Читать книгу LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS - Ben Brandl - Страница 8

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1 Irgendwo unter Menschen in einer großen Stadt

Noch einen Scotch mit Eis und Wasser!“

„Red Label?

„Wie bitte?“ Zerstreut fuhr er sich durch dunkle widerspenstige Haare.

„Ja, ja!“ Er sah einen Moment auf und blickte in sanfte braune Augen.

Sie hatte ihn bereits einige Zeit angesehen. Immer, wenn in einem Moment nicht soviel los war, konnte sie ihn beobachten. Sie fühlte sich von ihm angezogen, er machte sie neugierig. Heute waren weniger Gäste da und langsam leerte sich das Lokal. Bald würde Schluss sein. An der langen Theke standen ein paar Angetrunkene herum und erzählten sich Witze. Im Halbdunkel des Raumes bemühten sich aufreizende Mädchen um langweilige Männer.

Das Geschäft war heute Nacht mäßig.

Während sie spülte und aufräumte, beobachtete sie ihn erneut. Er trank mit kräftigen Zügen, starrte in sein Glas, bewegte die Eiswürfel, starrte auf die dann kreisenden Eiswürfel und schüttete schließlich den Rest hinunter. Aus Routine hatte sie mitgezählt, zehn Scotchs waren es bis jetzt.

Michael bemerkte ihr wie beiläufig überspieltes Interesse.

Whisky machte seinen Kopf klarer, linderte den scheußlichen Druck im Kopf. Endlich stellte sich dieses leichte Schweben ein, das ihm seinen Zustand erträglicher erscheinen ließ.

„Noch einen!“ Mit einer kleinen eleganten Geste, die etwas befremdend auf sie wirkte, hatte er die Bardame zu sich gewinkt. Sie bemühte sich, streng zu sein.

„Wir machen gleich zu.“

„Einer geht schon noch!“ Er zeigte plötzlich überraschend ein charmantes Lächeln, das sie einen Moment verwirrte, und schnell schenkte sie ihm nach.

‚Unheimlich der Typ, passt so gar nicht hier herein.’ Sie wandte sich den Witzreißern zu und spürte seinen Blick im Rücken.

Erst jetzt schien Michael sie zu bemerken, prüfend betrachtete er die Bewegungen der Frau. Sie war nicht mehr die Jüngste, leicht rundlich, mit großem, schönem Busenansatz, der ihn neugierig machte. Auf Grund ihres geschickt, aber zu stark geschminkten Gesichtes ließ sich ihr Alter kaum schätzen.

Sie bemerkte, wie sein Blick sie sukzessiv auszog und fühlte sich angenehm berührt.

Blondierte Haare, braune Augen, sinnlicher Mund, die etwas üppige Figur gut eingepackt, so ähnlich hätte Marylin Monroe ausgesehen, wenn sie einige Jahre älter geworden wäre. Michael spürte, zum ersten Mal seit langem, wieder das Verlangen nach einer Frau.

Verwundert wischte er sich über die Augen.

„Einen letzten noch. Trinken Sie einen mit?“, er ließ bewusst seinen Charme wirken.

„Wenn sie unbedingt wollen. Ist in dem Fall wirklich der letzte!“

Sie angelte sich die Flasche und schenkte zwei Gläser ein. Wasser und Eis war noch genügend da und sie wunderte sich erneut, wie viel ihr eigenartiger Gast schlucken konnte, ohne dass er sich merklich verändert hätte.

Oder doch? Sein Gesicht wurde aufgeschlossener, lebhafter. Seine Augen nahmen sie gefangen.

„Zum Wohlsein!“ Sie saß ihm gegenüber. Ihre Blicke saugten sich ineinander fest und sagten alles ohne Worte. Abrupt riss sie sich los.

„Ich muss Feierabend machen, Sperrstunde!“ Sie wandte sich ab. „Komm morgen wieder, mein Süßer.“

Michael war verletzt und gab grob retour.

„Ich bin nicht dein Süßer, merk dir das!“

Sie hatte gelernt, mit Männern umzugehen - mit betrunkenen Männern an der Bar. Sie war es gewohnt, angestarrt zu werden. Fast jeden Abend machte sie einer dieser Typen an. Irgendwann dachte man nur noch ans Geschäft. Kohle machen!

Wenn man Glück hatte, entwickelte sich ein nettes Gespräch und der Job blieb nicht so stumpfsinnig.

Michael starrte ihr wütend nach, beobachtete sie, wie sie routiniert abkassierte und die letzten Gäste verabschiedete.

„Ich bezahl dann bitte!“ Er war sich nicht im Klaren darüber, was er tun sollte.

Er wollte weiter trinken, er wollte auch die Frau, aber ihre Ablehnung schien ihm deutlich genug, und die Kneipe würde gleich schließen.

Nur nicht nachdenken. Nicht über Frauen nachdenken.

‚Es ist doch zu blöd, dass man sie manchmal braucht!’

Sie war jetzt bereit zu kassieren, zögerte es dennoch hinaus. Eigenartige Angst hielt sie plötzlich zurück. Angst, dass er einfach gehen würde.

Die letzten Animiermädchen hatten ihre Freier abgeschüttelt, verabschiedeten sich augenzwinkernd, als sie sich endlich überwand, bei ihm abkassierte und ihn fragte:

„Willst du auf mich warten, ich muss nur kurz abrechnen?“

Ihre rauchig dunkle Stimme zitterte ein wenig.

Michael hatte schon fast abgeschaltet, wollte sie schon aufgeben, war mehr mit der Frage beschäftigt, wo und wie er weitertrinken könnte. Er versuchte den gerade erreichten Schwebezustand zu erhalten. Seit einigen Tagen tauchte er nur für kurze Momente aus seinen schrecklichen Depressionen auf und von neuem drohte er abzuschmieren in das dumpfe Brüten des Alkoholikers.

Er reagierte nicht, und sie fragte ihn noch mal.

„Willst du auf mich warten?“

„Gib mir noch einen Scotch.“ Er wirkte nicht mehr abweisend und sie schenkte ihm schnell nach.

Sie hatte das Gefühl, ihn seit langem zu kennen.

Ihre Abrechnung dauerte beträchtliche Zeit, weil sie sich heute schlecht konzentrieren konnte. Dann war allerlei aufzuräumen, sie löschte die Beleuchtung und als sie zuletzt zu ihm kam, war er über seinem Glas eingeschlafen.

Während sie ein Taxi rief, beobachtete sie ihn wieder.

Im Halbdunkel des normalen Oberlichts, das wie immer eine trostlose Atmosphäre verbreitete, betrachtete sie sein unruhig zuckendes Gesicht.

Es wirkte verlebt, aber schön, fast zu schön für einen Mann. Sein Kopf war auf den Oberarm gesunken, welcher auf der Bartheke lag, und nervige, gepflegte, vermutlich sensible Hände hielten sich am Whiskyglas fest.

Unwillkürlich dachte Sie:

„Man muss ihn beschützen!“

Michael wirkte fast zerbrechlich, verletzt, leidend. In seinem erschöpften, angetrunkenen Zustand wurden die Spuren der letzten Jahre stärker sichtbar. Sie hatten sich in sein ebenmäßiges Gesicht eingegraben.

Die letzten Nächte in denen er sich systematisch voll soff, um zu vergessen, in denen er sich restlos durchhängen ließ und seinen Depressionen nicht standhielt, trugen wesentlich dazu bei. Die Jahre des Erfolgs rächten sich bei ihm. Abgehalftert, ausgeschieden, auf der Strecke geblieben. Man brauchte ihn nicht mehr.

In seinem Beruf war er ganz oben gewesen, er schaffte es ein weiteres Mal, höher hinauf, vor kurzem war er noch ein Liebling der Götter, talentiert, kreativ, voller Tatkraft und Glück.

Sein Absturz schien ins Bodenlose zu gehen. Er hielt einige Zeit stand, wehrte sich, versuchte immer wieder zu arbeiten. Aber er hatte zu viel verloren.

Sie ahnte nichts von alldem, obwohl sich ein fast mütterliches Gefühl in ihr regte, ein warmes Bedürfnis, ihn in ihre Arme zu nehmen. Für sie ging eine starke Faszination von diesem Mann aus.

Automatisch strich sie ihm vorsichtig und zärtlich über die Haare.

Erschreckt und nervös fuhr er hoch. Er fand sich nicht sofort zurecht und stürzte seitlich zwischen die Barhocker.

Sie stand wie erstarrt hinter ihrer Theke und konnte ihm nicht helfen.

Michael richtete sich mit größter Mühe wieder auf. Er hasste es, seine Körperkontrolle zu verlieren. Den Kopf einnebeln ja, nicht mehr denken müssen ja, allein, der Körper musste gehorchen.

Es gelang. Sein über viele Jahre gut trainierter Körper ließ sich einigermaßen kontrollieren, zumindest das, was er ihm jetzt abverlangte, brachte er.

Die Zeit schien sich zu dehnen, und sie beobachtete ihn schweigend.

