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1 Die Zeit der Tänzer

I/2

An dem Morgen, der meinem nachmittäglichen Ausrutscher mit Reni folgt, bin ich unkonzentriert. Bei den Proben für den neuen Ballettabend arbeite ich unaufmerksam.

Irgendwie bin ich erstaunlich erotisiert. Plötzlich sind Frauen im Ballettsaal um mich. Wo sonst Kolleginnen waren, sind jetzt Frauen, Mädchen, knackige Hintern, flache, kleine, aber edle Busen, leichte Hügel, die in schöne Armbeugen übergehen.

Schwanenhälse. Weiße, weiche, feuchte Haut. Vom Tanz sanft gerötete Gesichter. - Und erregte Knospen zieren Brüste an edlen Körpern ...

Selbst die ästhetischen Unebenheiten, sonst eher abstoßend, ziehen mich heute magisch an, manchmal sichtbar werdende Haare, die kleinen Fettpölsterchen, eingeschnürt. - Und sogar Ulla, der immer zu fette Trampel, strahlt vor sinnlicher Körperlichkeit.

Nach der Probe ermüdende Kostümproben. Stundenlanges Gezuppel. Sollten Anziehpuppen verwenden und erst kommen, wenn alles fertig ist, perfekt passend!

Dann zum Ballettdirektor. Anschiss gefällig. Dabei wollte ich ihm endlich meine Idee für ein neues Ballett vortragen.

Es wird tatsächlich ein Anschiss. - Er hat ja recht - leider!

„... Arbeit unkonzentriert, im Ballettsaal unkonzentriert, faul.“ (schone mich zuviel?) „Auf der Bühne katastrophal ...“ das Ganze vorgetragen von einer keifenden englischen Tunte, die jedoch ein genialer Choreograph ist, und: Vor allem Recht hat!

Mann, warum bin ich noch Tänzer, warum bin ich überhaupt Tänzer geworden?

Gegen alle Warnungen, gegen den Willen meines Vaters. Von ihm rausgeschmissen, Studium selbst finanziert, Nachtarbeit, ‚drücken’ von Zeitschriftenabonnements, Bücherring und Lexikas.

Training, immer wieder Training und immer der Hunger als Begleiter.

Jahre, bis ich es schaffte, draußen zu stehen und auf diesen Brettern auch gut zu sein. - Und jetzt? -

Ich fliehe zu Reni, fühle mich schwach, angefressen. Die Midlife-Crisis hat mich wohl endgültig eingeholt.

Ein eleganter Vorort, Villen, parkähnliche Gärten, in einigen Minuten werde ich da sein. Das Taxi fährt langsam, der Fahrer sucht die Hausnummer. Es ist mir jetzt recht. Ich schweige und dehne die Zeit.

Reni erwartet mich. Ich gebe mich reserviert, weiß nicht warum und bin sauer auf mich. Sie ist charmant wie immer, aber etwas distanziert.

Inmitten knisternder Spannung schweigen wir uns an - zwei ertappte Sünder. Können wir zurück, vergessen was war, es ungeschehen machen? Es walte die große Toleranz!

Reni hat Familie. Ich bin zwar geschieden, lebe jedoch seit einiger Zeit mit einer Freundin zusammen - sehe sie aber selten. Vermutlich ist sie in diesem Augenblick in meiner Wohnung und wartet - wahrscheinlich wartet sie!

Die Clichés für einen Liebesroman oder ein Boulevardstück, ‚gleich kommt der Mann nach Hause’, und in diesen eleganten Wohnraum gerannt, wo wir beide immer noch schweigend, ratlos voreinander stehen.

Reni bricht das Schweigen:

„Mein Mann kommt jeden Moment, er bringt Veronika mit! Kurz bevor du kamst, rief er an! Richard hat Veronika einfach früher aus dem Internat geholt, wollte mich damit überraschen und dann mit Tochter und Gattin zu unserer Yacht am See fahren. - Einer dieser typischen Kurzentschlüsse, den er, wie so oft, diktatorisch durchsetzen wird.“

Renis Stimme war härter geworden, doch der Bann ist nun gebrochen: Sie fällt mir um den Hals.

Mein Gott, ich liebe sie!

Nachmittags habe ich Probe!

In wahnsinniger Eile schaffe ich es, pünktlich zu sein. Dadurch angewärmt, arbeite ich nur wenige Minuten und meine Muskeln werden geschmeidig.

Wie gut, manchmal drei Stufen zu nehmen und mit fast vierzig noch wie ein Jüngling zu rennen.

Sehr konzentriert gehe ich auf meinen Chef ein, sichtlich zu seiner Freude. Soll er doch denken, sein Anschiss hätte gewirkt! Er hat sehr gute choreographische Einfälle und die Variation vom Vormittag wird super. Bewegungsmöglichkeiten in Verbindung mit der Musik, wie nur er sie finden kann.

Ich arbeite hart, tanze aus und bekomme - oh Wunder - prompt den Beifall des gesamten Ensembles.

Wau! Das passiert selten.

Etwas beschämt schaue ich verstohlen zu meiner jugendlichen Konkurrenz. Auch Benno scheint begeistert. Das streichelt die Seele.

Kays Reaktion kenne ich seit langem, er vertieft sich noch mehr in die Arbeit, kehrt das Innenleben der Figur, die ich zu tanzen habe, gleichsam nach außen. Er zwingt mich zu fühlen, zu spielen, der Rolle Charakter zu geben, Leben einzuhauchen über den Tanz hinaus!

