Читать книгу Wer die Lüge kennt - Beate Vera - Страница 8
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ОглавлениеJeanny war sechzehn, fühlte sich aber wie dreißig. Sie hatte keine Kindheit gehabt, die man als schön hätte bezeichnen können. Spätestens als ihr Vater begonnen hatte, sie anzufassen, war diese beendet gewesen. Da war sie sechs Jahre alt. Die Menschen in ihrer Umgebung nahmen an, der Schulstart mache ihr zu schaffen, als sie immer stiller wurde und sich zurückzog. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag, als ihre Mutter die Nachtdienste übernehmen musste, kam der Vater das erste Mal in ihr Bett. Mit dreizehn ertrug sie es nicht mehr. Niemand merkte, was los war, und Jeanny wusste, dass sie sich alleine helfen musste. Also hatte sie einen Rucksack gepackt und das Weite gesucht. Jeanny hatte endlich an einen friedlichen Ort gewollt, an einen Ort, an dem sie nicht auffiel. Die ersten Monate auf Trebe waren ganz okay gelaufen, doch dann war es draußen genauso beschissen geworden wie zu Hause. Seitdem lebte sie auf den Straßen Berlins. Das war nach wie vor weit entfernt von dem, was sie sich wünschte, aber es war allemal besser als ihr Leben davor. Hier entschied sie selbst, wer sie anfassen durfte und wer nicht. Meistens jedenfalls.
Jeanny hatte Greta unbedingt zeigen wollen, was sie dem dämlichen Schnösel abgenommen hatte, als der auf einer Bahnhofstoilette am Südkreuz mit ihr beschäftigt gewesen war. Sie hatte Glück gehabt, der Idiot hatte wenigstens einen passablen Musikgeschmack. Auf seinem Smartphone, das sie aus seiner Jackentasche gefischt hatte, waren ganz gute Titel, aber auch eine Menge Songs, die sie nicht kannte. Sie hatte angenommen, dass Greta ihr etwas dazu sagen könnte. Die war schon sehr alt, bestimmt vierzig oder so. Greta war immer am Singen. Die anderen Frauen im Kiez erzählten sich, dass sie mal was mit Musik zu tun, viele Jahre im Ausland gelebt und sogar eine Familie gehabt habe. Backgroundsängerin sei sie gewesen, sogar für die irische Rockband U2, raunte man. Greta selbst hatte nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Aber mit Musik hatte sie sich ausgekannt.
Jeanny lehnte sich gegen einen zurückgelassenen Traktorreifen auf einem bewachsenen Streifen inmitten des großen Felds kurz hinter dem Berliner Stadtrand. Sie hatte Thomas angerufen. Der würde wissen, was zu tun war. Sie selbst wollte auf keinen Fall mit den Bullen reden, das hatte sie ihm auch deutlich gesagt. Dann war sie einfach losgelaufen, durch die Hochhaussiedlung, die Osdorfer Straße entlang, dann die Ausfallstraße hinaus aus Berlin. Bei dem großen Feld war sie abgebogen und dem Trampelpfad entlang des Grünstreifens gefolgt, bis sich die Tränen ihren Lauf gebahnt hatten. Nun kauerte sie an dem Reifen und weinte hemmungslos.
