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ASAP ins Still-Café

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Achtung, Achtung, jetzt wird es ein bisschen indiskret-privat, ich warne Sie, liebe Leserinnen und Leser und dich, lieber Ben, lieber schon mal vor. Ich habe nämlich etwas an mir festgestellt, von dem ich gern vor anderen behauptet habe, dass ich es nicht habe: das Spanner-Gen. Aber ich habe es doch. Und das leicht Unheimliche dabei: ich fühle mich, als hätte man bei mir, zusätzlich zum Spanner-Gen auch noch eine neumodische Spanner-Krankheit diagnostiziert, eine für die es noch keine Medikamente gibt und die man nur behandeln kann, indem man dem Spanner eine ordentliche Backpfeife verpasst.

Wenn in Berlin Unfälle passieren, und Unfälle passieren in einer Großstadt wie dieser ja öfter mal, bleibe ich nie stehen und schaue dabei zu, was in den folgenden Minuten passiert, die ja im Grunde meist gleich ablaufen: Jemand ruft einen Krankenwagen, dann steigen zwei Sanitäter aus, versorgen den Verletzten und fahren mit Sirenengeheul und Karacho davon.

Ich gehöre für gewöhnlich zu denjenigen, die sich gnadenlos über andere Spanner auslassen: Was stehen die da so blöde rum? Was gibt’s da zu glotzen? Haben die kein Zuhause? Und ja, ich weiß auch, dass so ein Unfall unsere Urängste anspricht und man im Grunde genommen auch nicht spannt, um sich künstlich an der Szenerie aufzugeilen, nein, der Mensch per se ist erst von dem Geschehen so gelähmt, dass er stehenbleibt, stehenbleiben muss. Und guckt. Und spannt. Wie ein neugieriger Zombi. Und manche verarbeiten das Ereignis nicht so schnell und kriegen es nicht auf die Reihe, wenn ihr Kopf ihnen sagt: so, jetzt kannste eigentlich mal langsam wieder weitergehen.

Folgendes hat mich kürzlich vollends gelähmt. Kein Unfall. Diese Begebenheit löste mehrere Kurzschlüsse und Kettenreaktionen in meinem Hirn aus. Wie althergebracht schlurfe ich durch meinen Kiez. Die Dunkelheit brach bereits an. Ich bummle die Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg entlang, laufe vorbei an Bio-Märkten und Natur-Märkten und Bio-Bio-Bio-Märkten. Und stehe plötzlich vor einem Café. Von draußen schaue ich durch die Scheibe und sehe: Eine Mutter. Sie stillt ihr Kind. Am Tisch. Dazu trinkt sie ein Heißgetränk. Früher waren mir stillende Mütter in der Öffentlichkeit immer ein bisschen unangenehm, um nicht zu sagen, nicht ganz geheuer, aber heute macht mir das nichts mehr aus. Ich denke, dass das jeder Mutter selbst überlassen sein sollte, ob sie ihr Kind öffentlich stillt. Und sowieso, wir sind ja alle aufgeklärt und sehr modern.

Die Kellnerin kommt und streichelt des Babys Köpfchen. Ich werde bei diesem Anblick nun innerlich ein bisschen überheblich und kann nicht verstehen, wie die Kellnerin das Köpfchen des Kindes streicheln kann, wo es doch gerade an des Mutters Brust hängt. Nun gut, denke ich, vielleicht ist die Kellnerin ja die Hebamme der Stillerin oder deren Schwester oder deren Freundin oder, oder, oder. Ich möchte gerade weitergehen, als mir plötzlich dutzende Kinderwagen vorm Eingang des Ladens, im Eingang selbst und im Vorraum des Cafés auffallen. Also schaue ich noch einmal in das Café-Fenster. Und erblicke noch eine stillende Mutter. Und noch eine. Und hinten in der anderen Ecke des Raumes sitzen zwei Frauen an einem Tisch, die das Kind gemeinsam stillen. Also jede ihr eigenes natürlich.