Manchmal werde ich sauer und etwas überheblich, wenn er so arbeitet; schließlich bin ich ja ...

Aber heute funktioniert es. Dafür liebe ich diese Tunte. Das sind die Momente, in denen Großes geboren wird. ‚Toi toi toi’, klopfe ich mit schweißtriefenden Fingerknöcheln an die Ballettstange.

Vor meiner Garderobe erwischen mich zwei Ballettratten, Elevinnen, die mich bewundern. Die Vorstellung haben sie gesehen (ausgerechnet!) und die Probe heute (schon besser) und überhaupt ...

Hübsch sind beide, mit ihren nahezu jungenhaften Körpern, einem Anflug von Weiblichkeit, ihrem straff gekämmten Haar und dem typischen Knödel der Tänzerinnen, die damit ihr Haar im Nacken zusammen halten. Diese gertenschlanken Hüften ... „Hm ... Hm“ ...

‚Eigentlich könnte ich ihr Vater sein’ denke ich, endlich unter der obligaten Dusche, ‚... vielleicht Gott sei Dank?’

Ich fühle mich rundum gut nach dieser Probe, sogar meine Schulter habe ich restlos vergessen.

Es gibt nichts besseres, als die Dusche nach einer gelungenen Probe, oder nach einer Vorstellung. Mit dem schweißnassen, ausgearbeiteten Körper, erst ausgiebig heiß, dann kalt duschen. Köstliches, klares Wasser, - nicht nur gut für die äußerliche Reinigung, viel mehr Teil von uns, lässt uns leben. Fließend erfrischt es, stillt unseren Durst, erhält unser Leben - Lebensquell.

Mit Reni hatte ich Gespräche über Umwelt, über Probleme unserer Gesellschaft. Mit ihr kann ich darüber reden, diskutieren, mit Tänzerkollegen - nein.

Eigenartig, dumm sind sie nicht, obwohl man es manchmal meinen könnte. Eher zu sehr mit ihrer Arbeit, ihrer Wirkung, dem Tanz und seiner Ästhetik beschäftigt. Wohl manchmal auch zu sehr in sich selbst verliebt.

Reni - hat ein anderes Niveau! Eine andere Klasse!

Ja, eben - und nun?

Der von mir verdrängte Nachmittag ist da, er drängt sich zurück in mein Bewusstsein. Ärgerlich drehe ich das kalte Wasser auf, lasse es rennen, bis mir die Kälte weh tut, dann frottiere mich wütend ab.

Kurz danach sitze ich vor dem Schminkspiegel und schaue mich an ...

‚Scheißkerl!’

Unser Dialog an diesem vergangenen Nachmittag gestaltete sich äußerst frustrierend. Wir befanden uns noch immer im Wohnzimmer, Reni hatte sich aus unserer innigen Umarmung schnell gelöst, als ihre Ankündigung, „Mein Mann kommt jeden Moment ...“, prompt wahr wurde.

„Entschuldige, sind meine Haare zerzaust? Ich glaube, ich habe den Wagen gehört!“

Ich stand wie angewurzelt.

„Nein, aber deine Lippen ...“

„O Gott, ich muss mich kurz frisch machen!“

Mit sicheren Bewegungen beseitigte Reni verräterische Spuren. Leider verunsicherte mich das noch mehr als ich es ohnehin schon war.

„Und was machen wir?“

Kühl entgegnete Reni: „Wir - wie meinst du?“

Im selben Moment als ich es aussprach erschien mir mein: „Ich liebe dich!“ bereits abgedroschen und wenig überzeugend.

„Nicht jetzt!“

„Ich kann nicht lügen!“

„Du wirst.“

Mein klägliches „Er wird es merken.“ empfand ich selbst fast lächerlich und ließ Reni wütend ein „Hör auf!“ retour zischen, bevor sie wie selbstverständlich und gefasst auf ihren Mann zuging.

„Hallo Richard!“

Dynamisch, mit federnden Schritten stürmte währenddessen Richard in die Halle:

„Hallo, der große Künstler! Wie geht es Ihnen? Haben Sie Lust, mit uns zum Segeln zu kommen?“

Er schien keineswegs überrascht, dass ich da war und begrüßte mich sofort freundlich.

„Danke, gut - tut mir leid, ich kann nicht“, stammelte ich, „muss zur Probe, der neue Ballettabend, aber ich freue mich ...“ und war etwas erleichtert, als Renis Tochter Veronika auf mich zulief. „Hallo Michael, du untreue Tomate, wo warst du denn so lange? Bitte, komm mit uns zum Segeln, dann haben wir es lustig! Bitte, bitte!“

„Hallo mein kleines Fräulein“, hob ich sie kurz hoch „ich kann leider wirklich nicht mitkommen!“

„Warum bist du dann hier? Ich dachte, du kommst mit!“

„Richard, Michael hat uns extra persönlich zu seiner Premiere eingeladen.“

Dankbar nahm ich Renis Lüge auf. Warum auch nicht, es war ohnehin alles Lüge.

„Ja, ich war gerade in der Nähe und dachte ...“

Veronika ließ sich nicht so schnell abschütteln: „Michael! Bitte, bitte komm doch mit!“

Souverän schien Reni die Szene zu beherrschen.

„Das neue Ballett wird sicher phantastisch! Michael tanzt die Hauptrolle, er erzählt geradezu faszinierend!“

Sie führte ohne weiteres wieder Konversation.

