle leichte Sommerschuhe. Er hatte sich kaum verändert. Dieser Stil hatte mir damals schon so gut gefallen. Was würde er nur denken, wenn er mich sähe?
Ich war kurz davor, mich umzudrehen und die Verabredung platzen zu lassen, da blickte er hoch und sah mir direkt in die Augen. Einen Moment lang dachte ich, meine Knie würden nachgeben. Quinn hatte noch immer diesen eindringlichen Blick. Seine Augen waren dunkelbraun, am Rande der Iris wurden sie golden. Wenn wir uns geliebt hatten, hatten sie die Farbe von dunkler Schokolade angenommen. Zusammen mit seinem Lausbubengrinsen hatten sie ihn unwiderstehlich gemacht.
Quinn erhob sich. Er lächelte, hatte einen suchenden Ausdruck im Gesicht und kam um den Tisch herum auf mich zu. Als er mich umarmte, hatte ich auf der Stelle gewaltige Orientierungsprobleme. Eine Flut von Erinnerungen stürzte auf mich ein. Die meisten davon waren nicht jugendfreier Natur. Parbleu! Was hatten wir für phantastischen Sex gehabt! Wie hatte ich den nur vergessen können?
Quinn löste die Umarmung und betrachtete mich eine Armeslänge von sich gestreckt. »Catia, du siehst toll aus!«
Ich glaubte ihm kein Wort. Drei Kinder und eine gescheiterte Ehe hatten deutliche Spuren hinterlassen. Nicht zu meinem Vorteil, wie ich meine Mutter in meinem Hinterkopf zischen hörte. Ich winkte ab. »Danke. Können wir uns setzen?«
Quinn schaute überrascht und wartete, bis ich saß, bevor er selbst wieder Platz nahm und der Bedienung winkte. Als die an unseren Tisch trat, zögerte er kurz und blickte zu mir. »Das Gleiche wie früher?«
Wie früher … Da hatten wir eimerweise Applejack Sour getrunken – Calvados, Zitronensaft, Zuckersirup und Sodawasser eisgekühlt –, wenn wir auf private Partys gegangen oder uns die Nacht in einem Club um die Ohren geschlagen hatten. Ich hatte diesen Drink seit fünfzehn Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Das machte mich traurig, denn ich hatte mir auch fünfzehn Jahre lang die Nächte nicht mehr so um die Ohren geschlagen. Ich nickte wortlos.
Quinn bestellte zwei Applejacks und zeigte auf sein Buch. »Erinnerst du dich? Das hast du mir damals vorgelesen, nachdem wir zusammengezogen waren.«
Richard Katz’ Von Hund zu Hund. Der Briefwechsel zwischen einem Boxerrüden, dessen Herrchen in Brasilien lebte, und einem Rauhhaardackel mit Frauchen in der Schweiz. Beide Hundebesitzer waren den üblichen Austausch von Nichtigkeiten leid und überließen die Korrespondenz ihren Hunden, die sich amüsant über ihre Menschen austauschten. Ein dicker Kloß in meinem Hals machte es mir unmöglich, etwas zu sagen, also nickte ich nur wieder stumm und schaute zur Bar. Wo blieb bloß mon vieux ami Jacques, wie wir den Cocktail lachend zu nennen pflegten?
»Ich habe das Buch sehr oft gelesen, ich kann es fast auswendig. Du hast es bei mir vergessen, als du damals Hals über Kopf auszogst.« Wieder schaute Quinn mich an.
Moment mal, hatte ich richtig gehört? Hatte er gerade behauptet, ich sei »Hals über Kopf ausgezogen«? Meine tracheale Blockade löste sich augenblicklich und machte Platz für ein wenig Galle auf ihrem Weg nach oben. So war es ja nun wahrlich nicht abgelaufen!
»Quinn, du konntest es doch gar nicht erwarten, mich loszuwerden! Du konntest mich ja nicht mal mehr ansehen, und kein Wort hast du mehr zu mir gesagt. Ich bin wohl kaum ›Hals über Kopf ausgezogen‹! Ich hatte einen ganzen Tag lang durchgeheult, und als du am nächsten Tag und den beiden folgenden auch nicht mit mir sprachst …«
Mir ging die Puste aus. Ich konnte mich auch nach all den Jahren deutlich an meine tiefe Enttäuschung und meine Verzweiflung erinnern. Was machte ich eigentlich hier? Was für eine idiotische Idee, mich mit Quinn zu treffen! Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen, so ein Trip in die Vergangenheit verlief immer enttäuschend. Dieser, zugegeben, wirklich attraktive Mann hatte mich tief verletzt, und nun saß ich hier, um mir einen Nachschlag zu holen? Hatten denn die letzten neun Monate nicht an Demütigung gereicht? Herrje, mein ganzes Leben war eine Demütigung. Würde ich wirklich nie dazulernen? Der große, hässliche Jammerlappen schickte sich an, sich über meinem Gemüt auszubreiten. Es war wirklich höchste Zeit, mich von der Opferrolle zu befreien! Ich mobilisierte den Widerstand und funkelte Quinn böse an.
