Читать книгу Nocturno - Ben Worthmann - Страница 3
1.
ОглавлениеEr erwachte und stellte fest, dass er äußerst unbequem lag. Merkwürdig, dass er auf einem solch harten Untergrund überhaupt hatte schlafen können. Doch vielleicht hatte er ja gar nicht geschlafen, sondern war tot. Dunkel genug war es jedenfalls um ihn herum, um ihn auf solch einen Gedanken zu bringen. Aber konnte man als Toter noch denken? Eine schwierige Frage, viel zu schwierig, als dass er sie ausgerechnet jetzt hätte beantworten können. Wahrscheinlich war es auch eher so, dass er noch schlief und lediglich träumte, er sei erwacht; so etwas war ihm schon häufiger passiert.
Bevor er diese anstrengenden Überlegungen zu Ende bringen konnte, machte er weitere Entdeckungen: Über ihm war der Nachthimmel, mit einigen Sternen besetzt und stellenweise von Wolkenfetzen verhangen. Doch er konnte ihn nur mit dem linken Auge richtig sehen, da das rechte schmerzhaft geschwollen war. Auch seine Hände, mit denen er sich jetzt prüfend über das Gesicht fuhr, fühlten sich wund an, als er in dem Versuch, sich aufzurichten, den steinernen Boden abtastete. Als er aufrecht saß und instinktiv den Kopf schüttelte, um ihn klar zu bekommen, durchfuhr ihn ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf und er ertastete eine Beule. Sofort befühlte er seine Oberschenkel, den Bauch, die Brust auf der Suche nach womöglich weiteren verborgenen Verletzungen, fand aber nichts. Erleichtert registrierte er, dass die Brieftasche an ihrem gewohnten Platz in der Innentasche des Jacketts war, ebenso die flache goldene Uhr an seinem linken Handgelenk. Sie zeigte auf halb eins.
Mit mechanischen Bewegungen klopfte er vermuteten Schmutz von seinen Jeans und dem dunklen Leinenjackett, ordnete unbeholfen das graue Seidenhemd, das halb aus der Hose hing und bis zur Brust geöffnet war, und spürte ein starkes Bedürfnis nach einer Zigarette. Mit seinen wehen Fingern begann er die Jackentaschen zu durchsuchen, stieß auf ein zerknittertes Päckchen und pulte eine von drei ramponierten Zigaretten heraus. Dann begann er nach seinem Feuerzeug zu suchen, fand aber nur seine Schlüssel. Das Feuerzeug fehlte, ein goldener Barren von der Größe einer halben Zigarettenschachtel, der angenehm schwer in der Hand lag. Er war vom selben Designer entworfen wie die Armbanduhr. Beides waren Geschenke, mit seinen Initialen versehen, MZ für Max Ziegler, Geschenke von Hanna. Der Gedanke daran überfiel ihn unvermittelt und verband sich mit einem unbestimmten, bitteren Gefühl, das aber schnell wieder verflog. Mehr als der Verlust des materiellen und ideellen Wertes, den das Feuerzeug darstellte, quälte ihn der erzwungene Verzicht auf die tröstende Zigarette.
Eines stand fest: Er musste hier weg, so schnell wie möglich, alleine schon um rauchen und etwas trinken zu können. Ein eiskalter Wodka war jetzt genau das, was er brauchte. Während er sich sitzend reckte, um die zum Aufstehen benötigte Spannung in seinen Körper zu bringen, und seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, versuchte er herauszufinden, wo er war. In einiger Entfernung stand eine Straßenlaterne; dort, wo er saß, warfen lediglich die beleuchteten Hausnummern ihr fahles Licht. Sie gehörten zu Mietshäusern älterer Bauart, mit einstmals großbürgerlichen Wohnungen, die im Laufe der Zeit zerstückelt und auf deutlich bescheidenere Verhältnisse zugeschnitten worden waren. Er kannte solche Gegenden von langen, regelmäßigen Wanderungen durch die städtische Landschaft, für die er sich halbprofessionell, wie er es selbstironisch zu nennen pflegte, interessierte, wusste alles einzuordnen in die urbane Topographie, und wenn er auf Anhieb auch nicht ganz genau sagen konnte, wo er war, so doch, dass es sich um eine Gegend nicht weit von der neuen, prunkenden, funkelnden Hauptstadtmitte handeln musste, einen Ausläufer jener kargeren Regionen, die vielfach in abruptem Kulissenwechsel in die ausgeleuchteten Arenen des städtischen Treibens übergingen, genau wie umgekehrt.