„Veronika, ich muss leider wirklich zur Probe. Richard, entschuldigen Sie bitte, ich hoffe sehr, Sie vor der Premiere noch zu sehen!“

Mein Frosch im Hals schien mir unüberhörbar. Doch Richard war in Gedanken anscheinend längst auf dem See.

„Mein Lieber - ich glaube das lässt sich schwerlich machen, deshalb jetzt schon toi toi toi, wir sehen uns dann in jedem Fall nach der Vorstellung.“

„Richard, kann ich kurz deinen Wagen benützen, um Michael zum Taxi zu bringen?“

„Na gut, - auf einmal mehr kommt’s ja nicht an - aber pass auf!“ Unwillig, beinahe unfreundlich reagierte Richard auf Renis Frage.

„Ich gehe unter die Dusche, Veronika packt inzwischen das Segelzeug. - Bis gleich! - Auf Wiedersehen, Michael, und nochmals toi toi toi!“

„Adieu Richard, Tschüs Veronika!“

Erleichtert hob ich die hübsche kleine Veronika abermals hoch und wirbelte sie herum.

„Tschüs Michi, bis bald!“ zwinkerte sie mir zu.

Dann, endlich, waren wir draußen, allein vor dem Haus!

Beim Wagen angelangt brachte ich nur hölzern heraus: „Danke, dass du mich fährst.“

„Steig ein. Richard reagiert immer so sauer, wenn ich mit seinem Wagen fahre.“

„Er wird noch mehr sauer sein, wenn er erst sicher ist, dass ich mit seiner Frau ...“

Reni unterbrach mich schroff: „Es geht ihn nichts an!“

„Glaubst du, er hat etwas bemerkt?“

„Das ist meine Sache!“

Aggressiv gab sie Gas und schlitterte mit kreischenden Reifen um die Kurve.

„Ja und meine, und Veronikas und Richards!“

„Ja, und - ja, - ja ...!“

Wir schwiegen das letzte Stück des Weges.

Der Standplatz war leer, trotzdem hatte ich Glück, ein freier Wagen wollte vorbeifahren: „Taxi, Taxi!“

Unser Abschied wurde kurz und hektisch.

Reni sagte nur trocken: „Ciao!“

Ich rief noch im Weglaufen: „Ciao, - ich liebe dich!“

Renis letztes „Ciao!“ verlor sich hinter der automatisch hochfahrenden Windschutzscheibe.

So war’s: falsch, verlogen, trocken, höflich, diplomatisch und - beschämend.

Hat Richard wirklich übersehen, was sicher augenfällig war?

Die blöde Ausrede mit der Einladung!

Und Veronika, das vife Persönchen, dieses intelligente Weibchen, hat sie was bemerkt?

Wahrscheinlich sind alle bereits auf dem See. - Wann sehe ich Reni wieder? Werde ich sie überhaupt wiedersehen?

So schnell bin ich wieder unten, ein Purzelbaum auf den Hintern und im Kopf tut es weh.

Der Portier hält mich auf:

„Fräulein Petra lässt Ihnen ausrichten, dass sie in der Kantine wartet.“

Seine Stimme verhallt im Eingangsbereich vor der Portierloge und ein Déjà-vu dehnt die Zeit des Augenblicks, bremst die gewohnte Eile: - Warme, muffige Luft aus der Portierloge, der erkaltete Zigarettenrauch im Vorraum ... Die Wolke von Parfüm einer durchschwebenden Kollegin deckt einen Moment alles zu; auch den typischen Theatergeruch, diese Mischung aus Schminke, Staub, Kulisse, Fundus, Kolophonium und ein bisschen Kantine. Der Portier, er könnte derselbe sein. Die schönen Art-Deco-Kacheln sind dieselben und ebenfalls das gekachelte Steinbänkchen, auf dem sie saß ... - Ein bleiches, ebenmäßiges Gesicht, schwarzes Haar, kurzgehalten, fast wie bei einem Herrenschnitt, schwarzes Abendkleid und Abendmantel, schlanke, makellos geformte Beine und schwarze große Augen. Schwarze, samtene Augen unter Seidenwimpern ...

Dreizehn Jahre haben mich diese Augen festgehalten ab diesem Moment.

Dann kam die lange Zeit der langsamen Trennung, Zerfleischung der anderen Art, bis zur endgültigen Scheidung unserer Ehe.

Danach hatte ich nie mehr den Mut, mich richtig zu binden, auch nicht an die schöne Petra, die mich jetzt in der Theaterkantine erwartet.

Petras Einstellung passt dazu relativ gut, das lässt uns eine lockere, sozusagen tolerante Beziehung pflegen. Sie ist beinahe fünfzehn Jahre jünger als ich, gibt sich total emanzipiert und ihre jugendlich kumpelhafte Art wird mir manchmal fast zuviel.

Beim Eintreten in die Kantine entdecke ich sofort ihre blonden, langen Haare. Sie sitzt mit mehreren Tänzern am Ecktisch. Kay, unser Ballettdirektor, setzt sich gerade dazu.

Kurz, fast beiläufig begrüßt sie mich und vertieft sich sofort wieder in ihr Gespräch mit den Tänzern.

Kay brütet völlig introvertiert vor sich hin, kann sicher nicht abschalten, ist noch mitten drin in seinem neuen Werk - unserem neuen Werk.

Ein warmes Lächeln erhellt sein Gesicht, als er mich bemerkt. Manchmal, nein vielmehr oft, verstehen wir uns blendend ohne Worte.