Der sah aus, als hätte ich ihn geohrfeigt. Dann schüttelte er traurig den Kopf. »Lass uns nicht streiten, Catia, bitte! Ich hab mich damals wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, aber glaub mir«, sein Blick drang bis in mein tiefstes Inneres, »ich wollte nie, dass du gehst.«
Was sollte ich dazu sagen? Wir schwiegen. Das war kein guter Auftakt.
Die Bedienung hatte uns die Speisekarte gereicht, und ich sah mir das Angebot an. Gebackener Camembert mit Preiselbeeren. Auch das hatte ich anderthalb Jahrzehnte nicht mehr genossen. Würde ich heute Abend aber auch nicht, das Zeug war reines Hüftgold! Salate beraubten mich beim Essen meines letzten Restes an Dekorum, der mit gebratener Hühnerbrust fiel also auch durch. Ich entschied mich für Penne all’arrabbiata und schickte ein Stoßgebet an Lukullus, er möge mich vor Tomatenflecken bewahren – der war zwar kein Gott, sondern nur Feldherr, aber er verstand eine Menge von üppigem Essen und war somit mein bester Ansprechpartner. Quinn nahm einen Burger mit Kartoffelecken und einer Extraportion Coleslaw.
»Ich habe gesehen, dass du immer noch den Buchladen hast«, versuchte ich den Beginn eines neutralen Gesprächs.
Quinn schluckte seinen Bissen hinunter und spülte mit Bier nach. »Wieder. Ich führe ihn wieder. Ich war zwölf Jahre lang in Irland und hatte den Buchladen deinem Nachfolger überlassen.«
»Irland? Was hat dich denn nach Irland verschlagen?«
Quinn hatte gerade wieder in seinen Burger gebissen, so dass die Antwort ein wenig auf sich warten ließ. Er hatte den Laden aufgegeben und war nach Irland gezogen? Noch mehr als dieser Umstand überraschte mich seine Antwort auf meine Frage. Wenig positiv allerdings.
»Meine Frau. Aileen ist Irin, und ich beschloss zum Millenniumswechsel, ihr auf die grüne Insel zu folgen. Das goldene Zeitalter des keltischen Tigers war in vollem Gange. Ich dachte, es sei eine gute Zeit für einen Neuanfang.«
Aus einem mir unerklärlichen Grund war ich konsterniert. Eine Irin? »Du bist mit einer Irin verheiratet?« Meine Frage klang sicherlich nicht besonders intelligent.
Quinn zuckte mit den Schultern. »Ja. Aileen kam in den Buchladen, das muss in der Woche gewesen sein, nachdem du gegangen warst. Sie suchte einen Reiseführer für Berlin. Aileen verbrachte ein Gastsemester an der TU, sie hat einen Abschluss in Geophysik. Wir kamen ins Gespräch, ich empfahl ihr ein Buch, und wir verabredeten uns. Dann feierten wir den Jahrtausendwechsel zusammen – mit einer Million anderer Partygänger vor dem Brandenburger Tor. Da fragte sie mich, ob ich sie nach Dublin begleiten würde.« Er legte seine Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben. »Ich hatte feststellen müssen, dass mich in Berlin nichts mehr hielt. Den Laden überließ ich zunächst dem neuen Geschäftsführer. Aileen und ich heirateten noch im Februar 2000. Im Mai darauf lebte ich bereits in Dublin.«
Tu es nicht, sagte ich mir, frag ihn nicht! Doch ich fragte ihn: »Habt ihr Kinder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben keine Kinder.«
Das hatte ihm sicher gut in den Kram gepasst, dachte ich. Aileen allerdings tat mir leid. Falls sie sich überhaupt Kinder gewünscht hatte. Vielleicht hatte sie ja aber auch Quinns Einstellung zu diesem Thema geteilt und hätte sich sowieso keineswegs ihre vermutlich aberwitzig gute Figur ruinieren wollen. Was ging mich diese Aileen eigentlich an? »Und warum seid ihr nach Berlin zurückgekehrt?«, fragte ich dennoch.