Als er schließlich stand er, noch immer etwas benommen, machte er ein paar Schritte auf nicht ganz sicheren Beinen. Das Haus direkt vor ihm trug die Nummer 112, das nächste, neben einer Toreinfahrt zu einem der typischen Hinterhöfe, die 112 a, und indem er diese Informationen intuitiv speicherte, fiel ihm auch der Name der Straße wieder ein – Schledestraße. Er war in Kreuzberg. Als nächstes fiel ihm ein, dass er sich früher am Abend anderswo aufgehalten hatte, im Ostteil der Innenstadt, unter anderem in der Friedrichstraße, aber weiter reichte seine Erinnerung nicht.
Abermals tastete er nach den Zigaretten, bemerkte, dass er die eine immer noch unangezündet im Mund hatte, vermisste erneut das Feuerzeug, fluchte stumm, tat einige weitere Schritte und verharrte sofort wieder, als er auf dem Boden vor der Hausfront zwei dunkle Schatten erblickte. Im ersten Moment dachte er an Sperrmüll oder irgendwelche Lumpenbündel, aber dass das ein Irrtum war, sagte ihm ein unangenehmes, fröstelndes Gefühl, das ihm den Rücken hinauf kroch, während er langsam näher trat. Zugleich tauchten vor seinem inneren Auge Bruchstücke von Bildern auf. Es waren schemenhafte Szenen eines Kampfes, die ihm eine erste vage Ahnung davon gaben, woher seine Blessuren rührten.
Der Körper der Frau lag, den Kopf zur Hauswand hin, in leicht gekrümmter, halb seitlicher Haltung quer auf dem Gehweg. Er wusste, dass es die Frau war, noch bevor er näher heran getreten war, um sich zu ihr hinab zu beugen. Etwas schimmerte matt zwischen den dunklen Haaren – eine goldfarbene Spange. Er erinnerte sich plötzlich, wie sie ein paar Mal Lichtreflexe geworfen hatte, als er der Frau gefolgt war, vorhin, in den helleren Straßen. Das war aus einer Laune heraus geschehen, ohne benennbare Absicht. Etwas an ihrem Gang hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Sie hatte sich mit der beiläufig graziösen Geschmeidigkeit eines Menschen bewegt, der sich seiner Körperlichkeit bewusst ist, ohne dass es einstudiert wirkt. Ihr Gesicht hatte er nicht gesehen, nur die Rückenansicht ihrer schlanken, mittelgroßen Gestalt in einem kurzen Rock und einem weißen knappen Oberteil.
Sie lag dort wie im Schlaf. Soweit sich das im spärlichen Licht erkennen ließ, war sie relativ jung und auf eine eher alltägliche Art attraktiv, ähnlich wie viele junge Frauen, die einem auf der Straße, in Geschäften oder in Cafés und Restaurants begegneten. Das Oberteil war ein wenig verrutscht und gab ein Stück ihres flachen Bauchs frei, die kleine Jacke, die sie wegen der hartnäckigen Hitze dieses Sommerabends nur locker über die Schultern geworfen hatte, als er ihr gefolgt war, lag neben ihr, ebenso ihre Handtasche. Da er zunächst kein Anzeichen von Atmung erkennen konnte, beugte er sich noch näher zu ihrem Gesicht und meinte einen schwachen Duft von Parfum und Alkohol wahrzunehmen. Er konnte zwar nicht mit letzter Sicherheit beurteilen, ob sie tot war oder nur bewusstlos, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie noch lebte. Das aber hieß, dass er etwas tun, dass er Hilfe herbeirufen musste – nur wie? Ein Handy hatte er, wie fast immer, nicht dabei, da er Handys hasste. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, was aber mit Blick auf seine eigene, heikle, kaum erklärbare Situation letztlich nur von Vorteil war. Deshalb verwarf er auch sofort die Idee, im nächsten Haus irgendwo anzuklingeln. Er musste hier weg, dachte er erneut, aber vielleicht sollte er wenigstens die Frau in jene Position bringen, die in den Erste-Hilfe-Regeln empfohlen wurde – stabile Seitenlage hieß das wohl, soweit er wusste. Er wagte es jedoch nicht, sie anzufassen, vor allem aus Furcht, etwas falsch zu machen, aber nicht allein deswegen.
Sein Blick fiel auf den zweiten Schatten. Er musste sich überwinden, ein Stück näher heran zu gehen. Der Mann lag zur Straße hin auf dem Rücken, der Oberkörper steckte in einer mit Nieten beschlagenen Lederjacke, die Beine waren zu einem schmalen V gespreizt, die Spitzen der schweren Schnürstiefel zeigten nach oben. Der Kopf war nach hinten über die Bordsteinkante gekippt, ein kahler Schädel über einem breiten, fleischigen Gesicht, das einem jungen, kaum erwachsenen Mann gehörte. Aus dem rechten Mundwinkel zog sich ein Rinnsal von Blut, das wegen der Lage des Kopfes zum Ohr hin verlief und sich dort womöglich mit anderem Blut vermischt hatte, das aus dem Ohr stammte.
