Читать книгу Wer die Lüge kennt - Beate Vera - Страница 10
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ОглавлениеMerve Celiks Stimme klang wie die eines weiblichen Tom Waits, dabei spielte sie nie Klavier in verrauchten Bars und trank auch keinen Bourbon. Das heisere Timbre der ehemaligen Beamtin des LKA 1 hatte schon für manch eine Überraschung gesorgt, wenn sie ihrem Gesprächspartner nach einem Telefonat erstmals persönlich gegenübergestanden hatte. Die Stimme passte einfach nicht zu der zierlichen Frau, deren schwarze Lockenmähne oft genug schon allein dazu führte, dass Männer aus dem Konzept kamen, wenn sie sie sahen.
»Hallo, Merve, ich bin’s.«
»Martin! Sag mir, dass wir etwas zu tun haben! Ich flehe dich an! Ich befinde mich in der Mein-Kleines-Pony-Hölle! Wenn ich noch eine Mähne bürsten muss, drehe ich durch. Günay hat eine ganze Koppel voll, und sie sind alle pink und lila und glitzern.« Sie seufzte resigniert.
Glander lachte. Merves Nichten Günay und Gülsen wohnten mit ihrer Mutter, Merves älterer Schwester Sevgi, ebenfalls seit Kurzem in einem Haus im Dürener Weg, das Lea ihnen vermittelt hatte. Sevgi hatte im vergangenen Jahr einen lebensbedrohlichen Angriff ihres Ehemanns überlebt, und das Haus glich nun einem Hochsicherheitstrakt. Alle Türen und Fenster konnten mit Rollläden aus stranggepresstem Aluminium verriegelt werden, und Sevgi trug einen Notrufknopf, der ein Signal an Merves Handy schickte, wenn sie ihn betätigte. Obwohl ihr Ex-Mann bis zum Prozess im März in Untersuchungshaft saß und es unwahrscheinlich war, dass seine Freunde sie in dieser Gegend vermuteten, wollte sie für den Fall der Fälle gewappnet sein. Falls Merve einmal nicht in der Stadt war, leitete sie das Notsignal auf das Handy von Glander um. Dem waren Merves Schwester und deren Töchter in den vergangenen Wochen stark ans Herz gewachsen. Auch ihrerseits hatten die beiden Mädchen und ihre Mutter Vertrauen zu ihm gefasst. Manchmal war ihm mulmig bei einer so großen Verantwortung, doch meistens freute er sich vorbehaltlos über diese unerwartete Bereicherung seines Lebens.
Glander fragte Merve süffisant, ob sie auch wirklich entbehrlich sei auf dem Glitzerponyhof ihrer Nichte, damit sie sich mit Thomas Hartmann treffen könne. Erklärend fügte er hinzu: »Er hat einen Fall für uns. Zwei tote obdachlose Frauen im Bezirk. Eine von ihnen wurde an unserem Bahnhof gefunden. Er geht von einem Serientäter aus, der es gezielt auf wohnungslose Frauen abgesehen hat. Prinz ermittelt, weshalb ich denke, dass die Polizei den Täter nicht so schnell ausfindig machen wird und wir den Fall übernehmen sollten.«
Merve schnaubte verächtlich. Sie hatte die letzten sechs ihrer acht Jahre beim LKA unter Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz arbeiten müssen. Und während der sich ein recht gemütliches Leben hinter großen Kaffeetassen und Bergen von Papier gemacht hatte, hatte sie sich die Hacken wund gelaufen und die Finger blutig getippt. Sie allein hatte Angehörige informiert, war Hinweisen nachgegangen, hatte Informanten befragt, das Team koordiniert und die Fälle letztendlich gelöst. Merve Celik hatte keine hohe Meinung von ihrem ehemaligen Vorgesetzten und rupfte nur zu gerne das eine oder andere Hühnchen mit ihm, sobald sich eine Gelegenheit ergab.
»Mit dem allergrößten Vergnügen, Martin! Die Prinzenrolle überlässt die Ermittlungen ohnehin Fellner. Und der schiebt nur noch Dienst nach Plan, bis seine Zwillinge aus dem Gröbsten raus sind – falls er überhaupt bleibt. Der ist ein Vollblutpapa, der wird seines Lebens bei der Mordkommission nicht mehr froh. Jede Wette, dass er bald Innendienst in der Gothaer macht. Was weißt du denn bislang über die Toten?«
In der Gothaer Straße befand sich das LKA 2, Abteilung für Betrugsstraftaten. Glander teilte Merves Einschätzung. Die Zeiten änderten sich. Auch wenn es vielen Arbeitgebern ein Dorn im Auge war – immer mehr Väter wollten miterleben, wie ihre Kinder groß wurden. Als Beamter hatte man da durchaus Vorteile. Und diese würde Harald Fellner die nächsten Wochen nutzen, um sich von der Mordkommission in eine Abteilung versetzen zu lassen, die ihm geregelte Arbeitszeiten, womöglich sogar die Möglichkeit zu Teilzeitarbeit bot.