»Ich bin alleine zurückgekommen. Wir haben uns getrennt, und dann hielt mich wiederum nichts mehr in Dublin. Irland ist ein atemberaubendes Land, aber ich konnte einfach keine richtigen Wurzeln dort schlagen. Ich hatte dort auch einen Buchladen, mit einer deutschsprachigen Abteilung, versteht sich. Aber das war mehr ein Hobby, der Laden lief nicht so gut. Mir fehlte dann sehr bald der intellektuelle Austausch. Mein Englisch wurde zwar nach ein paar Jahren ganz passabel, aber Aileens Freundeskreis bestand nur aus Wissenschaftlern – Physikern, Chemikern, Geologen. Ein sehr eigener Menschenschlag, fand ich. Sie schienen mir zu nüchtern, ich verstand ihren Humor überhaupt nicht und sie den meinen nicht. Dann begannen Aileen und ich, mehr und mehr zu streiten und getrennte Wege zu gehen. Vor zwei Jahren zog ich die Reißleine und kam nach Berlin zurück.«
Nun gut, da gab es sicherlich auch noch einen ausgedehnten Mittelteil, aber ich bezweifelte, dass der die Geschichte besser machen würde. »Das tut mir leid für dich.« Das war nicht einmal gelogen, denn ich wusste ja, wie furchtbar man sich fühlen konnte nach einer Trennung.
Quinn legte seine Hand auf meine. Sie war warm, aber gerade nicht weich genug, um sich angenehm männlich anzufühlen. Trotz seiner feingeistigen Art war er in der Lage gewesen, die meisten praktischen Dinge in seinem Umfeld selbst zu erledigen, von der Reparatur des tropfenden Wasserhahns oder der defekten Deckenbeleuchtung bis hin zum Ein- und Aufbau seiner Küche. Ich erinnerte mich für einen kurzen Moment lang daran, wie ich seine Hände auf meiner Haut genossen hatte. Nur ein kräftiger Schluck von meinem alten Freund Jacques verhinderte, dass ich diesem Gedankenpfad folgte. Ein wenig rot wurde ich dennoch.
»Das ist lieb von dir«, sagte Quinn mit seinem strahlenden Lächeln, das ein wenig traurig wirkte. »Aber erzähl doch mal! Was ist bei dir los? Warum brauchst du Stefans Hilfe? Lässt du dich etwa scheiden?«
Täuschte ich mich, oder leuchteten seine Augen bei dieser Frage? Den Eindruck vermittelte vermutlich nur das Flackern der Kerze auf unserem Tisch, aber der Gedanke gefiel mir.
Ich hatte eine schöne Rede vorbereitet, mit der die Ereignisse der letzten Monate souverän und objektiv beschrieben werden sollten. Was ich dann aber rausblökte, war: »Ja, Hanno hat mich gegen ein neueres Modell eingetauscht. Eine langbeinige, rassige Polin. Er hat uns das Haus unter dem Hintern wegverkauft, und jetzt will er die Scheidung. So schnell wie möglich.«
Quinn pfiff leise durch die Zähne. »Das ist hart. Ihr habt doch sicher Kinder?«
Ich nickte. »Ja, drei. Helene ist dreizehn, Vincent zehn und Daniel sieben. Wir waren die verdammte Toffifee-Familie. Es hat nur der Hund gefehlt.«
»Aber das wolltest du doch. Du wolltest doch eine Familie …«
»Natürlich wollte ich eine Familie! Aber keinen Ehemann dazu, der meint, mich mit vierzig mit den Kindern sitzenlassen zu müssen, um sich eine viel jüngere Frau zu angeln und mir dann auch noch die Kinder wegzunehmen. Was ich wollte, war eine glückliche Familie. Mit einem Vater, der sich um seine Kinder kümmert und der mit mir alt wird, der mich auch mit Falten noch schön findet.« Ich schnaubte verächtlich. »Als er ging, sagte er mir, ich hätte mich gehenlassen und er brauche eine junge, dynamische Frau an seiner Seite. Nett, was?«
»Autsch!«, kommentierte Quinn und verzog das Gesicht. »Das ist bitter.« Dann schaute er mich an, sein Blick schien mein Gesicht zu streicheln. »Catia, der Mann ist ein Esel. Und ein blinder obendrein. Ich finde dich genauso schön wie damals. Schöner sogar, deine Ausstrahlung ist noch viel stärker als früher …«
Flirtete er etwa mit mir? Es war verwirrend, mit ihm an einem Tisch zu sitzen und meine Nöte vor ihm auszubreiten. Gleichzeitig spürte ich die alte Nähe, die gewohnte Vertrautheit wiederaufkommen, die vor all den Jahren zwischen uns existiert hatte. Und die in einem einzigen Moment durch meine Bemerkung wie eine Seifenblase zerplatzt war. Das durfte ich nicht vergessen! Vermutlich war mir der Calvados bereits mehr zu Kopf gestiegen, als ich mir eingestehen wollte.