Jeanny hatte immer genau gewusst, wo sie ihre ältere Freundin finden konnte, und war überrascht gewesen, sie an diesem Morgen nicht an der üblichen Stelle vor dem Supermarkt an der Stadtgrenze anzutreffen. Von den Mitarbeitern dort hatte Greta häufig kurz vor Ladenöffnung angestoßenes Obst oder ein Stück Gebäck oder Brot vom Vortag bekommen. Erst nach einer Stunde vergeblicher Suche an den anderen Ecken und Hauseingängen in der Thermometersiedlung und der unmittelbaren Umgebung, an denen sich Greta üblicherweise tagsüber aufgehalten hatte, war Jeanny zur Unterführung in der Fürstenstraße gegangen. Greta hatte sich dorthin sonst immer erst abends zurückgezogen, um ihre Fotos anzuschauen. Jeden Abend um dieselbe Zeit an derselben Stelle. Im Winter hatte sie im spärlichen Licht ihres Feuerzeugs kaum etwas sehen können, aber sie war trotzdem jeden Abend die Fotos durchgegangen, leise vor sich hin murmelnd. Wenn sie fertig gewesen war, hatte sie ein Lied angestimmt, immer dasselbe. Ihre Altstimme war so klar gewesen, und Jeanny war ein jedes Mal fast zu Tränen gerührt. Es war ein Schlaflied aus einem englischen Kinderfilm der späten Sechzigerjahre, wie Greta Jeanny einmal erklärt hatte. Es handelte vom Vergessen seiner Sorgen:
A gentle breeze from Hushabye Mountain
Softly blows o’er Lullaby Bay.
It fills the sails of boats that are waiting,
Waiting to sail your worries away …
Jeanny ließ ihren Blick über das weite Land und den wolkenschweren Himmel schweifen. Hier war alles so friedlich und ruhig. Nichts ließ einen an diesem Ort von der Schlechtigkeit der Welt ahnen, die Natur war so wunderschön, selbst im kargen Winter. Jeanny wäre gern einfach hiergeblieben, doch die Jahre auf der Straße hatten sie gelehrt, die Kälte nicht zu unterschätzen. Erst machte sie einen müde, dann tötete sie einen. Alles war gegen einen, wenn man nicht auf der Hut war. Also wischte sich Jeanny die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Heute wollte sie nicht sterben. Heute nicht.
Diese wundervolle Frau hat mich ausschlafen lassen, war Martin Glanders erster Gedanke, als sein angenehmer postkoitaler Traum am späten Vormittag rüde durch das Klingeln seines Handys beendet wurde. Er setzte sich im Bett auf und strich sich durchs straßenköterblonde Haar. Das Handy gab die unverwechselbare Titelmelodie der TV-Serie Die Profis wieder. Glander war vermutlich der einzige Handybesitzer, der seinen Klingelton noch nie gewechselt hatte. Die beiden MI5-Agenten Bodie und Doyle waren in den frühen Achtzigern die Helden seiner Jugend gewesen, er hatte keine Folge versäumt und griff immer noch gerne zu den DVDs der Serie, die er wie seinen Augapfel hütete.
»Glander«, meldete er sich.
»Hallo, Martin! Hier ist Thomas, Thomas Hartmann.«
Thomas und Sabine Hartmann wohnten ein paar Querstraßen entfernt von ihm und Lea im Eifelviertel. Beide waren Chemiker und besaßen eine wilde Mischlingstöle namens Bismut mit einer diesem chemischen Element entsprechenden Fellfarbe und ausgeprägt diamagnetischen Reaktionen auf jegliche Leitungsversuche ihrer Besitzer. Lea war locker mit den Hartmanns befreundet. Als Hundebesitzer kannte man einander im Viertel, und Bismut benahm sich nur, wenn Talisker in der Nähe war. Lea und Glander waren dem Ehepaar vor vier Wochen zufällig im »Loch Ness« begegnet, einem Pub in Lichterfelde West, zu dessen Stammgästen auch Glander gehörte, seit er zu Lea gezogen war. Eine umfangreiche Auswahl an exzellenten Malts und ein unglaublich gutes Stout aus einer der ältesten Brauereien Schottlands übten auf ihn keine geringe Anziehungskraft aus. Es war ein kurzweiliger Abend gewesen, und Glander erinnerte sich an die Schilderungen der Hartmanns über ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ihr Engagement hatte ihn stark beeindruckt. Sich den trostlosen Seiten der Gesellschaft zu stellen war nicht einfach, das wusste er selbst aus zwanzig Dienstjahren beim Berliner Landeskriminalamt zur Genüge. Und auch die Fälle, die er übernahm, seitdem er ausgestiegen war und sich als privater Ermittler selbstständig gemacht hatte, waren in der Regel keine fröhlichen Geschichten.