„Ich hab ‘ne Taxe bestellt, wir können gehen. - Danke, dass du gewartet hast!“

Etwas gehemmt, wusste sich, die mit Männern sonst so Routinierte, jetzt nicht gut auszudrücken.

Michael murmelte Unverständliches, ihm war es recht so.

Schweigend verließen beide den Laden, und sie schloss ab, als Michael draußen tief durchatmete. Es wurde bereits hell und lautes Vogelgezwitscher erinnerte daran, dass es Frühling war. Zu gerne wäre Michael zu Fuß gegangen - egal wohin, doch das bestellte Taxi bog schon um die Ecke.

Im Taxi gab sie ihre Adresse an, und Michael hatte nichts dagegen.

Während der Fahrt durch das morgendliche Berlin fasste sie seine Hand, die er ihr nicht entzog, und sie schwiegen sich weiter an. Michael ließ sich gleiten. Nach einem scheußlichen Übelkeitsanfall ging es ihm etwas besser. Die Hand der Frau war angenehm, lag ruhig in seiner, hatte etwas Tröstendes.

Vielleicht würde er mit ihr schlafen.

Er sah sie wieder vor sich, wie sie vorhin hinter der Theke stand, aufreizend fraulich, sexy. Einem plötzlichen Reflex folgend, nahm er sie in die Arme.

Überrascht von seiner Heftigkeit reagierte sie sehr langsam, bis sie endlich seinen Kuss leidenschaftlich erwiderte.

Der Raum wurde zu klein.

Verlangend, fordernd fielen sie übereinander her. Gewalttätig küssten sie sich, bis der Geschmack von Blut auf ihren Lippen spürbar wurde und sie kämpften miteinander, als der Fahrer den Wagen zum Halten brachte.

Eines der typischen alten Berliner Mietshäuser nahm sie auf. Knarrende Treppen waren rasch überwunden. Die schwere Türe fiel ins Schloss. Düstere bunt-plüschige Räume öffneten sich. Ihr Kampf ging weiter, bis alle Kleider vom Leib gerissen waren und ohne Rücksicht, laut und wild, gaben sie sich gegenseitig alles, was sich bei ihnen aufgestaut hatte.

Johanna Kain, in ihrer Bar kurz „Jo“ genannt, lebte allein. Freunde halten sich nicht lang, bei dem Job, wenn sie nicht gerade aus dem Milieu kommen.

Sie blieb hängen in dem Geschäft, weil eine große Liebe von ihr aus dem Milieu kam. Seit einigen Jahren saß er zum zweiten Mal im Knast, und obwohl sie sich schon vorher getrennt hatten, hing sie an dem Kerl.

Heute wachte Jo früh auf.

Lange betrachtete sie den Mann an ihrer Seite.

Sie fühlte sich angenehm relaxt und, zu der für sie ungewöhnlich frühen Stunde, erstaunlich gut ausgeschlafen.

Sie mochte den Mann, auch jetzt. Sein Geruch war ihr angenehm. Vorsichtig bewegte sich Jo, widerstand ihrem starken Bedürfnis ihn zu streicheln.

Warum hatte sie wieder das Gefühl, ihn beschützen zu müssen; ausgerechnet sie?

Sie entschloss sich aufzustehen - räumte, sich nahezu geräuschlos bewegend, die umhergestreuten Klamotten auf - machte sich kurz notdürftig frisch, und verließ die Wohnung.

Übelkeit riss ihn aus dem Schlaf. Er wollte nicht wach werden, wollte zurück in seine Träume. Obwohl es Alpträume waren wollte er zurück. Seine Übelkeit ließ es nicht zu. Seine Beine schienen ihm unbeweglich schwer, wie in Beton eingegossen.

War es noch ein Traum?

Pochender Schmerz im Kopf und der schale Geschmack im Mund zwangen Michael in die Wirklichkeit eines hellen bunten Zimmers. Ein schwarzer Schatten floh vom Bett und seine Beine wurden befreit von der Last eines großen schwarzen Katers, der ihm jetzt gegenübersaß und ihn regungslos, neugierig anstarrte.

Jo befand sich auf dem Weg zu ihrem Bäcker - ursprünglich um einzukaufen, ein großes Frühstück konnte sie aus ihren vorhandenen Vorräten nicht anbieten - plötzlich wurde ihr klar, dass sie ihm eine Chance lassen wollte. Er könnte so, ohne peinliche Ausreden und Lügen, verschwinden.

„Wenn’s für ihn eine einmalige Sache war, ist’s für mich besser, wenn ...“

Es würde ihr wehtun, aber es bliebe wenigstens eine schöne Erinnerung, ohne faden Nachgeschmack.

Jo wollte nicht weiterdenken, sie hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt.

Ziellos bummelte sie eine Zeitlang durch die Straßen, bis sie vor einem Blumenladen stand. Nebenan war ein Café.

Das schwarze heiße Getränk weckte ein schlechtes Gewissen. ‚Vielleicht ist doch alles ganz anders!’ Zu gerne hätte sie es geglaubt. Er war anders, anders als die Männer mit denen sie zusammen gewesen war. Sie hatte Angst. Angst ließ sie weglaufen. Und Angst, ihn wieder zu verlieren, machte ihr das schlechte Gewissen.

Man gewöhnt sich daran, allein zu sein, und igelt sich ein, schafft sich einen schützenden Mantel. Dabei wäre alles so einfach:

„Ich liebe ihn, ich glaube ich liebe ihn - und weiß nicht mal, wie er heißt!“

Jo war drauf und dran zu heulen und wagte sich nicht nach Hause - ihr Zuhause.

„Scheißkerle, alle! - Alles Scheißkerle!“

Bei ihrem zweiten Kaffee entschloss sie sich.

Sie hatte immer noch nichts gegessen, also kaufte sie ein, für zwei, reichlich, einfach für den Fall, den sie sich insgeheim wünschte. Der Weg nach Hause kam ihr endlos vor. Fliegen wollte sie, aber eine Schnecke schien ihr schneller vorwärts zu kommen, selbst ohne denkbares Ziel.

Was war ihr Ziel? Worauf ließ sie sich ein?

Was wünschte sie sich wirklich?

Kreischende Reifen, ein aus dem Fenster schimpfender Mann. Schnell rannte sie vollends über die Straße. Aufgeschreckt ging Jo weiter, hastete um die Ecke und stand einen Moment atemlos, als sie ihr Haus endlich sehen konnte; schäbig war es, seit Jahren nicht mehr renoviert, mit großflächig abbröckelnder Jugendstil-Putzfassade.

Jo schämte sich ein wenig. Zögernd ging sie darauf zu, auf das schäbig gewordene, alte Mietshaus.

Michael hatte den Blick des regungslos starrenden schwarzen Katers, in diesem bunten Zimmer, nicht länger ausgehalten und sich mühsam aus dem Bett geschält. Er inspizierte zunächst die Wohnung, um etwas Flüssiges zu finden.

Durch die Helligkeit des Tages war alles Düstere aus den großen Räumen verschwunden. Lichtdurchflutet bot sich ihm eine kitschige Disney-World ohne gute Fee dar; plüschig, mit Teddybärchen und anderen Tierchen, in allen Größen, auf jedem freien Platz. Für Michaels Zustand zu bunt, zu grell. Und mitten drin der große schwarze Kater, mit dem er sich noch nicht angefreundet hatte.

Alles war ihm eigenartig vertraut, als wäre er schon mal hier gewesen. Kitschig, plüschig, verstaubt, abgestandene Luft und kalter Rauch, ein schwarzer Kater, - auch eine Bardame, blutjung, knackig, scharf, ebenfalls in Berlin, - er, blutjung, Anfänger, zum ersten Mal an einem Haus, seine ersten großen Chancen, die große Hoffnung des Balletts der Deutschen Oper Berlin; - und er hatte sein kostbares Talent im Bett einer Bardame vergeudet.

Im überdimensionalen Kühlschrank fand er, was er suchte. Das kalte Bier war seine Rettung.

Danach legte sich Michael abermals ins Bett, er verfolgte die Wirkung von Restalkohol und Nachgeschüttetem. Sein Zustand verbesserte sich innerhalb etwa einer halben Stunde so, dass er aufstehen konnte. Aus alter Routine begann er mit einem Körpertraining, das er sich als Choreograph angewöhnt hatte, und der dicke schwarze Kater beobachtete seine eigenartigen, schweißtreibenden Verrenkungen.

Während er noch als Tänzer arbeitete, war es für ihn ein Gesetz gewesen, im Ballettsaal mit den Kollegen zu trainieren. Später hielt er sich in Form, indem er am Morgen nach dem Aufstehen trainierte, nicht regelmäßig, aber immer dann, wenn sich keine Gelegenheit bot, bei einem Tänzertraining mitzuarbeiten.

Endlos lange Zeit schien ihm seither vergangen.

War er nicht erst vor einigen Tagen hier an der Oper gewesen, zu einer Besprechung, die eine seiner frühen Choreographien betraf? War er nicht eigentlich nur deshalb hier in Berlin? Oder bildete er sich’s nur ein? Spielte ihm seine überbordende Phantasie einen Streich? Täuschte er sich selbst?