An der Theke hole ich etwas zu trinken, eine Kleinigkeit zu essen und bringe Petra einen weiteren Wein mit. Die Diskussion ist jetzt erregter.

Garantiert werden Frauenprobleme behandelt wie meist, wenn sich ein paar Tunten mit einer Frau zusammen tun. Giftige Blicke treffen mich. Anscheinend muss es direkt mit mir oder ‚den Männern’ zu tun haben.

Es hat! „Wo warst du vorgestern? Ich war die ganze Nacht allein in deiner Wohnung! Wo warst du heute Nachmittag? Du bist unfair und unverschämt, mich einfach so warten zu lassen!“

Mann - sie nimmt einfach die Tunten zu Hilfe, um mir öffentlich, unter beifälligen Blicken, Vorhaltungen zu machen. Kays mitleidiger Blick trifft mich, als er, sich rasch entschuldigend, vom Tisch erhebt, um jemand zu begrüßen. Peinlichkeit breitet sich aus, scheint den Raum zu erfassen, und ich lasse mich ein, auf diese blöde Diskussion mit frustrierten Tunten und einer Scheinemanze, die plötzlich von Eifersucht befallen in der vollbesetzten Theaterkantine Besitzansprüche anmeldet. Links von mir, die füllige Sopranistin, deren Stuhl sich mit letzter Kraft gegen den Zusammenbruch wehrt. Ihr gegenüber unser Startenor, der mit etwas dümmlichem Ausdruck in jedem Satz Stimmübungen unterbringt, und ringsum unsere Chorsolisten, immer mit von der Partie, immer bereit, drum herum zu schwänzeln, um ein bisschen Ruhm abzubekommen, dabei lauern sie darauf, ihre Vorbilder zu beerben, warten auf ihre große Stunde, die Erkrankung, den Unfall, den Ausfall. Wollen einspringen, übernehmen, schon längst studiert, um endlich ihr Können zu zeigen, sind ja viel besser! - ‚Ein neuer Star ist geboren! ...’

Die Skat spielenden Musiker, die Komparsen, alle scheinen unsere dämliche Diskussion zu verfolgen, alle scheinen zuzuhören! Die ganze Kantine ist ein einziges großes Ohr, durch eine zur Muschel geformte hohle Hand verstärkt und vergrößert. Ich will raus, raus aus dieser Höhle, raus aus der Gehörwindung, bevor die hohle Hand zupackt!

Wütend schnappe ich Petras Jacke und Petra selbst. - Auf dem schnellsten Weg auf die Straße hinaus. Grob zwänge ich sie in ihre Jacke hinein.

„Mädchen, so geht es nicht! Nicht vor dem versammelten Haus! Ja, ich war bei einer Frau, ja, die ganze Nacht, ja, ich habe mit ihr geschlafen. Ich gehöre nicht dir, bin nicht dein persönlicher Besitz. Du lebst dein Leben, ich lebe mein Leben. Du hast deine Wohnung und wolltest es so, und ich habe meine Wohnung und bin froh darüber!“

Die große Emanze bricht heulend zusammen, ihre Sicherheit ist augenblicklich verschwunden.

Ich kann nun mal Frauen nicht heulen sehen, nicht einmal im Ballettsaal. Was mache ich mit ihr! Gewissensbisse überfallen mich, kläffende Hunde mit scharfen Zähnen beißen sich fest.

Ich nehme sie in die Arme und wir gehen einige Schritte, bis wir ein Taxi erwischen.

Als ich ihre Tränen abgewischt, ihr Gesicht abgetrocknet habe, steht der Wagen vor dem Bajass. Genau hier wollte ich nicht landen, muss es aber wohl als Ziel angegeben haben. Zahlen, aussteigen - kurzes Zögern. Schließlich gehen wir hinein, und Dero begrüßt mich mit großem Hallo.

Immer begrüßt er mich zuerst.

Zwei Viertel Wein - trinken - schweigen - trinken - schweigen. Große Augen eines waidwunden Tieres schauen mich klagend an.

Dero, mit der Grazie einer Ballerina und dem Charme eines besoffenen Elefanten, fragt nach Reni.

Plötzlich ist Leben da, Petra scheint zu explodieren!

Nichts ‚Blonde Venus, kühl ...’ und so weiter, nein, geballtes Temperament trifft auf mich, das ganze Persönchen bebt - so manche Tänzerin könnte ein Stück davon gebrauchen.

„Reni? Reni ist es! - Du hast mit ihr geschlafen! Ich hab’s geahnt. Die edle Dame, dieses scheinheilige Weib und du, du Schwein...“ Es prasselt auf mich herab, und ich bin nicht in der Lage, den Strom der Worte zu stoppen, eine Notlüge zu finden, um mich herauszuwinden. Nun ist’s bekannt, ausposaunt, hinausgeschrien, der ganze Laden weiß es und ich kann’s nicht mehr verhindern.

Als ertappter Sünder stehe ich allein im Regen!

Sensationslüsterne, anklagende Blicke der ‚Gerechten’ treffen mich wie Laserstrahlen.

Trotzdem möchte ich Reni entlasten, den Verdacht von ihr ablenken. Ungeübt, nicht trainiert im Lügen, verheddere ich mich und komme mir nur noch schäbig vor.

O.k., auch wenn sie jetzt die Oberhand hat, versuche ich meine gesamte Autorität aktivierend, beherrscht und ruhig, unsere momentane Beziehung zu definieren.