»Hallo, Thomas! Was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte dich engagieren. Du sollst einen Mord aufklären. Eigentlich zwei, wie ich annehme. Man hat heute Morgen schon wieder eine obdachlose Frau in unserem Viertel tot aufgefunden. Die Polizei tut gar nichts, die scheint das überhaupt nicht zu interessieren.«
Glander war perplex. »Thomas, mach mal halblang. Auch wenn ich selber ausgestiegen bin, kann ich dir versichern, dass die Polizei jedes Tötungsdelikt ernst nimmt.«
Hartmanns Entrüstung war selbst am Telefon zu spüren, ebenso, dass er sich zwang, ruhig zu bleiben. »Martin, dem leitenden Hauptkommissar geht das komplett am Allerwertesten vorbei. Der stand nur gelangweilt in der Gegend rum. Für den ist der Fall doch schon klar: Irgendein Penner vergeht sich an den verwahrlosten Frauen, bringt sie um und tut der Gesellschaft damit zugleich einen Gefallen. Zeugen gibt es keine, also wird der Fall bald ungelöst zu den Akten gelegt.«
Glander schüttelte den Kopf. Morde an Obdachlosen aufzuklären war schwierig, das wusste er. »Wie heißt denn der leitende Beamte?« Vielleicht könnte er ja einmal mit dem reden und sich unverfänglich informieren. Er würde ihn mit großer Wahrscheinlichkeit kennen, so lange war es noch nicht her, dass er den Dienst bei der Kripo quittiert hatte.
»Prinz, Kriminalhauptkommissar Prinz«, antwortete Hartmann in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, was er von dem Kripobeamten hielt.
Auf Glanders Gesicht breitete sich ein wölfisches Grinsen aus. Ex-Kollege Prinz war mit Abstand der ungeeignetste Beamte, dem man die Leitung dieser Ermittlungen hätte übertragen können. Eigentlich sollte man dem überhaupt keine Ermittlungen übertragen, der wäre nicht in der Lage, den Weg seiner eigenen Füße aus den Socken heraus zu ermitteln, das war allgemein bekannt. Glander und er waren in den letzten Jahren regelmäßig aneinandergeraten, und in der Regel hatte Prinz dabei den Kürzeren gezogen. Ausnahmslos jeder, der mit Prinz zu tun bekam, stellte sich früher oder später zwei Fragen: Wie war dieser Mann an seinen Job gekommen – und wie schaffte er es, ihn zu behalten? Thomas Hartmanns Eindruck trog also kein bisschen. Bei Mord und anderen Tötungsdelikten war unmittelbares Handeln notwendig. Fanden sich innerhalb der ersten 48 Stunden nach solch einer Tat keine Hinweise oder Spuren, wurde die Arbeit der Mordkommissionen des Berliner LKA 1 zäh.
Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz würde die Akte eine Weile lang auf seinem übervollen Schreibtisch hin- und herschieben und sie dann dezent dem Vergessen überantworten. In einigen Jahren würden sich dem Fall dann eventuell die Sonderermittler für ungelöste Fälle annehmen. Diese Kollegen gingen jenen fünf Prozent der Tötungsdelikte nach, die nicht aufgeklärt werden konnten. Glander bewunderte ihre Hiob’sche Geduld. Die Delikte, mit denen sie es zu tun bekamen, gingen zurück bis ins Jahr 1968. Aber mithilfe der modernen DNA-Erhebungstechniken konnten auch noch einige dieser Altfälle gelöst und die betreffenden Täter ermittelt werden.
Glander räusperte sich. »Okay, das klingt allerdings nicht ganz so gut, da muss ich dir leider recht geben. Also noch mal ganz von vorn. Was ist genau passiert? Wie hast du überhaupt davon erfahren? Hast du die Tote gefunden?« Er schaltete sein Handy auf Freisprechen, legte es aufs Kopfkissen und schlüpfte in Boxershorts und Jeans. Halb angezogen ging er mit dem Handy in der Hand hinunter in die Küche. Er brauchte erst einmal einen Kaffee. Lea war wohl mit dem Hund unterwegs, von beiden war nichts zu sehen.