Ulla hatte er getroffen, da war er sich sicher, seine ehemalige Tänzerin Ulla. Alle seine langsam vernarbten Wunden wurden wieder aufgerissen. Dann war er versackt, restlos versackt, mit viel zu viel Alkohol.

Und jetzt auch noch das - besoffen - ohne sich zu schützen ...

Was er sich mehrmals geschworen hatte - an drei frischen Gräbern musste er sich’s schwören, nacheinander; nur wenige Monate, dann nur Wochen lagen dazwischen - heute Nacht hatte er seine Schwüre gebrochen!

Keuchend arbeitete er weiter. Michael kasteite sich geradezu, wie um sich selbst zu bestrafen.

„Geschehen ist geschehen! - Zu spät für Reue!“

Zwei seiner Tänzer waren an AIDS gestorben - junge kräftige Menschen. Und davor Kai, sein Chef. Er war der erste in seiner unmittelbaren Umgebung gewesen, der AIDS bekommen hatte, und Michael musste aus nächster Nähe das tragische Endstadium miterleben.

Manchmal hatte Michael Sehnsucht nach dem Tod, gerade in letzter Zeit war er zu müde geworden um zu kämpfen, aber auf diese schreckliche Weise wollte er nicht sterben.

Kaum hatte er sein kurzes Training einigermaßen hinter sich gebracht, wurde Michael von Übelkeit überwältigt. Er stürzte zum WC, um dem Unvermeidlichen seinen Lauf zu lassen.

Jo hörte ihn schon auf der Treppe zu ihrer Wohnung, und ihr Kater empfing sie an der Tür, als sie eintrat. In der Küche strich er ihr um die Beine, bis sie ihm endlich zu fressen gab.

Entleert, zitternd und schwach, kletterte indessen Michael in die Badewanne unter die Brause. Er glaubte sich allein und duschte ausgiebig. Große bunte Handtücher hingen in dem altrosa gekachelten Bad und durch bunte Fenster fallende Sonnenstrahlen spendeten ein schmeichelnd weiches Licht.

Als er sich gründlich abfrottierte, ging es ihm allmählich etwas besser. Ein Rest von Bier, aus der angebrochenen Flasche, würde sicher etwas ausgleichen, denn restlos nüchtern wollte er ja nicht werden, er wollte nur nicht mehr leiden.

Immer noch unbekleidet ging er in die Küche und stand plötzlich vor Jo. Um ihre Beine strich schnurrend der Kater. Betreten - verwirrt standen sich zwei gänzlich unterschiedliche Menschen gegenüber. Nur das Schnurren des schwarzen Katers unterbrach die Stille.

Michael wurde seine Nacktheit bewusst, und Jo war erstaunt, den Körper eines Jünglings vor sich zu sehen. Beide waren äußerst verlegen. Ein Sonnenstrahl traf Michaels nackte Füße und der schwarze Kater strich um sie, schnurrend, mit rundem Katzenbuckel. Winzige Staubpartikel schwebten langsam auf und ab im Licht, das sich seinen Weg suchte, und wieder fanden sich ihre Augen, fragend, ein wenig ängstlich.

Jo fasste sich zuerst:

„Das ist Maximilian, mein einziger Bezugspunkt und Hausgenosse und ich bin Johanna, meistens werd ich ‚Jo’ genannt.“ Mit einer fast schüchternen Geste streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

Jo wirkte mädchenhaft, das Gesicht zart gerötet von der frischen Luft.

„Michael!“ - Förmlich, hölzern - alles weltmännisch Elegante schien von ihm abgefallen - gab er ihr die Hand. Doch als sich beider Hände berührten, sprang der Funke über.

Als wär’s die einzig mögliche Art der Verständigung zwischen ihnen, klammerten sie sich an das Verlangen ihrer Körper, taumelten aus der Küche, in eine Arena lieblicher, bunter Plüschtiere, die dem Paar schweigend zusahen.

Das wenige, was Jo und Michael verband, gewann die Oberhand und beide versuchten gar nicht erst sich zu rechtfertigen.

Am Nachmittag nahmen sie etwas zu sich, Jo musste zur Arbeit und Michael blieb.

Im grellbunten Ambiente der großen Altbauräume hing noch der Geruch sich liebender Menschen.

Maximilian der Kater schloss Freundschaft mit Michael, welcher jetzt, wo er allein war, seine Erinnerungen nicht mehr verdrängen konnte.

Bei der Besprechung in der Oper hatte er, wie so oft in den letzten Monaten, wenn er sich gedemütigt fühlte, überreagiert. Anstatt dass er dankbar gewesen wäre, nachdem sich die Direktion überhaupt für seine Choreographien interessierte, fühlte er sich gedemütigt durch die Art und Weise, wie sie mit ihm umgingen. Wütend, ohne auf eine mögliche Einigung zu warten, hatte er die wichtige Besprechung verlassen.

Und mit Ulla, einer seiner ehemaligen Tänzerinnen, die er am Abend traf, verbanden ihn zu viele Erinnerungen an eine Zeit, in der er glücklich, erfolgreich und voller Ideen gewesen war, aber auch Erinnerungen an die letzten Tage von Kai, seinem Meister und Mentor, und dessen tödliche Krankheit.

Nur wenig später zwei weiteren Todesfälle, durch dieselbe Krankheit. Seine ersten großen Niederlagen, sein chaotisches Privatleben, welches er nicht mehr in den Griff bekam. Und danach so viel sinnlos verlorene Zeit ...

Maximilian, der sich bei Michael eingerollt hatte, leckte ihm die Finger und das mächtige Bedürfnis sich zu betrinken überkam Michael wieder, obwohl er wusste, wie sehr gerade dies für ihn verlorene Zeit sein würde. Zweifellos war es zugleich eine Zeit, in der er sich nicht rechtfertigen musste, die einzige Kraftanstrengung war dann, die Wirkung des Alkohols zu verfolgen, bis das Vergessen möglich wurde.

Unbeherrscht und wütend schleuderte Michael den Kater von sich. Er verließ das Haus in der Dämmerung.

Heute fand Jo zu ihrer Bestform, sie spielte mit den Männern wie auf einem Xylophon, schon der leiseste Anschlag brachte Schwingungen hervor, die sie geschickt nutzte, so dass die Kasse stimmte, und sie war charmant zu den wenigen Frauen.

Manchmal stützte sich Jo auf die blankpolierte Theke und zeigte großzügig ihren üppigen Busenansatz. Den Ausschnitt hatte sie heute etwas verkleinert, weil er sonst neugierigen Augen zu viel verraten hätte. Es waren ihr von der Nacht einige blaue Flecken geblieben, die sich langsam vergrößerten und bei manchen Bewegungen erinnerte Jo ein leichter Schmerz an ihre Erlebnisse. Die Männer mochten ihre dunkle samtweiche Stimme und auf die Frage, darf’s noch was sein, sagten sie heute noch öfter ja.

Doch zwischendurch tauchte hinter ihrem routinierten Lächeln die Angst auf, etwas zu verlieren, was sie zu gerne besessen hätte, etwas, was sie nicht einmal so richtig fassen konnte. Wer würde das glauben, wenn man sie so sah, bei ihrer Arbeit, hier im Laden. Jo wusste, sie war gut in ihrem Job. Und damit meinte sie nicht das Abkassieren. Von diesem Platz aus, hinter der Theke, konnte sie so manchem helfen, seine Sorgen zu vergessen. Jo hatte etwas Mütterliches an sich, obwohl sie eher jugendlich, attraktiv - und auf Männer sexy und sehr erotisch wirkte. Natürlich spielte sie hinter der Bar in erster Linie eine Rolle, gab sich aufreizend, manchmal lasziv. Sie wusste ziemlich genau, wie Männer reagieren, aber das Mütterliche an ihr war echt und sie konnte wirklich zuhören. Man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Obschon an der Bar eher selten kluge Gespräche geführt wurden, war es umso überraschender für ihre Gäste, wenn Jo wendig und intelligent mithielt.

Weil ihre Gedanken heute ständig abschweiften, ließ sie wohl etwas mehr ihren attraktiven Körper sprechen.

Jo hätte zu gerne zu Hause angerufen. Sie hoffte, dass er noch da war, dass er warten würde. Je länger sie von ihm getrennt war, desto mehr zog sie dieser Mann an.

Jo und Michael hatten sich nicht festgelegt, alles blieb offen. Beide hatten bittere Erfahrungen hinter sich, und ihre Scheu war groß. Keiner wollte den anderen festhalten oder etwa verpflichten, etwas zu tun, was von ihm nicht restlos freiwillig käme.

Wenn sie wenigstens anrufen könnte. Es rächte sich jetzt, dass sie für ihre Wohnung nie ein Telefon angeschafft hatte.

Michaels überreizte Nerven beruhigten sich langsam nach den ersten Bierchen. Er war durch ein paar Kneipen gezogen und konnte sich zu nichts Endgültigem entscheiden. Auch die Müdigkeit meldete sich mehr und mehr.

Seine Sachen waren immer noch im Schließfach am Bahnhof Zoo.