„Wir sind nicht miteinander verheiratet, und du selbst bist für diesen Zustand, in getrennten Wohnungen zu leben, um uns beiden den größtmöglichen Freiraum zu lassen. Du sprichst immer von Toleranz, von Einengung persönlicher Freiheit, vom absolut freien Willen zu kommen und zu gehen, wann du willst – um ja nicht abhängig werden, um Gotteswillen, keinen Haushalt führen - überhaupt am liebsten diese Machos und Chauvis in den Wind zu schießen!

Verzeih mir, wenn ich grob werde. Aber was soll diese Eifersuchtsszene, was sollen diese Besitzansprüche, wir haben beide keine gegenseitigen Versprechungen oder Verträge gemacht. Im Grunde bin ich doch auf deine Vorstellungen eingegangen und ich habe deine Ideen respektiert.

Wie stehst du jetzt dazu?

Funktioniert dies alles nur, solange es keine Krise gibt? Oder gelten bestimmte Regeln nur für dich?“

Schweigen. - Mein ‚Temperamentsbolzen‘ schweigt.

Die Umgebung ist für mich vergessen, weit weg gerückt. Trotz der Wand des Schweigens scheinen wir uns in einer engen Zelle zu befinden, begrenzt vom Lichtschein der schwankenden Lampe.

Petra streicht ihre schönen langen Haare in den Nacken. Ihre Wangen bilden kleine Mulden. So aufgerichtet wirkt sie größer und reifer. In diesem Moment erinnert sie mich an meine Frau.

Mein Gefühl zu Petra ist stark, auch jetzt. Ich konnte oder wollte es jedoch nie Liebe nennen. Dies wiederum hat mit meiner ehemaligen Frau zu tun, Petra weiß es, hat es - glaube ich - akzeptiert. Nun ist die Situation anders, unser tolerantes, freies Verhältnis ist nicht mehr zu halten. Ich verstehe ihre Gefühle, ihre Reaktionen und kann es vor ihr nicht zugeben!

Ein Teil von mir bewundert diese Frau, die vor mir sitzt, mit allen Mitteln kämpft und letztlich zugibt, gescheitert zu sein.

Wie war das noch mal mit dem persönlichen Freiraum?

Auch diese Idealform einer Verbindung schützt nicht vor Problemen.

Arme Petra.

Früh gegen vier Uhr landen wir in meiner Wohnung.

Petra erwies sich als sehr anhänglich, und ich schaffte es nicht, knallhart Schluss zu machen! Der Abend entwickelte sich zu einem schrecklichen Besäufnis, was im Bajass kein Kunststück ist. Mein Kopf brummt, und ich habe Schiss vor morgen.

Könnte zwar länger schlafen, aber nach so viel Alkohol ohne Training in die Probe? - Nein, er muss raus, der Alkohol! Also wenigstens ein paar Stunden Schlaf, dann Training, wie in jungen Jahren, nach durchsoffenen Nächten. Damals war ich stolz darauf, ohne Schlaf und trotz Alkohol gut zu sein.

Petra hat endlich schlapp gemacht, komplett angezogen liegt sie auf dem Bett. Erleichtert entkleide ich sie, das heißt, ich versuche es, doch dies erweist sich als äußerst schwierig.

Ein Gummikörper, der Schwerkraft gehorchend, in höchst komplizierten Kleidungsstücken - und der vielgerühmte Bühnenpartner großer Tänzerinnen, jetzt Clown mit lebensgroßer Gliederpuppe.

Im verwüsteten Schlafzimmer liegt sie am Schluss, mit einem kleinen frechen Slip bekleidet, auf meinem Bett.

‚Schade’, denke ich mit besoffenem Kopf.

‚Wecker an - Licht aus - schlafen!’

Den Tag habe ich verhältnismäßig gut überstanden.

Vor dem Training musste ich mich übergeben und war vom Gedanken, sterben zu wollen, nicht weit entfernt.

Schmiedehämmer im Schädel, auch im Training penetrante Übelkeit und noch mehr Schweiß als sonst, dabei wunderte ich mich wiederholt, wie meine Muskeln trotzdem so gut funktionieren konnten. Nachher ging es besser.

Die anschließende Probe war sehr anstrengend, doch Kay kam gut vorwärts. Nach der Probe sofort nach Hause. - Schonkost, Kateressen! Petra hatte das Feld nicht geräumt, aber (oh Wunder) aufgeräumt. Zusammengerollt wie eine Katze lag sie auf meiner Couch. Ein freier Samstag für sie, für mich ein Arbeitstag.

Sie beobachtete mich - meist schweigend. - Waffenstillstand!

Am Abend, um den Körper aufzuwärmen, ein kurzes Training, das halbstündige Exercice an der Stange des Ballettsaals, dann Vorbereitung zum Ballett Schwanensee.

Nun blickt mich aus dem Spiegel ein halbgeschminktes Gesicht an; ein Auge ist fast fertig, das andere farblos.

Meine Art mich zu schminken ist heute höchst seltsam. Sonst entsteht mein Bühnengesicht gleichmäßiger, jede Einzelheit führe ich auf beiden Seiten aus, erst links, dann rechts.

Heute geht es natürlich schief. Schief buchstäblich! Dieses Gesicht ist schief, passend zu meiner Situation. Schräg, ein schräger Typ, wie im richtigen Leben - selbst Prinzen sind oft schräge Hunde ... Wütend zerstöre ich mein Werk und beginne von neuem; die Zeit wird knapp!