Hartmann setzte ihn derweil ins Bild. »Ich habe dir doch neulich von meinem Ehrenamt erzählt. Da habe ich seit vier Monaten ein neues Projekt: Ich bin drei Abende in der Woche und jedes zweite Wochenende bei den obdachlosen Frauen in der Lagerhalle hinter den Gleisen, am Ende der Réaumurstraße, also hinter dem Bahnhof gleich rechts und ein Stück das Kopfsteinpflaster runter. Ich versuche sie dazu zu bewegen, in eine Einrichtung zu gehen, und biete ihnen immer wieder an, sie bei Behördengängen zu begleiten. Ich helfe mit Essen und manchmal mit Decken oder warmer Kleidung aus. Ganz oft höre ich einfach auch nur zu, wenn sie sich etwas von der Seele reden wollen.«
Von Leas Haus im Dürener Weg aus betrachtet, lag die heruntergekommene Lagerhalle, von der Hartmann sprach, hinter der Bahntrasse in der Nähe des S-Bahnhofs. Sie war ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem Mauerbau, als dort noch Gewerbebetriebe ansässig gewesen waren. Glander kannte die Ruine, er joggte gelegentlich dort vorbei, wenn er einmal eine kürzere Route als die übliche laufen wollte. Er erinnerte sich auch gut daran, dass Sabine Hartmann ihnen erzählt hatte, sie ginge regelmäßig in ein Hospiz für Aidskranke und ihr Mann kümmere sich speziell um Frauen, die auf der Straße lebten. Glander hatte bereits mitbekommen, dass es in der Nachbarschaft rumorte, seit in dieser baufälligen Halle vor einigen Monaten Obdachlose Quartier bezogen hatten. Hartmann opferte nicht nur viel Zeit für diese Frauen, sondern nahm auch ihre Schicksale mit nach Hause. Das hatte Glander nachdenklich gemacht, denn allzu leicht verdrängte man, dass das alles kaum einen Steinwurf entfernt vom Eifelviertel geschah.
»Vor sechs Wochen fand man die erste Tote, Roswita Kemper. Sie war um die siebzig«, fuhr Hartmann fort. »Ich habe nie herausgefunden, wo sie sich nachts aufhielt, aber tagsüber lief sie meist mit ihrem Rollköfferchen über den Bahnsteig Lichterfelde Ost. Abends verdrückte sie sich dann immer. Gott weiß, was sie im Gepäck hatte und wohin sie ursprünglich mal fahren wollte. Sie wurde mit Messerstichen verletzt und danach in ein Gebüsch am Gleisbett am Bahnhof Osdorfer Straße geworfen, wo sie verblutete.« Er musste eine kurze Pause machen, um nicht die Fassung zu verlieren. »Martin, man hat sie weggeworfen wie Müll! Und jetzt Greta. Die hat man in der Unterführung an der Fürstenstraße gefunden, da hatte sie einen festen Platz, den sie jeden Abend aufsuchte. Eine andere Obdachlose hat sie heute Morgen gegen sieben Uhr gefunden und mich angerufen. Sie will nichts mit der Polizei zu tun haben, also habe ich deine Kollegen verständigt. Greta wurde ebenfalls erstochen, das habe ich vorhin aufschnappen können.«
Glander hörte deutlich, dass Hartmann einen dicken Kloß im Hals hatte, als er fortfuhr. »Da stimmt doch was nicht! Ich werde das Gefühl nicht los, dass das weitergehen wird, dass da irgendeiner unterwegs ist, der was gegen diese Frauen hat. In der Umgebung wird ja auch schon gegen die neuen Nachbarn jenseits der Gleise Stimmung gemacht, ohne den leisesten Hauch von Mitgefühl. ›Dieses obdachlose Gesocks‹, so ist der Tenor. Die Unterführung, in der Greta lag, ist am Morgen zwar nicht so stark frequentiert wie der Tunnel am Bahnhof. Trotzdem bin ich mir sicher, dass heute Morgen Menschen an ihr vorbeigelaufen sind und nichts unternommen haben. Da schaut man doch lieber weg, wenn so eine Frau verblutet.« Er schnaubte verächtlich. »Dieses Land lernt seit siebzig Jahren nicht dazu. Martin, diese Greta hat nie irgendjemandem etwas getan, die meisten Obdachlosen werden ja nicht einmal wahrgenommen. Die wenigen, die man mit Einkaufswagen voller Plastiktüten herumziehen sieht, haben in der Regel psychische Probleme, so wie die alte Roswita. Den meisten ist ihre eigene Lage selbst schrecklich unangenehm. Vermutlich haben sich auch deswegen ein paar von ihnen in der Halle am Stadtrand niedergelassen.«