Wenigstens die Wäsche sollte er mal wechseln.

Der Rückflug wäre noch möglich, er müsste nur umbuchen.

Aber weshalb, wozu?

„Was soll’s, wenn keiner wartet!“, Michaels aufkommende Aggressivität richtete sich gegen ihn selbst.

„Keine Aufgabe, keinen Sinn ... - Scheiße!“ Er würde wieder untätig warten - untätig warten müssen!

„Was soll’s, ob ich hier bin oder dort, erreichbar oder nicht ... Scheiße, man ist so abhängig! - Abhängig davon, ob man dir die Möglichkeit gibt zu arbeiten. - Ein Kapitän ohne Schiff oder ein Trainer ohne Mannschaft, - ein Choreograph ohne Tänzer, ohne Ballett, ist wie ein Maler ohne Farben. - Wie demütigend, nicht arbeiten zu können, nicht arbeiten zu dürfen!“

Mit einer plötzlichen Bewegung erschreckte der vor sich hin maulende Mann einzelne Spaziergänger. Zwei, drei große Schritte, fast schon Sprünge, und er trat gegen eine leere Bierdose, die laut scheppernd über den Gehsteig schlitterte.

„Zu nichts mehr nütze, außer zum Bumsen und zum Saufen!“

Michael war bei den ersten etwas feineren Geschäften angelangt. Pikiert wandten sich einige Damen ab.

Sich irgendwo verkriechen und schreiben. - Warum nicht, wenn er eh nicht vergessen konnte ...

Alles aufschreiben, vielleicht könnte er einiges künstlerisch verarbeiten.

Dazu bräuchte er keine Gruppe von Menschen, kein Ballett. Irgendwo untertauchen und schreiben. - Untertauchen, abtauchen - selbstgewählte Einsamkeit.

„Wenn mich und meine Arbeit keiner will ...“

Aber, würde er schreiben können? Ein Stück oder einen Roman, mit eigenen Erlebnissen? Und wenn - würden es die Leute lesen wollen?

Voller Verzweiflung quälte sich Michael. Er konnte sich nicht entscheiden zwischen Vergessen und bewusstem Verarbeiten. Doch eines wurde ihm langsam klarer, er wollte nicht zurück.

Jo schlich sich fast unmerklich in seine Gedanken. Diese Jo war eine Frau, wie er noch keine vorher gekannt hatte. Ihre körperliche Präsenz, ihre Anziehungskraft weckte sämtliche Lebensgeister wieder auf.

Seine persönlichen Enttäuschungen und der AIDS-Schock, durch den Tod seines ehemaligen Direktors und zweier Tänzer hervorgerufen, vielleicht auch die beruflichen Rückschläge der letzten Jahre, hatten bei ihm zu einem totalen Rückzug geführt. Eine Art innerer Emigration ließ ihn obendrein auf sexuelle Kontakte gänzlich verzichten.

‚Und jetzt diese Explosion - und was für eine Explosion! ... Oh Mann, oh Mann!‘ - Er war wohl wahnsinnig geworden! Ausgerechnet mit einer Bardame auf diese leidenschaftliche Weise zu schlafen, ohne jegliche Vorsicht.

Angst vor der Ansteckung?

Michael hatte Angst. Er konnte nicht vergessen. Auch die Toten konnte er nicht vergessen.

„Hallo grüß dich!“ Jo begrüßte ihn wie einen alten Stammgast, freundlich, aber nicht ein bisschen herzlicher als andere Gäste. Michael wurde einen Moment sauer. Enttäuscht dachte er zunächst daran zu gehen, beruhigte sich jedoch schnell wieder und blieb.

Sie bekämpfte ihren inneren Aufruhr. Das Herz drohte ihr zu zerspringen und pochte ihr bis zum Hals, als wär es was Verbotenes, als hätte sie ein Tabu gebrochen, ihre Schamgrenze überschritten. Sie befürchtete, rot zu werden, wie ein Schulmädchen vor ihrer ersten Liebe.

Das gedämpfte Licht der Bar half, ihre Erregung zu verbergen. Er setzte sich wie gestern auf die Wandbank in die hinterste Ecke an der Theke, und Jo brachte ihm, einfach auf Verdacht, einen Scotch mit Wasser.

Schnell zog sie sich dann zurück, kümmerte sich um andere Gäste, froh ihre Gefühle nicht verraten zu müssen.

Die Bar war heute gut besucht und ein paar Mädchen an einem der wenigen Tische, schienen wild dazu entschlossen, einige abenteuerlustige Herren auszunehmen.

Gezwungenermaßen wurde Michael zum Beobachter, denn Jo hatte kaum Zeit, und ihn störte es wenig, dass sie sich um ihre Gäste kümmerte.

Solange ihn seine Depressionen nicht überrollten, beobachtete Michael gerne.

Es löste bei ihm eine gewisse Faszination aus, das Spiel der Mädchen zu verfolgen, die Finten und Täuschungen, den unverschämten Einsatz ihrer Reize. Wie sie erotische Spannung aufbauten und die Sinne der Spießer vernebelten, sich hinter ihrem Rücken mit dem Kellner verständigten oder einer Kollegin zuwinkten, und damit in Gegensatz zu ihrer verführerischen Weiblichkeit Signale von sich gaben, die klar zu erkennende Aussagen hatten.

Etliche betrunkene und spießige Managertypen, welche sicher auf Geschäftskosten unterwegs waren, ließen sich dankbar ausnehmen. Aufschneidende Schaumschläger warfen mit Geld um sich und verspritzten, offenbar ersatzweise, sündhaft überzahlten Champagner.

Für die Mädchen war es ein Geschäft, ein knallhartes Geschäft, anschaffen mit animieren, wie sie es gewohnt waren. Vermutlich machten die Herren ihre Geschäfte mit anderen, aber auch nicht immer seriösen Mitteln. Michael bereitete es ein gewisses Vergnügen zu sehen, wie die Herren Manager ausgenommen wurden.

Zuhause biedere Ehemänner, suchten sie auf den Geschäftsreisen ihre kleinen schäbigen Abenteuer. Warum sollten sie ihm leid tun?

Eines der Mädchen wurde sukzessiv provozierend und ordinär. Während die anderen ihre Gläser meistens unauffällig in die Champagnerkübel leerten, trank sie zu viel und wurde nach und nach betrunken. Sie hatte eine unterschwellig aggressive Ausstrahlung und machte die Kerle heiß mit allen Mitteln. Kaum ließ sie sich bereitwillig betatschen, entwand sie sich auch schon, ließ ihr Oberteil verrutschen und zeigte frech ihre Brüste, spielte mit der Zunge; verbarg ihn wieder, den hübschen vollen Busen, um sich an den Schritt zu fassen. Pralle Oberschenkel wurden frei. Mund und Zunge arbeiteten dann erneut in eindeutiger Gestik. Dazwischen trank sie große Mengen.

In einer Mischung aus Faszination und Ekel beobachtete Michael dieses Schauspiel.

Lasziv hob das Animiermädchen ihren Rock, sich lustvoll langsam drehend, und zeigte ihren knackigen Hintern, die unbedeckte Scham. Nackt, provozierend nackt, ohne Haare, glatt rasiert bot sie sich dar. Sie genoss die Blicke der Männer, ließ sich mit geöffneten Beinen zurückfallen und machte Anstalten zu masturbieren.

Für Michael blieb die Zeit scheinbar stehen, als sie langsam die Finger zum Mund führte, sie ausgiebig befeuchtete und ebenso langsam in ihre Scheide einführte. Ihre Augen glänzten wild, als ihr Gegenüber die volle Champagnerflasche griff und diese über sie ausgoss. Angewidert und doch auch fasziniert leerte Michael sein Glas.

Im selben Moment entstand ein Tumult. Unter Kreischen und wüsten Beschimpfungen

„Fick dich in’n Arsch, du Sau!“ - „Zieh Leine, hau ab!“

„Der Scheißkerl, pisst mich hier voll an!“ - „Motherfucker!“ „Perverses Schwein!“ stürzte sich die Besudelte auf ihr Gegenüber und malträtierte ihn mit Fingernägeln, dass er blutende Schrammen davontrug.

Erst jetzt wurden andere Gäste aufmerksam.

Ein Kellner warf sich zwischen die Kontrahenten, wollte noch schnell und rechtzeitig Kasse machen. Während der lautstarken Auseinandersetzung um die Bezahlung und weiterer, immer aggressiver werdender Beschimpfungen, verdrückten sich rasch ein paar Spitzbuben.

„Verzieh dich mal lieber ‘ne Weile, s’kann Stunk geben!“ kam Jo verärgert zu Michael.

Polizei könnte in der Gegend recht schnell da sein und wäre dann keineswegs zimperlich.

Michael war dies bewusst, trotzdem blieb er.

Inzwischen tauchte ein Brocken von Rausschmeißer auf und griff ein. Einige gezielte kräftige Schläge beruhigten die Szene und die offene Rechnung wurde nun schnell beglichen.