Ich bin von dem Anblick elektrisiert. Mein Gemütszustand ist plötzlich... fast nicht mehr vorhanden. Ich habe ihn unbewusst ersetzt in einen Zustand der verzweifelten Verwunderung oder verwunderten Verzweiflung oder anders gesagt, ich merk schon, ich bin unfähig zu einer treffenderen Bezeichnung: einen Zustand der Fassungslosigkeit. Meine Gesichtszüge entgleiten. Mir klappt die Kinnlade runter, in der Gusche wird’s schon langsam etwas zügig. Ich – verwirrt. Wegen stillender Mütter, wegen eines Still-Cafés. Ich merke allmählich wie ich gehässig werde: Packen die hier in aller Öffentlichkeit ihre Brüste aus, diese jungen Mütter?, erdreiste ich mich zu fragen. Und stelle mir vor, was diese Damen so bestellen und ob es inzwischen nicht nur normal, sondern sogar en vogue ist, zum Stillen extra ins Café zu gehen. Ich bin so was von festgefahren! Und Passanten, die die Busen-Szenerie mitkriegen, ebenso. Sie schauen, raunen, zischen, tuscheln. Kopfschütteln. Unverständnis. Eine Omi verschluckt sich fast bei dem, wie sie es nennt, "obszönen Anblick der Barbusigen".

Während es dem Land in seiner kollektiven Borniertheit schnurz ist, wenn blanke Möpse überall auf Werbe-Plakaten kleben, reibt es sich an neu eröffneten Still-Cafés auf. Ich kann von Glück reden, dass ich mir vom vielen Kopfschütteln nicht irgendwas ausgerenkt habe, einen Halswirbel womöglich oder gleich das ganze Gehirn.

Ich entschließe mich, schleunigst weiter zu gehen, bevor der Wahnsinn mit mir durchgeht. Dachte ich doch allen Ernstes: Demnächst eröffnen sie hier noch Cafés, wo man gemeinsam (Nein, ich sage es nicht, ich spreche es nicht aus!) ...kann. Ich habe wirklich Angst, dass jemand diesen, meinen Gedanken für ein neues Hipster-Geschäftsmodell halten könnte und demnächst beim Arbeitsamt (neumodisch: Jobcenter) einen Business-Plan einreicht. Ich bin sicher, im Prenzlauer Berg würden sie das sogar genehmigen. Werbeslogan: Scheiß dich glücklich! (Denn die Cafés: "Kauf dich glücklich" und "Stillen macht glücklich" gibt’s ja bereits) Nicht, dass mir das einer der Leser klaut. Warnung: Ich werde die Idee patentieren lassen! Findet Ihr mich auch so unglaublich intolerant?

fragt Greta.

***

Liebe Greta,

Du weißt ja, wir Männer sind ein bisschen anders, neigen eher zum Theoretisieren und Analysieren und wollen alles verstehen und ergründen, während Ihr Frauen Euch meist mit Ausflügen in Eure eigene Welt der hormongesteuerten Emotionen begnügt. Das ist einfach so und hat nichts mit Alter und Herkunft zu tun, sondern einzig und allein mit dem spezifisch männlichen Ticken der evolutionsbiologischen (Eier)-Uhr (entschuldige bitte den kleinen platten Scherz). Wir möchten den großen Zusammenhang begreifen. Und was den nun betrifft, so sage ich gleich vorweg, dass mich das Vorhandensein dieser sogenannten Still-Cafés kein bisschen überrascht.

Ich könnte jetzt ziemlich weit ausholen zu einem Exkurs in die Kulturgeschichte. Die wimmelt ja von Beispielen dafür, was schon so alles an intimen Verrichtungen vor den Augen einer mehr oder minder großen Öffentlichkeit stattgefunden hat. Könige und Kaiser hielten Hof, während sie auf dem Lokus saßen, Hochzeitsnächte wurden regelrecht dokumentiert, öffentliche Badehäuser waren die reinsten Swingerclubs - nicht zu reden von den alten Griechen, bei denen die Olympiateilnehmer nackt waren und in deren Gymnasien so manches abging, was relativ wenig mit der Bildung von Körper und Geist zu tun hatte. An dieser Stelle könnte ich jetzt auch noch etwas zum Themenbereich Päpste/Putin/Homophobie einflechten, aber das würde nun tatsächlich etwas zu weit führen.

