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Celsius, Réaumur und Fahrenheit – nach diesen berühmten Physikern waren die Straßen benannt, durch die Jeanny lief. Auf dem Weg zum S-Bahnhof Lichterfelde Süd hatte sie in der Thermometersiedlung, wie die Ansammlung von Hochhäusern im Süden Berlins salopp genannt wurde, eine Kippe geschnorrt. Sie zog heftig daran. Fuck! Es war richtig kalt hier draußen morgens um sieben Uhr. Und es würde auch tagsüber nicht wärmer werden. Sie würde wieder irgendwo unterkommen müssen.

Jeanny stieg die Bahnunterführung hinab und fand endlich ihre viel ältere Freundin. Greta saß in der Mitte des kleinen Tunnels auf einer Pappe, die sie vor dem kalten Boden schützen sollte, und lehnte an der Wand. Aber sie reagierte nicht, als Jeanny sie ansprach. Gretas Augen – für Jeanny stets die lustigsten Augen der Welt, denn sie wirkten immer so, als dachte ihre Freundin an etwas, das sie amüsierte – blickten starr geradeaus. Dann begriff Jeanny, dass Greta tot war.

Sie betrachtete die Ältere eine Weile. Scheiße, Greta! Sie nahm das gefrorene Blut auf Gretas tarngrüner Winterjacke wahr. Ihre Freundin hatte es endlich hinter sich und würde nie wieder frieren müssen. Der Gedanke war auch ein bisschen tröstlich, fand Jeanny. Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und schnippte sie achtlos gegen die Wand. Der kalte Wind hatte eine Strähne des dunklen langen Haares über Gretas Gesicht geweht. Eine abgeknickte Ecke der Pappe, auf der die Tote saß, bewegte sich auf und ab. Jeanny drehte sich um und lief durch die Unterführung zurück zu den Häuserfluchten der Brennpunktsiedlung.

Lea Storm betrachtete das Schattenspiel an ihrer Schlafzimmerdecke und seufzte wohlig, die Haut von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Ihr Körper fühlte sich an wie Götterspeise. Lea musste grinsen. Sie war eigentlich nicht prüde, aber bei dem Gedanken an den soeben vollzogenen Akt errötete sie bis in die Haarspitzen. Jetzt waren sie schon etwas über ein halbes Jahr zusammen, doch der Sex war nach wie vor unfassbar gut. Sie bekamen einfach nicht genug voneinander. Morgens, abends, nachmittags, mitten in der Nacht – wann immer ihnen danach war. Es war fantastisch.

Lea hatte größte Mühe, sich aus den warmen Laken zu schälen, die ihr übergroßes Bett bedeckten. Als Halbschottin verzichtete sie auf die dicken Daunenbetten, die man im Winter in vielen deutschen Schlafzimmern vorfand. Ihr reichten zwei Laken in Übergröße, dazwischen legte sie in den kalten Monaten eine Steppdecke. Im Sommer genügte oft eines der Laken. Tagsüber zierte ein Quilt, eine Art Patchworkdecke, das Ensemble. Darauf lagen zahlreiche, unterschiedlich große Kissen in passenden Farben.

Mit einem breiten und sehr zufriedenen Lächeln betrachtete Lea das Deckenknäuel und Martins muskulösen Schwimmerrücken daneben. Dem war immer zu warm, aber das passte gut, denn meist raffte sie nachts das gesamte Bettzeug an sich.

Am Aufstehen führte kein Weg vorbei, Lea musste sich weiter auf die am Montag beginnende Tagung zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt im europäischen Fußball vorbereiten, auf der sie die Delegation der Scottish Football Association betreuen sollte. Die Einarbeitung in die Materie fiel ihr zum Glück nicht schwer, sie hatte rund zwanzig Jahre mit zwei fußballbegeisterten Männern, ihrem Sohn und seinem verstorbenen Vater, verbracht. Da war durch ihre schiere Anwesenheit so manches Wissen hängen geblieben. Allein ihre andauernde Müdigkeit und ihr Auftraggeber machten ihr zu schaffen.

Im Flur neben dem Schlafzimmer erhob sich Talisker, ihr ungewöhnlich rotbraun gefärbter Schottischer Hirschhund, zu seiner gewaltigen Größe. Er dehnte sich ausgiebig und folgte ihr die Treppe hinunter in die Küche.

Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz war das soziale Engagement seines Gegenübers gänzlich unverständlich, und an einem Freitagmorgen hielt sich sein Interesse dafür auch stark in Grenzen. Thomas Hartmann, Chemiker von Beruf und eine imposante Erscheinung, kümmerte sich laut seiner zehnminütigen und viel zu umfangreichen Schilderung schon seit Jahren ehrenamtlich um Obdachlose. Seitdem im Spätherbst eine Gruppe von Frauen eine leer stehende Lagerhalle ganz in der Nähe für sich entdeckt hatte, konzentrierte er sich ganz auf die Arbeit im eigenen Kiez. Offenbar war der Mann einer von diesen Gutmenschen, die einem den letzten Nerv rauben konnten. Es gab doch genug Übernachtungsmöglichkeiten für Menschen, die keine eigene Wohnung hatten, und die soziale Hängematte, die der Staat nicht nur seinen Bürgern, sondern sogar jedem Emigranten bot, war nun wahrlich bequem, fand Prinz. Niemand musste in Deutschland auf der Straße schlafen. Diejenigen, die es dennoch taten, waren entweder geistig minderbemittelt oder wollten bewusst dem Radar der Behörden entgehen. Neben ihm leierte Hartmann irgendeine Statistik herunter, der zufolge obdachlose Frauen häufig Opfer von Gewalt würden. Aber Prinz glaubte ihm kein Wort. Es gab doch kaum wohnungslose Frauen auf den Straßen. Jedenfalls sah er nie welche.

Thomas Hartmann gab an, von einer anderen Obdachlosen telefonisch informiert worden zu sein. Daraufhin habe er die Tote gefunden und die Polizei alarmiert. Er wirkte verzweifelt und gestikulierte wild. »Kommissar Prinz, das ist jetzt die zweite tote Obdachlose innerhalb von sechs Wochen. Da hat es jemand gezielt auf diese Frauen abgesehen! Was unternehmen Sie dagegen?« Er wartete die Antwort nicht ab, die Prinz auch gar nicht zu geben vorhatte. »Sicher gar nichts! Denn Sie interessieren sich ebenso wenig für diese Frauen wie der Rest der Gesellschaft. Wenn die Tote aus dem noblen Dahlem käme, stünde hier ein vielköpfiges Ermittlungsteam auf der Matte. Aber eine Frau, die seit Jahren unter Brücken lebt – wen kümmert’s schon, wenn so eine draufgeht!« Hartmann atmete tief ein. »Herr Prinz, ich werde keine Wahl haben und an die Presse gehen müssen, wenn Sie nicht innerhalb angemessener Zeit mit Ermittlungsergebnissen aufwarten können.«

Das fehlte Prinz gerade noch! Er riss sich zusammen, um Kompetenz auszustrahlen. »Herr Hartmann, zunächst einmal bin ich Hauptkommissar. Mein Dienstgrad sollte Ihnen verdeutlichen, dass wir diesen Vorfall durchaus ernst nehmen. Und die Presse zu involvieren wird nicht nötig sein. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um den oder die Täter zu ermitteln. Morde im Obdachlosenumfeld erfordern eine spezielle Vorgehensweise, die selten von sofortigen Erfolgen gekrönt ist. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass es oft schon schwierig genug ist, die Namen der Opfer in Erfahrung zu bringen, geschweige denn Angehörige ausfindig zu machen. Obdachlose tragen meist keine Papiere bei sich, sind nirgendwo gemeldet, und die Erfahrung zeigt zudem, dass die Menschen aus diesem Milieu die Polizei nicht freiwillig bei deren Ermittlungen unterstützen.«

»Es ist mir egal, was Sie tun müssen, um diese Morde aufzuklären. Tun Sie es einfach, sonst informiere ich nächste Woche die Presse!« Hartmann schickte sich an zu gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu Prinz um. »Sie hieß Greta. Greta Langner. Sie kam aus der Nähe von München. Und sie hatte eine wunderschöne Stimme. Sie hätten sie mal singen hören sollen. Sie sang jeden Abend dasselbe Lied … Das war einfach unglaublich schön.« Dann schlug er den Kragen seiner dick gefütterten Winterjacke hoch und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Eifelviertels, in dem das kleine Reihenhaus stand, das er mit seiner Frau Sabine bewohnte.

Wer die Lüge kennt

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