Noch schwach protestierend, geschlagene und begossene Pudel, wohl aber um ein kleines teures Abenteuer reicher, verließen die betrunkenen Managertypen den Laden.

In die entstehende Stille hinein klang das Schluchzen des Mädchens. Eingespielte Musik verdrängte schnell ihr betrunkenes Weinen und ein gänzlich verquollenes Gesicht tauchte neben Michael an der Bar auf.

Aufgelöst, trostlos, inmitten einer Wolke von Alkoholdunst, der nicht nur aus dem nassen an ihrem Körper klebenden Kleid drang, hing sie jetzt an der Theke. Jo stellte der Schluchzenden wortlos Taschentücher und ein Glas Wasser vor die Nase, und Michael verdrängte aufkommenden Ekel. Das Mädchen tat ihm leid. Wie es sich auswirkt, wenn sich Aggressivität nach innen wendet, kannte er zu gut.

So ganz ohne Grund wird sie ja in diesem Scheißjob nicht gelandet sein. Im Licht an der Bartheke zeigte sich unter dem zerstörten Make-up des Mädchens ein eigentlich nettes Gesicht. Das Nachtleben hatte noch keine bleibenden Spuren hinterlassen. Unauffällig mit seinem Glas spielend beobachtete er sie. Am besten, er ließ sie in Ruhe. Das heulende Elend könnte allzu leicht wieder in Aggression umschlagen.

Sehr hellhäutig saß sie neben ihm, ihre naturblonden Haare leicht antoupiert und mit viel Haarspray festgeklebt, der Hals ein bisschen dunkler mit Rändern von Make-up wo kein Übergang geschminkt war, an den Händen aufgeklebte knallrote Fingernägel, von denen zwei bei der Auseinandersetzung abgebrochen waren, wodurch jetzt abgekaute schmutzige Fingernägel zum Vorschein kamen. Aus geschwollenen, rotumrandet wässrig-blauen Augen kullerten immer neue Tränen, die hässliche Furchen in dick aufgetragene Farbe gruben. Ein junger fraulicher Körper mit den Babyspeckresten eines Schulmädchens, wenig verhüllt durch ein fliederfarbenes kleidähnliches Gebilde, zuckte krampfhaft, champagnerklebrig nass, hochhackige Schuhe lagen am Boden.

Michael hätte am liebsten das ganze Persönchen geschnappt und in die Wanne gesteckt.

‚Sie dürfte nicht sehr alt sein, achtzehn, neunzehn, eher jünger.’ Michael suchte nach verdächtigen Stellen, die eventuell Bekanntschaft mit der Nadel verraten hätten.

Was könnte sonst eine junge Frau oder ein Mädchen in diese Situation bringen, in dieses Lokal treiben, sie diesen oder ähnlichen Geschäften nachgehen lassen?

Er versuchte sich zu distanzieren und doch saß er ebenfalls hier in dieser Bar, diesem heruntergekommenen Schuppen, sinnlos vor sich hin trinkend, auf dem besten Weg sich selbst zu zumachen.

Jo und Michael saßen sich wieder gegenüber, zwischen ihnen die Theke. Die Bar hatte sich langsam geleert, und eines der Mädchen hatte sich schließlich um die Betrunkene gekümmert. Außer dem letzten Gast waren sie allein und warteten, bis er am Ende auch gehen würde.

Jo zeigte jetzt ihre Gefühle. Fast schwarz glänzten ihre dunklen braunen Augen, in seltsamem Kontrast zu ihrem blonden Haar. Ungeniert küssten sich beide lange Zeit zärtlich, dann sehr sinnlich. Beider Arme lagen auf der spiegelblanken Fläche. Die Hände trafen sich, fanden sich ineinander, sprachen zueinander, Intimes, ohne Worte. Getrennt durch die Bar schienen ihre Körper Magnetfelder aufzubauen, die sich gegenseitig anzogen, die knisterte Spannung, durch die Begegnung ihrer Hände, ihrer Lippen gesteigert.

Aus für beide nicht begreiflichen Gründen hatte ihr Verhältnis etwas vom Charakter des Verbotenen. Und beide genossen dieses Etwas. Und beide tranken. Jo hatte die Flasche gleich da gelassen. Fast hätten sie den Gast vergessen, der jetzt endlich, betrunken brummend, Anstalten machte zu gehen. Jo half schnell geschickt nach, verabschiedete den Angetrunkenen freundlich, schloss die Türe hinter ihm und löschte einen Teil des Lichts. Dann konnte beide nichts mehr halten. Der Dunst der Kneipe, abgestandener Rauch, vom Geruch zweier Körper angereichert, alkoholgeschwängerte, keuchende, körperliche Liebe, bizarre Schatten werfend, tanzende Gestalten, schweißbedeckte Haut, schummriges Licht, für Bruchteile von Sekunden reflektierend, Schreie und Stöhnen - gewalttätig - ein Kampf zweier Körper.

An der frischen Luft, kurz vor der ersten Dämmerung, ernüchterte sie ein nieselnder Regen wieder etwas. Sie fuhren zu Jos Wohnung, überwanden, sich gegenseitig stützend, die ihnen bedrohlich entgegenschwankenden, knarrenden Treppen und fielen todmüde, kneipenmiefgeschwängert und angezogen wie sie waren, in die Betten.

Maximilian, der große schwarze Kater, verzog sich unwirsch niesend aus dem Zimmer und suchte sich einen wohlriechenden, sauberen Platz.

Tage und Wochen verliefen fast automatisch in ähnlichen Varianten. Michael hatte noch am selben Tag seine Sachen aus dem Schließfach geholt und war, ohne sich irgendwo zu melden oder abzumelden, bei Jo geblieben.

Er wohnte jetzt bei ihr und Jo war glücklich. Das einzige, was ihr manchmal Angst machte, war sein ungeheurer Alkoholkonsum. Sie wusste sehr wenig von ihm und wollte auch nicht nachfragen. In nüchternen Momenten spürte sie, wie er sie mit sich zog. Sie trank wesentlich größere Mengen als vorher. Aber was hieß schon ‚vorher‘. Ihr war, als hätte es nie ein Vorher gegeben. Beide lebten im Jetzt und Jo fieberte, wenn er nicht in ihrer Nähe war, längst dem nächsten Moment ihres Zusammenseins entgegen.

Keine seiner vielen Verbindungen hatte Michael wieder aufgenommen. Er war einfach in ein anderes Leben geschlüpft, er war tatsächlich abgetaucht - es war ihm geglückt. So, wie er es sich manchmal vorgestellt hatte, war er aus seinem alten Leben verschwunden.

Es gab Menschen, die einfach verschwanden, - nun war wohl er auch einer dieser Verschollenen. Ungewöhnlich für ihn, hatte er sogar an seine Finanzen gedacht, und sie so geregelt, dass er nur mit großen Schwierigkeiten aufzufinden wäre, wenn sich jemand wirklich interessieren würde, was er aber eigentlich ausschloss. Was ihm jedoch nicht glückte, war das Schreiben. Er fand einfach keinen Anfang. Wo sollte er beginnen? Wie sollte er beginnen? Welche Form sollte er wählen? - Bis jetzt hatte er keine einzige Zeile niedergeschrieben.

Seltsamerweise erzählte Michael Jo nicht ein Wort von seinen Plänen, und wenn das Gespräch etwas streifte, was vielleicht auf sein Vorleben hingewiesen hätte, verstummte er einfach. Er bemerkte nicht, wie ihm die Kontrolle mehr und mehr entglitt. Der Alkoholkonsum wurde größer und sein gelegentliches Training vernachlässigte er wie nie zuvor. Doch so sehr er auch versuchte sich von seiner Vergangenheit zu distanzieren, so sehr er sich zuschüttete mit Alkohol, - abgesehen von den Momenten seiner exzessiv ausgelebten Sexualität mit Jo, - so sehr wuchsen die Schatten jener Depressionen, welche ihn immer stärker bedrohten.

Die glattrasierte Maus aus Jos Laden hatte in der letzten Zeit an Michael einen Narren gefressen und sich schon manchmal Jo und Michael angehängt, wenn sie später noch durch andere Lokale zogen, ohne dass sich Jo deshalb etwa ablehnend oder eifersüchtig gezeigt hätte. Sie hieß Laura und war ein ausgebuffter Racker, der immer ohne Höschen rumlief und mit animieren die meisten Scheinchen machte, wenn sie nicht gerade durchdrehte und die Kundschaft zu früh verprellte. Michael beobachtete oft, wie sie arbeitete und in angetrunkenem Zustand arbeitete seine Phantasie manchmal weiter. Was ihn sonst abstieß, zog ihn dann magisch an.

Laura bemerkte seine Blicke und mochte es, wie er sie beobachtete. Sie war raffiniert genug, ihm ab und zu eine extra Vorstellung zu bieten, die nur er bemerken konnte. Und wenn sie die angeheizten Typen endlich abgeschüttelt hatte, ohne irgend etwas, das sie versprochen zu haben schien, einzulösen, kam sie, ein schmiegsames Kätzchen, an die Bar zu dem Wartenden und setzte sich zu ihm. Nachdem sich Michael nie mit anderen Gästen unterhielt, war Jo in solchen Momenten einfach froh, dass er nicht allein herum saß, wenn sie sich um andere Gäste kümmerte. Hauptsache Michael war in ihrer Nähe.