Lieber erwähne ich zwecks Herstellung des großen Zusammenhangs Alice Schwarzer, auch wenn die noch nie in einem Still-Café aktiv geworden sein dürfte. Denn letztlich geht es auch hier um Gesellschaftspolitik - um die Wechselwirkung und Trennung bzw. Nicht-Trennung zwischen Politischem und Privatem. In jenen Zeiten, da sich Frau Schwarzer ihre unbestrittenen Verdienste - und zwar die, die sich nicht in Geldbeträgen ermessen ließen - erwarb, galt bekanntlich die progressive These, dass das Private politisch sei und umgekehrt. Heute sagte Frau Schwarzer, ihr Schwarzgeld sei ihre Privatangelegenheit. Und gleichzeitig finden Millionen und Abermillionen Menschen längst nichts mehr dabei, ihr Privatleben via Internet oder, sofern sie aufgrund einer wie immer gearteten B-, C- oder D-Prominenz irgendwelche Deals mit dem Boulevard gemacht haben, per TV oder in Klatschblättern öffentlich zu machen.

Kurz: Die Maßstäbe auf diesem Gebiet sind total verrutscht. Der öffentliche Raum ist durch und durch pornografisiert, aber das hindert bestimmte Leute nicht daran, sich über den Anblick einer zum Zweck der Kleinkindernährung gezückten Mutterbrustwarze zu echauffieren. Frau Schwarzer kämpft gegen die Prostitution, fand aber nichts dabei, für die BILD zu kolumnieren, ein Blatt, das Sex-Inserate und Fotos aus der Abteilung weibliche Fleischbeschau druckt und nicht gerade für linke Gleichberechtigungspropaganda bekannt ist.

Überhaupt habe ich den Eindruck, dass auf dieser Welt das Widersprüchliche, Paradoxe, Unangemessene immer mehr Lebensbereiche erobert. Um noch mal auf die Still-Cafés zurückzukommen: Ja, doch, mich stört es schon, dass es so etwas gibt, und zwar insofern, als diese Lokalitäten ein Zeichen dafür sind, welch ein Bohai heute manche um die schlichte Tatsache einer geglückten Fortpflanzung machen - so als sei das Kinderkriegen nicht die natürlichste Sache der Welt Sie zelebrieren ihre Mutter- bzw. Elternschaft förmlich und machen daraus eine neuartige Religion um ihr heiliges Kind. Die stillende Mutter im Café wird somit fast zu einer Art trivialem Abklatsch der Pieta, wobei ihr Kind im Unterschied zur echten Pieta allerdings lebendig ist - zum Glück.

Die amtierenden deutschen Politiker geben aus Sorge um die Rentenkassen allenthalben Parolen zur Vermehrung aus - so als gäbe es nicht jede Menge Länder, denen es mit wesentlich weniger Einwohnern als Deutschland sehr gut geht. Aber längst nicht einmal allen Kindern, die in Deutschland geboren werden, geht es wirklich gut. Und vielen, sehr vielen Kindern, die irgendwo sonst zur Welt kommen, geht es dermaßen beschissen, dass man ihnen beinahe wünschen würde, sie wären gar nicht erst geboren, weil in ihrer Heimat Not und Krieg herrschen.

Währenddessen machen sich unsere sogenannten politischen Eliten neuerdings einen Kopf darüber, ob nicht mehr deutsche Soldaten hinaus geschickt werden müssten, um überall für Recht und Ordnung zu sorgen. Dabeisein ist bekanntlich alles, nicht nur bei Olympia, sondern auch im Krieg. Und die stark mutterkreuzverdächtige deutsche Verteidigungsministerin - ob die ihre siebenköpfige Brut mit Warze oder Flasche großgekriegt hat, sei dahingestellt - träumt polit-programmatisch von einer besseren Vereinbarkeit des Soldatenberufs mit familiären Belangen. Vermutlich müssen wir uns den familienfreundlichen deutschen Soldaten der Zukunft so vorstellen, dass er vormittags irgendwo in der Welt ein paar Erwachsene totschießt und damit einige Kinder zu Waisen macht und nachmittags seinen eigenen Nachwuchs aus der Kita abholt oder ein Handyfoto von seiner stillenden Gattin auf Facebook postet, das aber von Herrn Zuckerberg prompt gelöscht wird, weil sich so etwas nun mal einfach nicht gehört.

Manchmal träume ich davon, dass die Menschheit etwas normaler wäre.

In diesem Sinne und mit besten Grüßen

Ben

Die Blödheit der Anderen

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