Im weiteren Gespräch versuchten wir, die letzten fünfzehn Jahre möglichst unbefangen Revue passieren zu lassen. Dabei blickten wir uns mehr als einmal tiefer in die Augen. Irgendwann sah ich auf die Uhr und stellte mit Entsetzen fest, dass es bereits elf war. Ich wollte doch um halb zwölf zu Hause sein! Mit dem Bus würde das nichts mehr werden, und für ein Taxi hatte ich eigentlich kein Geld, verdammt! »Quinn, ich muss ganz dringend los, es tut mir leid! Ich muss den Babysitter ablösen. Das schaffe ich gar nicht mehr mit dem Bus. Ich werde mir ein Taxi rufen.«
Quinn winkte der Bedienung und bat sie, ihm die Rechnung zu bringen. »Lass mal! Ich fahre dich nach Hause. Ein Jacques, das geht schon, das Bier war alkoholfrei. Wo wohnst du denn jetzt?«
»In Zehlendorf-Mitte, gleich hinter der Dorfkirche. Das wäre echt riesig von dir, dann bin ich noch pünktlich.«
Wir verließen die Phoenix Lounge und liefen ein kleines Stück die Straße hinunter. Dann standen wir vor seinem alten silbergrauen Citroën DS – der Göttin. Ich stieß einen verhaltenen Freudenschrei aus. »Du hast sie immer noch? La Déesse – wie großartig!«
Ich hatte dieses Auto geliebt, genau wie die Touren ins Brandenburger Umland, die wir mit dem Wagen so oft gemacht hatten. Ich ließ mich in den Beifahrersitz hinabgleiten und genoss die Fahrt nach Hause.
Eine Viertelstunde später hielt Quinn in der Einfahrt neben dem kleinen leerstehenden Ladengeschäft im Erdgeschoss unseres Hauses. Er schaute die Straße hinunter in Richtung Zehlendorf Eiche und dann mich an. Wieder schien eine Frage in seinem Blick zu liegen, die er nicht stellte.
»Ich würde dich noch hereinbitten, Quinn«, druckste ich herum, »aber es ist schon sehr spät … Ich muss morgen wieder früh raus … Und die Kinder …«
»Das ist schon in Ordnung.« Er schaute kurz auf seine Schuhe, dann auf die Straße und dann direkt in meine Augen. »Ich würde dich aber gerne wiedersehen. Vielleicht gehen wir am Freitag noch einmal essen? Nach einem Kinobesuch? Oder am Sonnabend?«
Ich war überrascht. Eine zweite Verabredung mit Quinn wäre ein richtiges Date. Oder hatten sich die Spielregeln geändert, seit ich das Feld verlassen hatte? Andererseits, was sollte es? Jetzt war die Zeitrechnung n. H., nach Hanno, und ich war niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Es war höchste Zeit, mich daran zu gewöhnen und das Beste daraus zu machen. Außerdem tat Ablenkung not, wie Astrid mir immer wieder ans Herz legte – ich solle mich mehr »draußen tummeln«, wie sie es nannte. Mich »tummeln« kam nicht in Frage. Ich war schließlich gar nicht auf der Suche nach einem neuen Mann. Aber wenn aus dieser alten Liebe eine Freundschaft werden könnte, wäre das doch gerade jetzt sehr angenehm. Was versuchst du dir denn gerade schönzureden?, hörte ich Astrid leise kichern. Bevor sich weitere Stimmen dazugesellten, traf ich eine Entscheidung.
»Gerne«, antwortete ich. »Ich gehe gerne wieder mal mit dir aus, Quinn. Freitagabend passt mir gut.«
Quinn Hartmann strahlte mich an. Und beim Teutates – was sah dieses Strahlen immer noch »übelst krass sexy« aus!