Glander wusste, dass es keine genauen Zahlen gab. Man ging von 4000 bis 12 000 Obdachlosen in Berlin aus, darunter rund 1500 Frauen. Aber diese Zahlen waren wenig verlässlich. Die Dunkelziffer war immens. Besonders Frauen schämten sich oft ihrer prekären Lage. Eine Vielzahl von ihnen hatte jahrelang männliche Gewalt erfahren und mied daher die Hilfsangebote der öffentlichen Hand oder privater Träger. Denn die Einrichtungen für Obdachlose wurden überwiegend von Männern frequentiert.
Rechnete man die Frauen dazu, die in sogenannten »ungesicherten Wohnverhältnissen« lebten, also bei jemandem unterkamen, bei dem sie sich in der Regel sexuell revanchieren mussten, war die Zahl der weiblichen Obdachlosen noch einmal erheblich höher. Die meisten wohnungslosen Menschen befanden sich in einer ausweglosen Situation. Vielen von ihnen fehlte eine ordentliche Ausbildung. Ohne festen Wohnsitz gab es keinen Arbeitsplatz, ohne Arbeitsplatz fand man keine Wohnung. Oftmals konnte man sich nach dem Verlust der Arbeitsstelle oder einer Scheidung seine Wohnung nicht mehr leisten. Hatte man erst einmal Mietschulden oder aus anderen Gründen einen Eintrag bei der Schufa, war es beinahe aussichtslos, eine neue Wohnung zu finden. Hinzu kam, dass viele Obdachlose unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen litten, jedoch in den seltensten Fällen von den Behörden entsprechende Hilfe erhielten. Selbst ein nächtlicher Platz in einer Notunterkunft war für manche keine Lösung. Viele Obdachlose scheuten solche Einrichtungen, weil dort keine Hunde und kein Alkoholkonsum erlaubt waren, und blieben auch bei hohen Minusgraden lieber auf der Straße. Wie beschämend war das alles für eine Wohlstandsgesellschaft!
Hartmann unterbrach Glanders düsteren Gedankengang. »Die Hilfen reichen hinten und vorne nicht. Die Betroffenen brauchen ja nicht nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf, sondern fast alle benötigen auch Hilfe bei dem ganzen Papierkram. Da werden Leistungen aus den absurdesten Gründen verweigert oder gestrichen. Und richtige Unterstützung, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, kriegt niemand. Die Frauen brauchen ganz einfach jemanden, der ihnen unter die Arme greift. Denn die üblichen Dinge des Alltags stellen sie oft vor gewaltige Probleme. Sie sind oft depressiv oder leiden an anderen psychischen Erkrankungen. Und was denen dann teilweise auch noch auf der Straße passiert … Aber davon will natürlich keiner etwas wissen. Es ist einfach zum Kotzen, wie sich all die vermeintlichen Christen in unserem Land vor der Verantwortung drücken und in Kauf nehmen, dass direkt vor ihren Augen Menschen kaputtgehen!«
Das gilt auch für mich, dachte Glander. Er war zwar kein gläubiger Christ, aber auch er sah lieber weg, wenn er Obdachlosen begegnete oder ihm jemand den Straßenfeger verkaufen wollte. Alles junge Männer, die doch Arbeit finden müssten, wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würden. Aber wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine Wohnadresse angeben kann!, schalt Glander sich in Gedanken selbst. Kurz entschlossen sagte er zu Thomas Hartmann: »In Ordnung, Thomas, ich muss noch etwas erledigen und bin gegen Mittag wieder im Eifelviertel. Dann melde ich mich bei dir. Ich brauche dann mehr Informationen. Und du wirst sicher wissen wollen, was dich das Ganze kostet.«
Thomas Hartmann lachte ohne jede Spur von Humor. »Ich hätte nicht wenig Lust, der Polizei die Rechnung aufs Auge zu drücken. Aber egal, ich will Gerechtigkeit für diese Frauen.«
Gerechtigkeit … Dieses Wort hatte Glander lange nicht mehr gehört.