In seinen kritischen Phasen kam Michael jede Ablenkung gerade recht - und diese Art der Ablenkung funktionierte, schmutzig kribbelnd, irgendwie passend zu seinem Zustand, in dieselbe Richtung weisend. Unweigerlich schien er in einen Sog zu geraten, dem er nicht entrinnen konnte.

Laura rauchte viel und mit Michael an der Bar kiffte sie manchmal, was sie bei ihren spendablen Gästen nicht tat. Gelegentlich bekam sie zu viel Alkohol ab und rastete aus. Danach kam meist das große Heulen. Sein Stammplatz hinten auf der Eckbank war etwas blickgeschützt und - nach solchen Szenen - ein geeigneter Fluchtpunkt für Laura. Es war dann sehr schwer, ihr zu helfen, meistens ließ Michael sie sich einfach ausheulen.

Aber die Ecke eignete sich auch für anderes.

Schamlos wie sie war, entwickelte Laura viel Phantasie, um Michael zu beschäftigen. Seine Blicke, seine Aufmerksamkeit schmeichelten ihr, er wurde zum Zuschauer, zu ihrem Publikum und in der Ecke wurde ihr Spiel intimer, und Michael spielte mit. Jo, die sehr beschäftigt war, kümmerte sich nicht darum, scheinbar drückte sie beide Augen zu; als mögliche Nutznießerin wollte sie vielleicht nichts davon bemerken. Im Schatten der Theke wurden indes Berührungen eindeutiger und das Bewusstsein, andere Menschen um sich zu haben, steigerte den Reiz dieses Tuns.

Eines schönen Morgens landeten sie schließlich zu dritt und betrunken in Jos Wohnung.

Sie waren vorher durch Frühlokale gezogen, in denen sich, außer den Übriggebliebenen, die Arbeitenden des Nachtlebens den Rest der Nacht vollends um die Ohren schlagen.

Zwei Bekannte von Jo hatten in der Bar ziemlich auf den Putz gehauen und für einige Gäste großspurig Runden ausgegeben, zu denen sie auch Laura und Michael einluden.

Es waren undurchsichtige Typen, mit der Eleganz von Edel-Zuhältern.

Michael schätzte sie jedenfalls als Kriminelle ein.

„Scheiß trocken hier! Jo, bring noch eine Lage!“

„Du trinkst doch mit?“ hatte sich der Größere an Laura gewandt. Unterschwellig spürte Michael in diesem Moment die Wachsamkeit dieser Männer, ihre lauernde, latent vorhandene Aggressivität. Machogehabe und Arroganz paarten sich auf abstoßend beeindruckende Weise, die Michael vorsichtig werden ließ.

„Nein danke! Mir reicht’s schon.“ versuchte Laura abzulehnen. „He, hab dich nicht so, Mäuschen. Bist doch sonst nicht so ablehnend.“ Der Kleinere mischte sich ein und schob ihr auffordernd sein Glas hin.

Laura trank mit den Männern. Aber Michael wurde schnell klar, dass eigentlich er gereizt werden sollte.

Außer seinen verdammten Stolz hatte Michael nicht viel zu verlieren. Stolperstein und Grenzmarkierung, wie oft hatte ihn sein verdammter Stolz bereits stolpern lassen.

Nur keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen!

Er wusste, dass er ebenfalls eine sehr starke Ausstrahlung aufbauen konnte und ließ sich leichtsinnigerweise in einem kritischen Moment auf ein Kräftemessen ein. Stumme, gefährliche Blicke kreuzten sich, drohend, abwägend, mit eigenartig irrem Glanz. Spielerisch schnell tauchte in den Händen des Kleineren eine Pistole auf.

‚Was für eine dumme Drohgebärde‘, fand Michael und grinste mit spöttisch zynischem Lächeln, nach kurzem Blick in das mit Gästen besetzte Lokal, als Antwort zurück. Er war sich sicher in diesem Moment, weiter würde, zumindest hier in dieser Bar, keiner der beiden gehen.

Ein verlegenes, heiseres Lachen des Kleineren, während er seine Waffe verschwinden ließ, löste die Spannung endlich etwas.

„Komm, trink mit uns, ich geb’ einen aus!“

Und Michael musste wohl oder übel, vorsichtig wie er nun wieder geworden war, mit den Typen trinken.

Sehr wachsam hatte Jo die Szene, ohne einzugreifen, verfolgt, brachte dann schnell den Nachschub an Getränken und bemühte sich die Runde aufzulockern. Auch Laura hatte offensichtlich reichlich Erfahrung mit einschlägigen Typen. Sie riss Witze mit ihnen, in einem Berliner Idiom, das Michael nicht mehr verstehen konnte.

Zwischendurch flüsterte Jo Michael schnell zu:

„Pass auf den Großen auf, er ist der Gefährlichere!“

Er konnte nicht wissen, dass Freunde ihres ehemaligen Partners hier so angaben. Jo hoffte ängstlich, diese wüssten noch nichts von ihrer neuen Liebe, ihr kam Lauras Anwesenheit sehr gelegen. „Bitte lass die zwei nichts merken, sie sollten nichts über unser Verhältnis erfahren. Ich erklär es dir später!“

„Keine Angst, ich komm schon zurecht!“, hatte Michael gespielt selbstsicher, fast ahnungslos geantwortet.

Er kannte den Ehrenkodex dieser Kreise noch nicht gut genug. Laura dagegen war alles andere als ahnungslos. Sie wusste auch von der Verbindung zu Jos Ehemaligem, obwohl sie ihm nie begegnet war.

Nicht umsonst war sie hier in dem Laden fast zuhause.

Die beiden drahtigen durchtrainierten Typen in elegant geschnittenen Lederjacken machten sich bekannt: Pit und Ronny. Pit’s scharfgeschnittenes Gesicht ließ, im Gegensatz zu dem des etwas kleineren Ronny, eine sicher gefährliche Intelligenz ahnen, sein Humor war bösartig scharf. Ronnys Boxernase verriet den Schläger.

Michael wurde immer wacher, spürte Jos vorsichtige Distanz hinter ihrer Vertraulichkeit, die sie den beiden gegenüber an den Tag legte.

Als es an der Zeit war, den Laden zu schließen, waren Pit und Ronny nicht abzuschütteln.

„Wir machen noch einen Zug durch die Gemeinde, ihr kommt doch mit! Come on, come on!“ Ronny tänzelte um Michael und setzte überraschend ein paar gezielte, markierte Boxhiebe.

Solche Spielchen nicht gewohnt, reagierte Michael zu langsam und wirkte daher fast gelassen, obwohl er zunächst heftig erschrak.

„Gut trainiert, was? - Aber Vorsicht, mach keinen Quatsch!“ Schnell gefasst, überspielte er seine Unsicherheit.

Pit, der größere, ließ betont lässig Autoschlüssel um den Finger kreisen und setzte sehr ironisch nach:

„Achtung Ronny, pass auf! Er könnte gefährlich werden, unser neuer Freund!“

Beruhigend nahmen die beiden Frauen Michael in ihre Mitte und beförderten ihn auf die roten Ledersitze eines chromblitzenden weißen Ami-Schlittens aus den späten Fünfziger Jahren. Reifenquietschend setzte sich das Schiff in Bewegung.

In den verschiedenen Lokalen, die das eigenartige Quintett beehrte, wurde kräftig weitergetrunken. Laura hielt sich recht anschmiegsam an Michaels Seite. Jo unterhielt sich meist mit Pit und Ronny. Dabei entwickelte sich zwischen den drei so unterschiedlichen Männern mehr und mehr ein schlimmes Wettsaufen. Pit und Ronny täuschten sich jedoch in Michael, er hatte Routine und konnte den Grad der Wirkung des Alkohols sehr gut überspielen. Er war ihnen zumindest auf diesem Gebiet überlegen.

Beide Frauen hielten schon lang nicht mehr mit und Laura war an Michaels Schulter eingeschlafen, als Jo sich über den Tisch beugte: „Achtung, Kripo!“

Michael hatte dafür keinen Blick, hatte nicht einmal die Veränderung bemerkt.

Pit und Ronny reagierten dagegen außergewöhnlich schnell. Verhältnismäßig ernüchtert, so unauffällig elegant und rasch, wie’s für ihren Zustand in dieser Situation gerade eben möglich war, verabschiedeten sie sich.

„Endlich!“, Erleichterung sprach aus Michaels Haltung, obwohl ihn eine undeutliche Ahnung davon beschlich, was Jo von ihm denken könnte.

Verschlafen blinzelte Laura:

„Endlich was? - Polizei?“

Michael zog Jo lachend an seine Seite und zu dritt rückten sie enger zusammen. Sie redeten nur wenig, tranken aber noch mehr, und ihre Spannung ließ erst langsam nach, als sich keiner weiter um sie kümmerte. Michael blieb es, die Gesamtrechnung zu bezahlen. Sie gingen dann ein Stück zu Fuß, bevor sie ein Taxi nahmen, und landeten schließlich in Jos Wohnung.