»Noch nicht viel«, antwortete Glander. »Eine ältere Obdachlose wurde vor zwei Wochen am Bahnhof Lichterfelde Ost aufgefunden, sie wurde erstochen und ihr Leichnam die S-Bahn-Böschung hinuntergeworfen. Die zweite Tote hat man heute Morgen an dem Platz entdeckt, an den sie sich jeden Abend zurückzog. Sie wurde ebenfalls erstochen. Kannst du als Erstes herausfinden, wer die Obduktion übernimmt und wann die stattfindet? Und mach dir bitte Gedanken darüber, ob du ein paar Tage draußen leben kannst. Ich denke, es gibt keinen anderen Weg, um etwas von den obdachlosen Frauen zu erfahren.«
Merve schnaubte gespielt verächtlich. »Mit der Ayshe kann man’s ja machen: sie bei diesem Scheißwetter auf die Straße ziehen lassen … Ich wusste, dieses Emanzipationsgedöns fällt mir irgendwann auf die Füße.« Glander konnte ihr Grinsen förmlich hören. Dann wurde sie ernst. »Ich bin in einer halben Stunde bei euch drüben, und du kannst mir alles Weitere erzählen.«
Glander schüttelte lächelnd den Kopf und beendete das Telefonat. An der Kreuzung zur Wismarer Straße stand er wie immer eine längere Zeit an der Ampel und schickte Thomas Hartmann schnell eine SMS. Er wollte gegen sieben Uhr mit Merve bei ihm sein. Dann überquerte er den Teltowkanal und bog keine zehn Minuten später in den Dürener Weg ein.
Hier sah es aus wie immer: Zeilen mit kleinen, quaderförmigen Reihenhäusern zur Rechten und zur Linken der schmalen, mit Rabatten und hohen Bäumen gesäumten Straße. Das Viertel war in den Sechzigerjahren gebaut worden, und das merkte man ihm an. Gehwegplatten lagen schief, von den Wurzeln der alten Bäume hochgedrückt, an vielen Garagenwänden bröckelte der Putz, und die Gemeinschaftsflächen wurden seit Jahren nur noch notdürftig instand gehalten. Früher hatten sich die Eigentümer selbst um die an ihr Grundstück grenzenden Grünflächen gekümmert. Doch nachdem es zwischen einigen Besitzern zum Zwist über die gemeinsamen Wasseranschlüsse gekommen war, waren diese gekappt worden. Seitdem fühlte sich bis auf wenige Ausnahmen niemand mehr bemüßigt, Wässerung und Pflege der öffentlichen Beete aus eigener Tasche zu finanzieren. Die ausgedünnten Grünanlagen verliehen der Siedlung nun einen eher schmucklosen Eindruck, den auch die bunten Häuserfassaden nicht auflockern konnten. Lea hatte Glander einmal Fotos aus der Anfangszeit der Siedlung gezeigt, als die einzelnen Häuserriegel farblich einem durchdachten Konzept folgten und ein elegantes Bild in Karminrot, Anthrazit und Weiß abgegeben hatten. Niemand wusste mehr, wer wann als Erster sein Haus in einer anderen Farbe gestrichen hatte. Doch bis auf wenige Ausnahmen waren alle Eigentümer nachgezogen und hatten an dem Kessel Buntes mitgewirkt, der sich Glanders Augen nun bot.
Leas Haus verfügte über einen großen Garten, trotz des nachträglich angebauten Wintergartens. Lea hatte das Haus von ihrem Mann geerbt, einem Architekten, dem es wiederum dessen Großmutter hinterlassen hatte.
Glander parkte seinen Audi hinter der rostigen Huddel von Korbinian Schulz – wie Schmalz am Ende, fügte dieser stets hinzu, wenn er sich vorstellte. Schulz war ihr Nachbar aus dem Haus am Anfang der Zeile. Glander lachte kurz auf, als er den neuen Schriftzug auf Schulz’ Heckscheibe las: Keine Kinder mit bescheuerten Vornamen on board.
Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, begrüßte ihn Talisker. Glander konnte sich gerade noch rechtzeitig an der Wand abstützen, um nicht von dem kräftigen Jagdhund umgerissen zu werden. Talisker parierte exzellent und hätte keinen Menschen einfach so angesprungen, aber allein sein Schwanzwedeln war so gewaltig, dass man sich davor in Acht nehmen musste. »Hey, Digger, das nenne ich mal eine Begrüßung! Wo ist Lea?«, fragte Glander den Hund und knuddelte ihn.