Erstes Klingeln! - Jetzt, schon? Schnell das Kostüm. Mein Garderobier Willi hilft.

Zweites Klingeln. - Die letzten Griffe, ein prüfender Blick in den Spiegel. Sitzt alles?

Drittes Klingeln.

Mit edlem Gesicht rennt ein edler Prinz Siegfried auf die Bühne, viel zu spät, um sich einzutanzen und die Muskeln aufzuwärmen. Nervös erwartet mich meine Partnerin, Odette, die zum Schwan verzauberte Maria.

„Wo warst du?“

Die Frage wiederholt sich. Erst Petra, jetzt Maria!

Bevor ich antworten kann, erklärt mir Maria rasch:

„Unser Ritter Rotbart ist ausgefallen! Ich weiß nicht warum - keiner hat ihn mitstudiert, ich glaube Kay wird selbst einspringen müssen!“

Ein aufgeregtes Völkchen auf der Bühne, der Vorhang ist noch geschlossen, Kay nicht zu sehen - keiner weiß mehr.

Eine Routinevorstellung mit voraussehbaren Hindernissen liegt vor uns.

Es erklingt die Ouvertüre zu Schwanensee.

Die romantische Stimmung der Musik Peter Tschaikowskys will sich uns heute nicht mitteilen, Hektik bleibt.

Maria verschwindet.

Der erste Akt beginnt.

Ein Fest zum Anlass der Majorennität des Prinzen Siegfried.

Ich habe in der Rolle des Siegfrieds deshalb mehr oder weniger fast ausschließlich durch meine edle Anwesenheit zu glänzen. Die Königin, meine Mutter, wird von einer sehr spielbegabten Tänzerin dargestellt. Sie ist lustigerweise ein paar Jährchen jünger als ich, Berlinerin, und kann sehr komisch sein. Jetzt schreitet sie, ganz Grande Dame, auf mich zu, und während sie mir, wie einstudiert, mit pantomimischen Gesten erklärt, dass ich, ihr lieber Sohn, mir eine Braut zu erwählen hätte, und der Ernst des Lebens nun beginnen würde, zischt sie mir durch die Zähne zu:

„Det kann ja heiter werden! Kay hat keene Ahnung ... Ick freu mir jetzt schon uf seen Rotbart ... Ick bin ja jespannt wie er det schafft ...“

‚Mal sehen’, denke ich. Am schwierigsten wird es für Maria werden, denn sie tanzt den Weißen - und den Schwarzen Schwan, also eine Doppelrolle, die in gleicher Weise technisch sehr anspruchsvoll ist, und sie hat in beiden Rollen mit dem Zauberer Rotbart zu tun.

Mann! Auch das noch! - Fast hätte ich die Schwäne verpasst!

Das musikalische Thema erinnert mich im letzten Moment, und begeistert schaue ich mehreren, von unserem Bühnenbildner sehr geschickt stilisierten, fliegenden Schwan-Attrappen nach.

Ich habe mich gefangen und das Ballett kann weitergehen, denn im zweiten Akt gehe ich noch in derselben Nacht mit Freunden auf die Jagd am See.

Während unserer kurzen Pause bestätigt sich das Gerücht. Kay springt tatsächlich ein, sitzt sicher gestresst in der Maske - und unaufhaltsam rennt die Zeit.

Zweiter Akt: In der hellen Mondnacht trenne ich mich von den Freunden, um allein die romantische Stimmung am See zu genießen. Überraschend erscheint Odette, die Schwanenkönigin, mit ihrer gesamten Schar. Alle haben sich verwandelt. Der Zauberer Rotbart hat ihnen erlaubt, für einige Stunden menschliche Gestalt anzunehmen. Odette, die verzauberte Prinzessin, erzählt mir ihre Geschichte und hofft, von mir - wenn ich sie, nur sie und keine andere liebe - erlöst zu werden.

Dieser zweite Akt des Ballettmärchens Schwanensee ist der Traum aller Ballettmäuschen und Elevinnen. Selbst ausgebildete Tänzerinnen, träumen meist weiter davon, einmal auch hoffen zu dürfen, von einem Prinz Siegfried erlöst zu werden, wenigstens eine der anderen Prinzessinnen zu verkörpern oder bei den vier kleinen Schwänchen mittanzen zu dürfen. Wenn es nicht reicht, bleibt man halt in der Gruppe. Hauptsache ‚auf Spitze stehen’ im Tutu, mit langem Hals und grazilen Armen, geschrumpfte Schwanenflügel um den Kopf gewunden, Mittelscheitel und kleinem Haarknoten im Nacken.

Ein Traum in Weiß. Ein Traum vom Fliegen. Ein Traum von Leichtigkeit, Eleganz und ästhetischer Schönheit schwebt auf Spitzenschuhen durch Jahrhunderte!

Was mache ich alter Esel eigentlich in diesem Traum?

Den ‚Pas de Deux’, in dem Odette und Siegfried einander ihre beginnende, zarte Liebe erklären und der zu einer innigen Umarmung führt, tanzen wir beide sehr gut.

In diesem Moment liebe ich Maria wirklich, sie ist eine phantastische Partnerin.

Jetzt muss Ritter Rotbart erscheinen, der böse Zauberer.

Mit etwas Verspätung erscheint er - dargestellt von Kay, unserem Ballettchef. Gut getroffen - diese Rolle passt zu ihm.