Jo hatte nicht viele Umstände gemacht und alle drei waren, einigermaßen rasch entkleidet, zusammen in das große Bett gefallen, um ihren unfreiwilligen Rausch auszuschlafen.

‚Jo wird sicher annehmen, ja sie muss geradezu annehmen, ich wäre ein Krimineller, ein Gangster!’, mit dickem verkaterten Kopf stand Michael über die Toilette gebeugt und kämpfte mal wieder mit seiner Übelkeit.

‚Ich arbeite nicht, hab immer viel zu viel Zeit. Sie fragt nie danach, woher das Geld kommt. Überhaupt fragt sie nie etwas, und mein Verhalten trägt dazu bei, sie annehmen zu lassen ...’

Eine neue Welle riss ihn aus seinen Gedanken und unter scheußlichem Würgen spuckte er nur noch Galle.

‚Ich muss es schaffen zu schreiben, so geht’s nicht weiter!’, Kälte ließ ihn zittern, und schlotternd hangelte er sich zum Waschbecken. Fließendes Wasser half ein wenig. ‚Die grauenhafte Sauferei muss ich in den Griff bekommen, sonst wird das nie was.’

Morgen würde er eine Schreibmaschine kaufen, er nahm es sich fest vor, bevor er mit weichen Knien und Schüttelfrost durch die Wohnung schlich und in die Bettwärme seiner Frauen zurück kroch.

Katerkopf und Übelkeit ließen ihn nicht schlafen, schmerzende Helligkeit suchte sich ihren Weg, drang in das abgedunkelte Zimmer. Laura schnarchte leise vor sich hin und Jo zuckte nervös auf, warf sich unter der Bettdecke hin und her, stöhnte und redete im Schlaf Unverständliches.

Michael betrachtete die eingerollte Laura. Einzelne schmale Sonnenstrahlen, die sich durch einen Spalt der dicken Vorhänge zwängten, beschienen ihre helle, eigenartig schöne Haut.

Das friedlich entspannte Gesichtchen mit sinnlichen vollen Lippen, schlafend, kindlich, von Make-up verunstaltet, war ihm zugewandt. Haarsprayverklebte Haare hatten skurrile Formen angenommen und rochen aufdringlich unangenehm nach süßlichem Parfüm und kaltem, abgestandenem Rauch.

Eine nervöse Bewegung Jos, als sie im Schlaf die Decke an sich riss, nahm brutal die schützende Hülle weg, bis Michael sie vorsichtig zurückzog, um Laura zu bedecken.

Laura blinzelte kurz und kuschelte sich wärmesuchend dicht an ihn. Übelkeit und pochender Schmerz im Kopf konnten nicht verhindern, dass Michael die intensive Berührung ihrer nahezu nackten Körper erregte, das Pochen in seinem Kopf verstärkte.

Versteinert lag er so einen Moment und wagte sich nicht mehr zu rühren.

Er konnte seinen Pulsschlag nicht beruhigen, mit hämmerndem Kopf und der Pumpe auf Hochtouren, lag er da, eine rauschende Brandung in den Ohren.

Jo schlief jetzt ruhiger, aber Laura schien seinen Zustand zu bemerken - und nutzte ihn, erst zärtlich dann drängend, erstaunlich raffiniert und gekonnt bis Michaels Schädel endgültig zu zerspringen drohte; bis zur Explosion der Sinne und Schmerz an der Grenze des Erträglichen, als Laura sich vorsichtig wieder löste, ihn sehr sinnlich, mit weichen vollen Lippen zärtlich küsste und zur Seite rollte, um weiterzuschlafen.

Rauschen, Pochen, schmerzende Übelkeit nahm nach einiger Zeit überhand, zwang Michael nochmals aus dem Bett und in kleinen Schlückchen trank er, am großen Kühlschrank in der Küche Halt suchend, das kalte Bier, von dem er Linderung erhoffte.

Wie der unbestechliche Zeiger einer Uhr waren im abgedunkelten Zimmer die durch Vorhänge dringenden Sonnenstrahlen, über Farben bunter Plüschtiere streifend, langsam weitergewandert und hatte Jo erreicht. Maximilian lag eingerollt an ihren angewinkelten Beinen. Laura schlief friedlich. Jo erwachte und war verwundert, eine Frau neben sich zu finden.

Allmählich kam ihre Erinnerung zurück. Sie kannte doch sonst ihre Grenzen genau und wusste immer, wann sie, um diesen Zustand zu vermeiden, aufhören musste. Heute hatte sie einen schmerzenden Kopf, einen ausgewachsenen Kater.

Aus dummen Katzenaugen sah Maximilian die verkaterte Jo fragend an.

Michael war nicht da. Jo erhob sich und suchte, vollkommen verschlafen durch die Wohnung tapsend, nach ihm.

In der Küche fand sie ihn endlich - leidend, mit einer Flasche in der Hand - am Kühlschrank. Michael erschrak, als sie plötzlich vor ihm stand.

Seinen üblen Zustand überspielend, bot er Jo einen Schluck Bier an.

„Trink einen Schluck, das einzige was hilft.“

„Oh je, oh je, geht es dir genauso beschissen?“, Jo hielt sich den Kopf und nahm dankbar die Flasche entgegen.

Zunächst etwas erleichtert, angelte Michael eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank, und beide setzten sich, wie sie waren, an den Küchentisch. Geschmeidig und träge gesellte sich der Kater zu den Verkaterten.

Beide tranken.

Jos braune Augen waren noch schwarz umrandet von verschmiertem Make-up; Lippenstiftreste und zu viel Braun am Haaransatz verunstalteten ihr hübsches Gesicht. Schlafverknitterte, bettwarme Haut, nur wenig bedeckt von den schwarzen Spitzen seidener Unterwäsche verlangte nach intimer Berührung, und wirre blonde Haare zeigten am Ansatz ihre wahre Farbe. Gepflegte Hände mit blutrot gelackten Fingernägeln hielten zitternd die Flasche, aus der sie in kleinen Schlückchen trank.

„Es tut mir leid wegen heute Nacht, ich konnte die Kerle nicht abwimmeln. Pit und Ronny waren, oder besser gesagt sie sind, Freunde meines ehemaligen Mannes. - Mann ist auch nicht ganz richtig, wir lebten einige Jahre zusammen, von den zehn Jahren unserer Verbindung saß er über die Hälfte im Knast. Sie nennen ihn Will, aber er heißt Wilhelm. Seit fast zwei Jahren ist er wieder drin. Wir hatten uns schon vorher getrennt, es ging einfach nichts mehr zwischen uns. Das Dumme ist nur, er betrachtet mich immer noch als sein persönliches Eigentum!“

Mit den letzten Worten war Jo lauter geworden und wütend aufgestanden.

„Scheiße! - Bekackte Scheiße, warum kann mich der Kerl nicht in Ruhe lassen!“

„Ah“, griff sie sich an den Kopf, „mir ist so schlecht!“

Ein flüchtiger schwarzer Schatten floh aus der Küche.

Michael zögerte, wusste nichts zu antworten, versuchte dann die Wütende beruhigend zu umarmen, doch sie löste sich abrupt. „Diese arroganten, blöden Affen konnte ich eigentlich nie leiden. Ronny ist blöd und gerade deshalb gefährlich. Pit ist gerissen, schlau, skrupellos, alles was du haben willst; eiskalt und unberechenbar gefährlich dazu. Pit könnte sich totlachen, wenn er von uns erfährt, aber genauso gut könnte er dich fertig machen wollen - oder beides, man weiß nie, wie er reagiert.“

„So einfach dürfte das mit dem Fertigmachen nicht werden!“, Michael versuchte zu verbergen, wie ihm in Wirklichkeit zumute war.

„Und wenn Wilhelm im Knast was mitkriegt, ist so oder so was los!“, resigniert setzte sich Jo an den Tisch, griff zu ihrer Bierflasche und fing an zu schluchzen.

„Scheißkerle! Ich gerat’ immer an solche Scheißkerle! - Und was machst du? Was für Geschäfte hast du laufen?“ Fast hasserfüllt funkelten ihre Augen ein paar Augenblicke, um dann wieder warm und weich, von neuem mit Tränen verschleiert, Michael anzublicken.

„Ach, ich will gar nichts wissen, sag nichts, sag nichts!“

Sie war über dem Tisch zusammengesunken und ließ jetzt ihren Tränen freien Lauf, der Kopf lag auf dem Arm und ihr ganzer Körper zuckte unter krampfartigem Schluchzen.

Michael strich beruhigend über ihren mädchenhaften Nacken und schwieg.

Seine Gedanken schweiften unweigerlich zurück in eine Zeit, die er doch unbedingt vergessen wollte, eine Zeit die er dauerhaft zu verdrängen suchte, Augenblicke mit seinen Frauen, mit Petra, mit Reni, Szenen am Theater, im Ballettsaal, auf der Bühne, der kranke Kai, sein Sterben, - all das schien wie ein wirrer, alptraumartiger Film im Inneren seines Schädels und unbeeinflussbar. Es half nicht die Augen zu verschließen, die Bilder wurden nur stärker, und Michaels Gedanken entglitten vollständig seiner Kontrolle.