So wie er zu wissen meinte, dass die Frau lebte, so sicher war er, dass der Mann tot war, auch wenn ihm jede praktische Erfahrung für einen solchen Befund fehlte; den Anblick Toter, die auf solche Weise ums Leben gekommen waren, kannte er nur aus Filmen. Aber dieses Wissen reichte ihm vollauf. Der Schrecken darüber verursachte ihm ein leeres, flaues Gefühl in der Magengrube, so als habe ihn dort ein heftiger Faustschlag getroffen – ein Schlag jener Art, wie sie vorhin ausgetauscht worden sein mussten, als es passiert war.
Die Erinnerungsbilder wurden jetzt deutlicher. Er war der Frau gefolgt, über eine ziemlich lange Strecke, immer weiter nach Kreuzberg hinein, und er hatte sich dabei keinerlei Mühe gegeben, auf einen halbwegs diskreten Abstand zu achten, sondern sich ihr immer wieder bis auf fünfzehn, höchstens zwanzig Meter genähert. Er hatte sogar ziemlich bewusst den Reiz der ungewohnten Situation genossen und ein wenig darauf spekuliert, dass sie ihn womöglich bemerken und etwas zu ihm sagen würde. Wie er dann reagieren würde, so weit hatte er allerdings nicht gedacht. Dann, in der stillen, grauen, schäbigen Schledestraße, hatte dieses kleine, nicht ganz ernste, von vager Erotik gefärbte Spiel plötzlich ein böses Ende gefunden. Jemand war aus der Toreinfahrt geschossen gekommen und hatte sich über die Frau hergemacht. Und er, Max, war ihr, ohne eine Sekunde nachzudenken, sofort zur Hilfe geeilt und hatte sich auf den Angreifer gestürzt. Es war zu einem kurzen, heftigen Kampf gekommen, doch an die Einzelheiten des Verlaufs konnte er sich nicht erinnern, so sehr er sich bemühte. Er wusste nur noch, dass ihn eine rasende Wut gepackt hatte und er blindlings zugeschlagen hatte. Und noch etwas wusste er – dass da noch ein weiterer Mann beteiligt gewesen war, der sich sehr schnell entfernt hatte. Das Stakkato seiner hastigen Schritte klang ihm noch ihm Ohr, ebenso wie die Geräuschkulisse des Kampfes, das Schnauben und Stöhnen und Zusammenprallen von Knochen und Fleisch.
Und jetzt lagen hier ein Toter und eine verletzte, bewusstlose Frau. In was für eine Sache war er da nur hineingeraten! Sein Verhalten kam ihm so fremd und fern von allem vor, was seine Person und sein Leben ausmachte, dass er es einfach nicht glauben wollte.
Erneut schaute er auf seine Armbanduhr. Seit seinem Aufwachen waren gerade fünf Minuten vergangen, die ihm jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann fiel ihm wieder das verschwundene Feuerzeug ein und er erinnerte sich, dass er es aus einem Reflex heraus in die rechte Faust genommen, um die Wucht seiner Hiebe zu verstärken, ganz wie ein geübter Schläger. Er spürte eine weitere Woge von Scham, Schwindel und Schwäche, gefolgt von der nüchternen Überlegung, dass das Feuerzeug sich irgendwo hier befinden und er es suchen musste. Schon um seine Zigarette endlich anzünden zu können, brauchte er Feuer. Ich könnte ja in der Handtasche der Frau nachzuschauen, ob dort Streichhölzer sind, dachte er – um sogleich dagegen zu halten, dass das so etwas wie Fledderei wäre. Er tat es dann aber doch und schämte sich dafür. Wer hätte je geahnt, dass er einmal heimlich die Handtasche einer Frau durchwühlen würde, noch dazu einer wildfremden? Obwohl – eine große Rolle spielte das nun auch nicht mehr.
Er fand, was er suchte, eine angebrochene Schachtel langer Filterzigaretten und ein Streichholzheftchen. Die Zigaretten ignorierte er und auch, in einem Anflug von Skrupeln, das, was sich sonst noch in der Tasche befand. Mit zitternden Fingern riss er ein Streichholz an, das aber zerbrach. Da nur noch zwei übrig blieben, war er beim nächsten vorsichtiger. Das winzige Feuer kam ihm vor wie ein tröstendes Licht, dankbar sog er den Tabakrauch in seine Lungen ein. Ein paar Sekunden zögerte er, dann steckte er das Streichholzheftchen in die rechte Tasche seiner Jeans und ging weg. Erst langsam, dann zügig, schließlich rennend ließ er die dunkle Straße hinter sich.