Bei der Erwähnung des Namens seines Frauchens drehte sich Talisker um und schickte sich an, die Treppe hinaufzulaufen. Auf der dritten Stufe drehte er sich erneut um und schaute Glander so an, als fordere er ihn auf, ihm zu folgen.
Glander sah sich im Schlafzimmer um. Im Sommer hatte Lea renovieren müssen und dabei auch ihr altes Ehebett ausgetauscht, wofür Glander ihr überaus dankbar war. Das neue Kingsize-Bett aus grau geöltem Sheesham-Holz, das ein kleines Vermögen gekostet hatte, stand nun schräg im Zimmer. Die ursprünglich hellblauen Wände hatte Lea in einem hellen Grau streichen lassen. Der Holzboden war abgeschliffen und weiß geölt und der alte Squint-Wing-Sessel mit einem neuen Stoff mit Distel-Motiv, der schottischen Nationalpflanze, gepolstert. Zu seiner Rechten sorgte eine hängende, üppig wachsende Grünlilie für besseres Raumklima, zu seiner Linken stand eine Designerbogenlampe. An der Wand zum kleinen Ankleidezimmer hingen Drucke von Samuel Peploe und Francis Cadell, zwei der vier schottischen Koloristen, die Eindrücke von der Insel Iona eingefangen hatten. Der Raum vermittelte Ruhe, und Glander fand in ihm so guten Schlaf wie kaum irgendwo anders.
Lea lag auf dem Rücken im Bett, ihre Arme und Beine von sich gestreckt, um sie herum einige Bücher und lose Papiere, die anscheinend aus einem geöffneten Aktenordner am Fußende des Betts stammten. So schlief sie nur, wenn sie erschöpft war. Glander hoffte, sie würde nicht wieder krank werden. Im Dezember hatte sie eine Grippe abwehren können, die sich dann allerdings Anfang Januar umso heftiger wiedergemeldet hatte. Lea war erst seit Kurzem wieder auf den Beinen, und Glander merkte ihr die Schwäche noch an. Sie war erheblich stiller als üblich. Normalerweise quasselte sie bei ihren Lieblingsthemen wie ein Wasserfall. Und Glander genoss es, ihr zuzuhören und sie zu beobachten, wenn sie sich über etwas besonders freute oder in Rage redete. Er hatte noch nie so für eine Frau empfunden, und ihm war unterschwellig bewusst, dass er auch nie wieder so für eine andere Frau empfinden würde. Er war auch nicht scharf darauf. Er wünschte sich inständig, mit Lea alt zu werden. Er hatte sich sogar schon bei dem Gedanken an ein gemeinsames Kind ertappt. Zwar hatte er den erschrocken wieder verdrängt, aber es war das erste Mal gewesen, dass er überhaupt einen derartigen Gedanken gehegt hatte. Lea und Glander waren beide nicht mehr die Jüngsten, doch heutzutage hatte das nichts mehr zu bedeuten.
Glander betrachtete die schlafende Lea voller Sorge und Zärtlichkeit. Leas Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie knapp zwölf Jahre alt gewesen war. Die darauffolgenden Jahre hatte sie bei ihrer Tante Patricia »Patty« in Schottland gelebt. Sie hatte dort ihren Schulabschluss gemacht, studiert und dann die Ausbildung zur Simultandolmetscherin absolviert. Lea hatte Duncans Vater kennengelernt, war recht schnell schwanger geworden und mit ihm zurück nach Berlin in das Haus von Marks Großmutter gezogen, das sie beide aufwendig und mit viel Liebe zum Detail umgebaut hatten. Dann war Mark im vorletzten Jahr an Krebs verstorben, und Duncan war zum Studium nach Kassel gegangen. Als Lea sich gerade mit dem Alleinleben arrangiert hatte, war Glander in ihr Leben getreten – und hatte einiges in ihm durcheinandergebracht.
Lea schien die Ereignisse rund um Glanders letzte Mordermittlungen gut verkraftet zu haben. Doch Glander war zu viele Jahre leitender Kripobeamter gewesen, um nicht zu wissen, dass Gewalt Spuren in der Psyche von Menschen hinterließ, die mit ihr in Berührung kamen. Er hatte mit vielen Opfern und Angehörigen zu tun gehabt, die erst Monate später von den Dingen eingeholt worden waren, die ihnen oder ihren Lieben widerfahren waren. Lea verfügte über gute Grundlagen in Psychologie – sie hatte erst vor Kurzem eine Gasthörerschaft an der Freien Universität in forensischer Psychologie belegt und nahm die Fachstudien sehr ernst –, und sie besaß gutes seelisches Rüstzeug, dennoch sorgte sich Glander um sie.