Zwei Tänzer, ein Gedanke. Wir können uns kaum halten und kichern in uns hinein, als er nun wie wild zu improvisieren beginnt. Ich zittere - vor verhaltenem Lachen, nicht aus Angst - indes ich meine Armbrust auf ihn anlege, um ihn zu töten. Und Maria fällt von der Spitze, derweil sie mir, mit weit ausgreifender Arabesque, Einhalt gebietet. Geschickt rettet sie sich in eine abwehrende, Rotbart schützende Pose.

Kays erster Auftritt ist beendet, Ritter Rotbart verschwindet.

Der Tanz hat uns wieder! Disziplin kehrt ein, und unser großer ‚Pas de Deux’ gelingt sehr gut.

Hinterher einige weitere Solis verschiedener Solisten, dann der ‚Pas de Quatre’, mit den berühmten ‚vier Schwänchen’.

Bei meiner Variation fühle ich mich leicht, es gelingt mir alles, aber wirklich großartig ist Maria. Hinreißend tanzt sie die Variation der Odette. Einige wenige sind technisch besser, aber wohl kaum jemand ist so ausdrucksstark wie sie. Einmal mehr bin ich verzaubert, bis mich Rotbart zurückholt in die Wirklichkeit unserer Vorstellung.

Kay, als dämonisch böser Flatterflügler, hält mich zurück, den Mädchen und Odette in den See zu folgen, wo sie sich erneut in Schwäne verwandeln müssen.

Glücklich küsse ich Maria nach ihrer gelungenen Darstellung in diesem Akt.

Die Pause nütze ich auf Kays Bitte hin, um im Ballettsaal mit ihm den weiteren Part Rotbarts sozusagen im Schnellgang durchzugehen.

Marias Tanz begeistert auch ihn und bei aller Sorge um sich selbst, hofft er, Maria und die Kompanie im dritten Akt nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Unser Publikum ist heute gut, obwohl es keinen freien Kartenverkauf gab. Die Leute reagieren spontan und gehen bis jetzt begeistert mit. Das hilft zu tanzen, selbst in der Gruppe spürt man es.

Im dritten Akt empfange ich zusammen mit meiner Mutter die Gäste im Schloss. Einige erbieten ihre Reverenz in heimatlicher Tracht und mit ihren Nationaltänzen. Unter sechs Edelfräulein soll ich auf Wunsch meiner Mutter eine Braut aussuchen. Ein hübscher ‚Pas de Six’, in dem ich mich für keine der Damen entscheiden kann. Als überraschender, ungeladener Gast kommt Ritter Rotbart mit seiner Tochter Odile. Vollständig in schwarz gekleidet fasziniert sie mich sofort.

Odile wird mich täuschen: sie hat die Gestalt Odettes, meines geliebten weißen Schwans angenommen.

Maria tanzt und spielt auch den Part Odiles, des ‚Schwarzen Schwans’. Sie ist feurig, verführerisch-schön, von Ritter Rotbart unterstützt und präsentiert.

Die kurze Probe in der Pause macht sich bezahlt, Kay spielt hervorragend, und Maria tanzt wie die Tochter des Teufels.

Doch plötzlich passiert es: Die Bewegungsfolgen von Maria und Kay sind ohne Probe natürlich nicht aufeinander abgestimmt. Kay muss wohl oder übel improvisieren, ich bin mit im Spiel, aber zwei Personen werden ihm zuviel.

Während er - Odile ununterbrochen präsentierend - mich abwehrt, um mich jedoch ständig weiter aufzureizen (auf der persönlichen Ebene ist ihm das schon lang gelungen), geht er wieder einen verkehrten Weg, und sein Mantel, mit dem er groß agiert, gerät Maria bei einer schnellen Arabesque unter die Spitze ihres Schuhs.

Bei seiner nächsten Bewegung, einer raschen Drehung, reißt Kay seinen Mantel unter Marias Spitzenschuh weg und sie fällt wie in Zeitlupe. Ich versuche sie zu retten, verfange mich im weiten Mantel des Zauberers. Erst Maria, dann ich, als letzter ebenso noch Kay, alle drei landen wir auf dem Boden, natürlich in sehr aristokratischer Haltung, in einem wüsten Knäuel.

Dirigent und Orchester spielen ungerührt weiter.

Um uns ein Geraune und Gekicher.

Die Prinzenmutter eilt geistesgegenwärtig herbei, um uns besorgt zu helfen und spielt gestikulierend, um das Publikum abzulenken, dabei kommt ihre komische Begabung voll zur Wirkung. Epidemieartig breitet sich verhaltenes Lachen aus und steigert sich, weil wir, durch den Stoff des weiten Mantels gehindert, große Mühe haben, auf die Beine zu kommen.

Eigentlich müsste der Vorhang fallen.

Gnadenlos spielt unser Orchester, die Bühne bleibt offen.

Kay reißt sich wütend den Mantel ab, und zischt dabei dauernd: „Tanzt weiter! Tanzt weiter!“

Als ob man uns dies auch noch sagen müsste!

Irgendwie schaffen wir es schließlich. Wir versuchen das Publikum wieder zu fesseln, um die peinliche Situation schnell vergessen zu machen.

Die wenigen Momente, in denen ich Maria beobachten kann, erfüllen mich mit Stolz. Dieser ausdrucksstarken, genialen Tänzerin gelingt es, auch den ‚Schwarzen Schwan’, diese Typisierung des Bösen, so überzeugend zu verkörpern, dass ich gerne bereit bin, um ihre Hand zu bitten. Sie ist die Auserwählte, sie möchte ich heiraten.