Er erreichte eine Kreuzung, bog in eine hellere, belebtere Straße ein und drückte sich, keuchend nach Atem ringend, in einen Hauseingang, als er von den Scheinwerfern eines Autos geblendet wurde. Eine Gruppe angetrunkener Jugendlicher kam ihm lärmend entgegen und er wechselte sofort die Straßenseite, hastete weiter. Erst als er in die nächste Straße eingebogen war, wo auf Fahrbahn und Gehwegen noch reger Betrieb herrschte, verlangsamte er sein Tempo und mischte sich unter die Passanten. Jetzt bin ich erst einmal in Sicherheit, dachte er, weit genug weg vom Tatort und unerkannt. Tatort – wie das klang! Erneut überfiel ihn das Bewusstsein, in welch eine aberwitzige, beklemmende Situation er geraten war. Wie sollte er dies nur jemandem plausibel erklären, seiner Frau, seinen Freunden? Ganz zu schweigen von der Polizei, die sich selbstverständlich für den Fall interessieren würde. Max Ziegler, Ehemann einer reichen, stadtbekannten Unternehmerin, wohnhaft in einer feudalen Wannsee-Villa, war jetzt ein Kriminalfall. Welch ein absurder Gedanke. Aber musste er es überhaupt jemandem erzählen? Konnte er nicht einfach alles vergessen und hinter sich lassen und so tun, als sei nichts geschehen? Sein kultiviertes, privilegiertes Leben weiter leben wie bisher?
Vor einem Schaufenster mit Damenbekleidung blieb er stehen, um sich zu inspizieren. Er erblickte sich in einer Kulisse von Schaufensterpuppen in bereits herbstlichen Mänteln und Kostümen und musste zweimal hinschauen, um erst die Konturen und dann die Details seines gläsern-schattigen Ichs auszumachen. Ganz so schlimm, wie er befürchtet hatte, war der Anblick wohl doch nicht. Die Blessur über dem Auge bestand aus einer geröteten Schwellung, die auf den ersten Blick nicht unbedingt als Folge einer Schlägerei zu erkennen war. Auch seine Garderobe wies keine spektakulären Schäden auf.
Doch als er sich eingehender untersuchte, stellte er fest, dass zwei Hemdknöpfe fehlten. Das war sehr unangenehm, denn es handelte sich nicht um irgendwelche Knöpfe, sondern um eine bestimmte Art von Perlmuttknöpfen, die ebenfalls seine Initialen trugen. Der Schneider, bei dem er auf Zureden Hannas meistens seine Garderobe anfertigen ließ, hatte großen Wert auf die Tatsache gelegt, dass es ganz besondere, unverwechselbare Knöpfe waren, kleine Kostbarkeiten hatte er sie genannt.
Max versuchte die Frage, welche Probleme dieser Verlust nach sich ziehen könnte, einstweilen beiseite zu schieben. Er betrachtete sein Spiegelbild. Da stand ein Mann Ende der vierzig, von mittelgroßer, ziemlich kräftiger Statur, dessen dunkelblondes Haar schon etwas schütter und an den Schläfen ziemlich grau war, ein Mann mit einem schmalen, ernsten, markanten Gesicht, auf dem der Ausdruck einer ständigen leichten Melancholie lag. Er wusste, dass er schon seit längerer Zeit und nicht erst seit diesem Abend müde aussah. Und plötzlich wusste er auch, dass er jetzt sofort etwas tun musste, um das akute Desaster wenigstens zu begrenzen, wie es sich für einen vernünftigen Menschen gehörte, statt sich der Illusion hinzugeben, die Probleme würden sich von selbst erledigen.
Ein paar Schritte weiter war ein Lokal, eines der vielen so genannten Cafés, die es in Berlin gab, in denen alles mögliche angeboten wurde, nur nicht Kuchen und Torte, und die bis in den Morgen geöffnet hatten und eigentlich nichts weiter als ganz normale Kneipen waren; von dort wollte er die Polizei anrufen – anonym, damit hätte er fürs erste seine Pflicht erfüllt –, nachdem er ein Glas getrunken hatte, um etwas zur Ruhe zu kommen. Vor der Tür drängten sich, wie überall neuerdings, die Raucher in Grüppchen, während drinnen nicht allzu viel Betrieb herrschte. Er setzte sich an einen Tisch in einer Ecke und überließ sich für einen Moment seiner Müdigkeit. Als die Bedienung kam, schreckte er hoch und bestellte einen doppelten Wodka. Er trank ihn ex, um sogleich einen weiteren zu verlangen.