Keinen Kilometer Luftlinie entfernt sinnierte Lea vor sich hin. Sie wartete auf Talisker, der sein Geschäft in einem Dickicht neben dem BUGA-Wanderweg verrichtete, der zwischen Lichterfelde Süd und dem brandenburgischen Teltow verlief. Dieser Winter war selbst für Berliner Verhältnisse hart. Die letzten Wochen und Monate waren zwar nicht so bitterkalt wie manch andere Winter gewesen, dafür waren sie von einer klammen Düsternis geprägt, die selbst Lea aufs Gemüt geschlagen war, obwohl sie beileibe nicht zur Depressivität neigte. Es schien Lea, als sei die Sonne Anfang Dezember untergegangen und habe sich seitdem nicht wieder gezeigt. Vor ein paar Tagen waren die Temperaturen dann deutlich gefallen, und Lea war sich sicher, dass es bald schneien würde. Schnee im Februar brauchte wirklich niemand in Berlin. Einmal mehr käme der Winter um Wochen zu spät, das Weihnachtsfest war wie in so vielen vergangenen Jahren verregnet gewesen. Es waren wahrlich keine fröhlichen Gedanken, die auf den wunderbaren Tagesauftakt folgten.
Lea machte sich Sorgen. Sie hätte Martin sofort von dem Anruf erzählen müssen. Jetzt wurde es immer schwieriger, und doch musste sie mit ihm darüber reden. Am Montag begann ihr neuer Job, und sie kannte sich: Verheimlichen konnte sie es nicht, und dann würde Martin es ihr zu Recht übel nehmen, dass sie ihm nichts von ihrem Auftrag erzählt hatte.
Sweet Bejeesis! Sie hatte sich setzen müssen, so perplex war sie gewesen, als sie vierzehn Tage zuvor den Anruf von Connor Fraser erhalten hatte. Detective Chief Superintendent Fraser – er hatte nach seinem Studium eine Karriere bei der schottischen Kripo gemacht. Seine Stimme hatte sie unmittelbar auf eine Reise die Memory Lane hinuntergeschickt, direkt in ihre Vergangenheit. Sie hatte über zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und über zwei Jahre so gut wie gar nicht an ihn gedacht, doch die Erinnerungen waren sofort wieder so deutlich gewesen, als wäre alles erst vor Kurzem geschehen.
Talisker brauchte ewig, schien es Lea. Aber ein Hund seiner Größe produzierte nun einmal nennenswerte Haufen, das dauerte seine Zeit. Vielleicht hatte er auch nur eine interessante Fährte in der Nase. Sie fröstelte und wollte nach Hause zu ihren Unterlagen, denn sie wusste genau, dass ihre Gedanken in gar keine gute Richtung liefen, wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte.
Connor war ihre erste große Liebe gewesen. Love at first sight. Ohne zu übertreiben, es hatte sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt. Und die war so heftig, haltlos und hitzig gewesen, wie man sie wohl nur in jungen Jahren erleben konnte, wenn einen das Leben noch nicht enttäuscht hatte, einem das Herz noch nicht gebrochen worden war und man noch nicht schmerzhaft hatte lernen müssen, sich vor den eigenen Gefühlen zu schützen.