Das Gute, die Reinheit und Unschuld des ‚Weißen Schwanes’, rettet mich im letzten Moment vor dem Schlimmsten: Odette erscheint, wie eine Vision, und ich muss erkennen, dass ich getäuscht wurde.

Dem heimtückischen Zauberer Ritter Rotbart - Kay, der mit seinem nun um den Arm gewundenen Mantel eine recht unglückliche Figur macht - ist es mit Hilfe seiner bösen Tochter gelungen, mich zu überlisten. Ich habe mein Versprechen und meinen Schwur gebrochen, mit dem ich Odette aus des Zauberers Hand erretten wollte.

Triumphierend verlässt er nun mit Odile das Schloss. Kay gelingt dies nicht sehr überzeugend. Im letzten Moment stolpert er ein weiteres Mal über seinen eigenen Mantel und landet krachend in der Kulisse.

Der liebe Kay klaut uns heute die Show. Unser ‚Pas de Deux’ war so gut wie selten, und bei meiner Variation, die mit höchsten Schwierigkeitsgraden geradezu gespickt ist, glaube ich, dem Niveau Marias wirklich ebenbürtig gewesen zu sein. Aber gegen diese Klamotte von Kay kommt ja keiner an! Wie der Teufel persönlich, rast er jetzt hinter der Bühne hin und her.

Unglücklich muss ich nun enteilen, um meine geliebte Odette zu finden.

Der Vorhang fällt.

In diesem ursprünglich befreienden Moment ist mir gar nicht wohl zumute.

Kay tobt, endgültig sauer auf sich selbst, denn ein kicherndes oder gar lachendes Publikum im vierten Akt - undenkbar, aber nach dem Geschehenen nicht ausgeschlossen.

Aus der Gasse beobachte ich den Beginn des vierten Aktes: Es ist Nacht am See, die Schwäne sind abermals in menschlicher Gestalt. Sie erwarten traurig tanzend ihre Königin. Maria, jetzt wieder als Odette, tritt auf; enttäuscht und niedergeschmettert beweint sie ihr Schicksal. Im Kreis der gefiederten Gefährtinnen, gleitet sie traurig zu Boden.

Zeit für Prinz Siegfrieds Auftritt: Aufgewühlt und atemlos finde ich Odette, um ihr von Rotbarts gelungener Täuschung zu berichten.

Meine ewige Liebe gehört nur ihr, Odette allein. Sie erhört mich und verzeiht.

Kays letzte Aktion, mit weitem, wehenden Mantel steht er drohend auf hohem Fels über dem See - fast erscheint er mir als sein eigenes Symbol, er dominiert hier auf der Bühne, in diesem Haus, dieser Kompanie. - Meine eigenen Bemühungen, Choreograph zu werden, sind zum Scheitern verurteilt, solange er die Position des Direktors und Choreographen innehat. In diesem Moment, in dem ich Odette gegen die Macht des Zauberers Rotbart zu schützen versuche, wird dies mir bewusst.

Die Kraft der Liebe Odettes und Siegfrieds bricht die Macht Rotbarts. Der böse Zauberer rächt sich, indem er das Wasser des Sees über das Ufer treten lässt und wir in den sturmgepeitschten Wellen (fallschirmseidener Stoffbahnen) als wehrlose Menschen ertrinken müssen.

Doch unsere vereinten Seelen steigen auf zum Himmel, über dem sich beruhigenden See.

Geschafft! - Gut geschafft?

Ja! Das Publikum verzeiht uns die ungeplanten, lustigen Einlagen wohlwollend, und der Beifall steigert sich zu erstaunlicher Stärke.

Maria ist glücklich, sie weiß, dass sie gut war. Mit der majestätischen Grazie der Schwanenkönigin nimmt sie ihren Beifall bewusst entgegen. Ich bin natürlich auch froh, stelle aber für mich fest: ‚... In letzter Zeit denke ich zu viel, viel zu viel für einen Tänzer. Ein Tänzer denkt nicht - beim Tanzen ... - Wenn er denkt, beim Tanzen ...’

Kay wächst über sich selbst hinaus, gratuliert uns, bedankt sich für unsere Hilfe.

Wieder mal einen Ballettabend gut geschafft.

Sie werden weniger für mich, die Guten! Wie viele sind mir noch vergönnt, wie viele darf ich noch tanzen?

Dieser Abend geht sicher in die Ballettgeschichte ein, wird weiter erzählt werden. Lustiger, komischer, ausgeschmückt mit Details, von denen die Beteiligten nicht einmal wussten und vielleicht eines Tages mit anderen Protagonisten wieder zurückkehren zu dem eleganten älteren Herrn, der früher ein bekannter Tänzer gewesen sein soll und dessen dunkle Augen manchmal ein Leuchten erhellt, wenn er versucht den Moment der Schwerelosigkeit zu erklären. Jenen Moment, in dem man glaubt, in der Luft zu schweben, von der Musik getragen, diesen einzigartigen Moment, in welchem man eins wird mit der Musik, sie nicht mehr bewusst hört, sondern intuitiv ihr folgend empor getragen wird, sich in die Luft schraubt - und die Bretter, welche die Welt bedeuten, zum Sprungbrett degradiert, zur kaum mehr spürbaren Hilfe für Höhenflüge.

Der Beifall ist warm, und er sagt mir, dass ich es immer noch schaffen kann und wohl noch viele Abende tanzen werde.

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LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS

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