Sie war eine schöne Frau, auf eine ganz eigene Art, und sie war anders als die Frauen, mit denen Glander bislang Beziehungen eingegangen war. Er war selbst immer wieder überrascht, dass sie nun Teil seines Lebens war.
Leas langes kastanienbraunes Haar hatte sich aus ihrem Haargummi gelöst. Glanders Blick streifte die geschwungene Narbe, die das Messer des Wahnsinnigen im vergangenen Sommer auf Leas linkem Oberarm hinterlassen hatte und die nun langsam verblasste. Sie zog sich wie eine Welle von Leas Schulter bis zu ihrem Ellenbogen und war eine bleibende Erinnerung an Glanders schwersten Ermittlungsfehler. Lea betrachtete ihre Narbe weitaus pragmatischer. Für sie stellte sie ein Mahnmal ihrer Verwundbarkeit dar. Sie nahm die Erinnerung an die Hilflosigkeit, die sie durchlitten hatte, als der Mörder ihrer Nachbarn sie bedroht hatte, als stete Motivation für das Kampfsporttraining, das sie seit dem Herbst mit Merve absolvierte. Lea hatte sich mit Merve und Verve, wie sie es lachend beschrieb, in diese neue Aktivität gestürzt und schon beachtliche Fortschritte gemacht. Als Langstreckenläuferin verfügte sie zwar über eine ausgesprochen gute Grundkondition, die neuen Bewegungsabläufe brachten sie dennoch jedes Mal an die Grenze ihrer Fitness. Sie trainierte mit demselben großen Eifer und derselben Begeisterung, mit der sie alles anging, was ihr wichtig war.
Glander liebte es, Zeit mit Lea zu verbringen. Wenn sie lachte, strahlten ihre graugrünen Augen. Er mochte die beiden Fältchen, die rechts und links ihrer Nasenwurzel auftraten, wenn sie sich ärgerte oder konzentrierte, und konnte von ihrer weichen Haut nicht genug bekommen. Ihr Duft und der kehlige Klang ihrer Stimme, wenn sie sich liebten, nahmen ihm den Atem. Glander war bis über beide Ohren verliebt, und er würde jeden Menschen, der Lea schaden wollte, ohne zu zögern aus dem Weg schaffen. Für diese Frau würde er alle Grenzen überschreiten.
Die Türglocke unterbrach Glanders Gedankengang. Er stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Vor ihm stand ein Unbekannter, der etwa einen halben Kopf größer war als er selbst und ihn zunächst überrascht, dann feindselig und schließlich lächelnd ansah. Sein Mienenspiel dauerte nur ein paar Sekunden und wäre jedem entgangen, der nicht so viel Erfahrung wie Glander im Deuten der Körpersprache besaß. Talisker, der neben Glander auftauchte, zog den Kopf ein. Glander teilte die spontane Aversion des Hundes, fragte den Fremden aber dennoch freundlich, wie er ihm helfen könne.
Der Mann grinste schief und erwiderte etwas auf Englisch. Zumindest nahm Glander an, dass es Englisch war, denn er verstand kaum ein Wort. Sein Englisch war eigentlich ganz passabel, doch das hier klang eher nach Klingonisch. Glander vermutete, dass sich der Mann nach Lea erkundigte, und teilte ihm in seinem besten Oxford-Englisch mit, dass sie schliefe.
Der Unbekannte war enttäuscht, das war nicht zu übersehen, und er fragte wohl, ob man Lea nicht wecken könne. Er entnahm einem ledernen Etui eine Visitenkarte und reichte sie Glander: Detective Chief Superintendent Connor Fraser, West Command, Greater Glasgow stand darauf zwischen dem Logo der schottischen Kripobehörde und einer schottischen Festnetznummer, einer Mobilnummer und einer E-Mail-Adresse.
Was hatte Lea mit diesem schottischen Kriminalkommissar zu tun? Und warum suchte der sie zu Hause auf? Die Tagung begann doch erst am Montag. Während Glander noch überlegte, rempelte ihn Talisker an. Der Hund hatte sich umgedreht, um Lea zu begrüßen, die gerade die Treppe herunterkam.
Durch ihr weißes Rippshirt war deutlich erkennbar, dass es sie fröstelte. Sie zog ihre lange graue Wollstrickjacke fester um sich, strich sich mit der linken Hand ihre Haare aus dem blassen Gesicht und kreuzte die Arme vor der Brust. »Sorry, Martin, ich bin glatt über den Tagungspapieren eingeschlafen. Wer ist es denn?« Dann fiel ihr Blick auf den Mann im Türrahmen, und ihr Gesicht verlor seine Farbe.