Lea hatte sich im ersten Jahr an der Universität in Stirling befunden, als Hauptfächer hatte sie Anglistik und Germanistik gewählt, im Nebenfach hatte sie Psychologie belegt. Connor studierte bereits Computing Science im letzten Semester und war im Rugbyteam der Uni. Sie lief gerade in Begleitung einiger Kommilitoninnen den Flur der Sporthalle hinunter, als er den Kopf aus einer Umkleidekabine steckte und laut fluchend nach jemandem rief. Das Gefühl, das sie in jenem Moment durchflutete, war unbeschreiblich. Es schien ihr, als breite sich eine unglaublich große Portion Schlagsahne rasend schnell in ihr aus, wunderbar cremig geschlagen und mit reichlich Vanillezucker versetzt. Ihr Atem stockte, ihr Herz setzte einen Takt lang aus, und ihre Knie wurden weich, beinahe beängstigend. Dann folgte eine wohlig-warme Freude. Connor sah sie an und zwinkerte ihr zu, bevor die Tür wieder zuging.
Als sie ihre Kommilitoninnen fragte, wer das gewesen sei, grinsten die sie kopfschüttelnd an und rieten ihr, die Finger von ihm zu lassen. Connor Fraser sei in der ganzen Universität bekannt wie ein bunter Hund, in erster Linie nicht etwa wegen seines Rugbyrekords – kein Student hatte damals mehr Dropkicks erzielt als »KC«, Kickin’ Connor Fraser –, sondern seiner Frauengeschichten wegen: Er sei der unumstrittene Campus-Casanova. Die Mädchen hatten Lea gewarnt, nicht einmal daran zu denken, sich auf ihn einzulassen, da er ihr nur das Herz brechen würde. Doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos gewesen. Sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich, bis über beide Ohren verliebt, in eine Liaison mit Connor gestürzt. Die Rechnung war vergleichsweise spät gekommen – aber sie war unweigerlich gekommen.
Ihre letzte Begegnung mit Connor hatte tiefe, hässliche Spuren hinterlassen. Und Lea war sich ganz und gar nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, seiner Bitte um Unterstützung während der bevorstehenden Tagung nachzukommen. Sein Dolmetscher habe einen Unfall gehabt, und er brauche dringend einen Ersatz, hatte er erklärt. Er habe sofort an Lea gedacht, weil doch die Tagung in Berlin stattfinde. Nach einer kleinen Recherche habe er zu seiner freudigen Überraschung festgestellt, dass sie tatsächlich Dolmetscherin geworden war. Nun hoffe er, sie würde ihm und seinem Team aus der Patsche helfen, hatte er gesagt.
Er besaß noch immer the gift of the gab: Connor Fraser hätte Kühltruhen an Eskimos verkaufen können – noch immer hatte er die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen.
Talisker kam aus dem Gebüsch getrottet und sah sie fragend an. Der Schottische Hirschhund hatte ein feines Gespür für ihre Stimmungen und trat ganz nah an sie heran. Lea beugte sich zu ihm hinunter – was allerdings bei seiner Größe keine große Bewegung war – und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann machten sich beide auf den Heimweg. Sie hatten es nicht allzu weit, denn Leas Grundstück grenzte an den ehemaligen Mauerstreifen, der nach dem Fall der Grenze zwischen Ost und West ein beliebtes Ausflugsziel am südlichen Berliner Stadtrand geworden war. Es war ganz erheblich zu früh für ihr gelegentliches Antidot Whisky, also würde sie einen starken Tee trinken und sich in ihre Unterlagen vertiefen, um nicht weiter über Vergangenes nachdenken zu müssen. Das wäre jetzt das Richtige. Am Montag würde sie Connor und die Vertreter seiner Delegation zu einem gemeinsamen Abendessen treffen. Sie würde sich wappnen müssen. Und sie musste Martin endlich von ihm erzählen. Heute Abend würde sie mit ihm reden.
Der kalte Wind blies das tote Laub der Bäume am Rande der ungepflegten Rabatten über den asphaltierten Weg und ließ sie erneut frösteln.