Er war alt geworden, ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er nicht genügend Härte aufgebracht hatte, um den Intrigen und Kritiken standzuhalten, als er Choreograph und Ballettdirektor wurde. Die Schwerkraft hatte ihn zurückgeholt aus seinen Höhenflügen, zu schnell, zu früh, zu radikal. Andere hatten seine Schwächen erkannt.

Er konnte sich seine Fehler mit Frauen nicht verzeihen. Er konnte sich nicht verzeihen, dass er an Alkohol geraten war.

Fast mechanisch strich Michael über den Nacken der schluchzenden Jo.

Und jetzt war er im Berliner Nachtleben versackt, eine Stufe weiter gefallen; und das nannte er ‚aussteigen‘, ‚in ein anderes Leben schlüpfen!‘ Und schon wieder brachte er auch anderen Menschen Unglück: - Jo, mit der er schlief, die er aber nicht liebte. Sie zog ihn sexuell an, dieses Verhältnis war erotisch, triebhaft, etwas in ihm wollte es so!

Er blickte Sie an: Irgendwie zerbrechlich dieser zarte Nacken, der dunkle Haaransatz, die blondierten Haare bedeckten einen schönen Kopf. Zärtlich, beruhigend strich er über den feinen dunklen Flaum ihres Nackens. Michael spürte bleierne Müdigkeit, drohend, lähmend. - Ja, er war alt geworden - ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. War es Petras Nacken, über den er strich, dieser zarte Nacken, der ihm zugekehrt war? Petra, die schluchzende Petra, lag vor ihm auf dem Küchentisch und es zerriss ihm sein Herz. Sie war es, sie war da, seit Jahren hatte er sie nicht so nah gespürt.

Zwei Welten vermischten sich. Was war wirklich?

Eine Welle von Alkohol verschlimmerte seinen Zustand, die Wirkung des zu schnell nachgetrunkenen Biers kam zu heftig. Er musste sich bewegen, er musste tanzen, und er tanzte, allein, vor der schluchzenden Jo, tanzte auf kleinstem Raum in einer großen Altbauküche, und die Sonne warf durchs Fenster gebündeltes Licht auf ihn, wie die Scheinwerfer auf einer Bühne.

Doch die einzige Zuschauerin schaute nicht, sie weinte, während ein alter besoffener Tänzer seine Pirouetten drehte und tanzte, bis er auf die Nase fiel und laut krachend einen Stuhl zerbrach.

Jo schreckte auf, aus tränenverschmierten, verquollenen Augen sah sie Michael am Boden. Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus einer Platzwunde am Kopf, er schien bewusstlos.

Laura stand unversehens in der Türe, mit fragendem Gesicht, ihr zugewandt.

„Er ist einfach gestürzt, wie von ‘ner Axt ...“

Jo empfand sich wie festgemauert, sie war gelähmt, ratlos. Das Mädchen fasste sich zuerst, und beide versuchten, Michael aufzurichten, bis Jo nach langen, endlosen Minuten einfiel, dass man das Blut stillen sollte. Sie suchte Verbandszeug, tränkte umständlich ein Tuch mit kaltem Wasser.

Unterdessen ruhte Michaels Kopf am bloßen, von ein wenig Blut verschmierten Busen Lauras. Sie kniete nackt hinter dem schweren Mann und hielt seinen Kopf, als er langsam zu sich kam. „Petra, Petra, gut dass du da bist!“, murmelte er vor sich hin und abermals „Petra - Petra!“

Jo, inzwischen wieder klar, reinigte die Wunde, desinfizierte sie und klebte ein großes Pflaster darüber. Beide Frauen brachten den betrunken Schwankenden unter beträchtlichen Schwierigkeiten ins andere Zimmer zum Bett.

„Petra!“, flüsterte er noch und fiel in unruhigen Schlaf, während beide Frauen, besorgt um ihn, sich zu ihm legten.

Ihr Gang hatte ihn aufmerken lassen. An ihrem Gang hatte er sie erkannt. Um ein Haar wäre Michael seiner ehemaligen Tänzerin Ulla in die Arme gelaufen. In dieser großen Stadt geradezu ein Wunder. Nachdem er sie vor ein paar Wochen in einer Vorstellung am Theater des Westens gesehen und danach getroffen hatte, wäre es anständig gewesen sich wieder zu melden. Schnell verzog er sich in eine Schaufensterecke am Kuhdamm und beobachtete von dort aus, wie sie einen Bekannten traf und mit ihm weiterging. Überaus erregt löste sich Michael langsam aus der Ecke, um dann nachdenklich weiter zu schlendern.

Ulla - ein neuer Musicalstar? - Sie hatte den Absprung geschafft und war auf dem besten Weg dazu, es zu werden.

Michael konnte nicht so recht froh sein über seine reflexartige Reaktion. Er schämte sich jetzt, er hatte sich vor seiner ehemaligen Tänzerin versteckt, - aber wie hätte er ihr erklären können ...

„Zu dumm! - Ich bin zu dämlich!“, klagte er sich an. Er mochte Ulla. - Und Ulla würde ihn vielleicht sogar verstehen, sie kannte ihn gut.

„Ach Quatsch! Verdammt, sei nicht so sentimental, fang endlich an zu schreiben!“, schimpfend ging er in ein Geschäft für Büroartikel und kam nach einiger Zeit tatsächlich mit einer Reiseschreibmaschine und dem nötigen Papier wieder heraus. Er leistete sich ein Taxi und saß kurz danach vor einem eingespannten, leeren Blatt am einzig vernünftigen Tisch der Wohnung, in Jos Küche.

Wie sollte er beginnen? Lange saß er vor dem weißen, leeren Blatt und starrte es an, als würden die Worte von allein auftauchen, während flüchtige Bilder mit ihm zu spielen schienen. Sein Kopf war keinesfalls leer, aber es ließ sich kein Gedanke fassen. Jeder Versuch zu formulieren schlug fehl und brachte nur neue Erinnerungen hervor.

Michael war sich über die Form dessen, was er zu schreiben gedachte, noch nicht im Klaren. Er wollte aus seiner eigenen Sicht schreiben. Vielleicht sollte er in seiner Geschichte auch der Erzähler werden. Er stritt mit sich selbst.

Hatte er überhaupt das Talent, sich als Schreibender auszudrücken? Gaben das Tänzerdasein und seine persönlichen Erlebnisse genügend Stoff für einen Roman?

Selbstzweifel machten den Einstieg für ihn noch problematischer. Ähnliche Situationen kannte Michael nur zu gut.

Auch dies war eine seiner Erinnerungen, quälende Stunden vor dem Spiegel des Ballettsaals, mit einer vagen Idee im Kopf einen Anfang suchend: Immer wieder Musik hören, Bewegungsansätze ausprobieren, wieder verwerfen, Skizzen entwerfen, in seinen Notizen blättern, weitere hinzufügen, bis die Zeit oft zu knapp wurde, und sich noch immer kein Anfang formen wollte. Aber er kannte eben auch das Gefühl, wenn es lief. Endlich den Anfang gefunden, sprudelten die Ideen dann nur so aus ihm heraus und er war oft nicht in der Lage, sie schnell genug festzuhalten, um nicht die Hälfte wieder zu vergessen.

Ulla kam ihm erneut in den Sinn. Die mollige Ulla, damals erfüllt von der Idee, Ballerina zu werden. Mit aller Kraft wollte sie es erreichen.

Eine mittelmäßige klassische Tänzerin, deren Körperbau es ihr schon unmöglich machte, wollte unbedingt Ballerina werden.

Ein Glück, dass er ihre wahren Fähigkeiten erkannt hatte, ihr damals helfen konnte und ihr die richtige Richtung wies.

Jetzt war sie wirklich auf dem besten Weg zum Musicalstar!

Die Tänzer, welche er verloren hatte, - so auch Ulla, - und die vielen anderen, die gesamte Gruppe, er hatte sie geliebt, er hatte seine Tänzer geliebt!

Vielleicht war er selber zu sehr Tänzer geblieben, selbst als Ballettdirektor war er noch Tänzer geblieben.

Es gab da etwas, das er nie gänzlich ablegen konnte.

Langsam begann er zu schreiben:

Tänzer - wirbelnde Blätter im Wind,

von Bäumen deren Wurzeln in den Himmel ragen,

- entwurzelte Körper,

glücklich, wenn schwerelos.

Tanz - auch tragisch, weil augenblicklich,

ohne Wiederkehr,

entgleitend im schönsten Moment.

Die Zeit der Tänzer

Verbannte Gefühle, Bilder und Erinnerungen drängten in sein Bewusstsein. Mit äußerster Willenskraft kämpfte Michael um Worte, bis seine Hände immer hastiger über die Tasten flogen und er fast atemlos in seine eigene Vergangenheit eintauchte:

LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS

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