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4.

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Als er Agnes mit dem schnurlosen Telefon auf die Terrasse herauskommen sah, befiel ihn ein ungutes Gefühl. Sollte es tatsächlich schon losgehen? Aber nein, das konnte doch gar nicht sein, dass man so schnell auf ihn, auf seinen Namen gestoßen war.

Agnes hatte ihm den Tisch zum Mittagessen draußen gedeckt, wie immer so stilvoll mit dem teuren Porzellan, dem schweren Silberbesteck, der Leinenserviette und dem geschliffenen Kristallglas, als gelte es einen wichtigen Besuch zu bewirten. Es gab Rinderfilet mit grünen Bohnen und Rosmarinkartoffeln, eines seiner Lieblingsgerichte, und sie kochte es vorzüglich, wie er zugeben musste. Aber er verspürte kaum Hunger, obschon er seit dem Essen am Abend zuvor keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Er musste sich die Bissen regelrecht herunter zwingen. Kurz bevor Agnes kam, hatte er eine Scheibe von dem Fleisch betont unauffällig ins Rosenbeet geworfen, wo sich sofort ein paar Wannsee-Möwen darum balgten. Er ging davon aus, dass sie ihn vom Küchenfenster aus beobachtete, schon aus Gewohnheit und in der gegenwärtigen Situation bestimmt erst recht, und deshalb war anzunehmen, dass sie Zeugin dieses Frevels geworden war, doch das störte ihn nicht im Geringsten.

„Ihre Frau“, sagte Agnes, und er griff so hastig nach dem Apparat, dass er mit dem Ellbogen sein Weinglas umstieß. Während Agnes ins Haus eilte, um etwas zum Aufwischen zu holen, stand er auf, stieg die Terrassenstufen hinab und wanderte auf dem Rasen hin und her. Hanna begann ohne längere Eröffnung und kam sofort zur Sache.

„Als sie gestern aus der Schule zurückkam, fand sie einen Brief von ihm auf dem Küchentisch. Der Henning war, wie immer, erst nach ihr aus dem Haus gegangen, weil er erst um zehn im Institut sein muss. Und in dem Brief stand ganz lapidar, dass er fortgeht und nicht wiederkommt. Das muss man sich einmal vorstellen. Ist das nicht ungeheuerlich?“

„Und Petra?“ fragte er, mit den Gedanken ganz woanders, „ich meine, was hat sie gemacht?“

„Sie hat sofort im Institut angerufen, aber da war er natürlich nicht. Man sagte ihr, er habe seinen gesamten Resturlaub genommen und außerdem einen längeren unbezahlten Urlaub beantragt. Eine andere Adresse hat er dort nicht hinterlassen, sondern lediglich erklärt, er werde sich telefonisch wieder melden. Mein Gott, Max, kannst Du Dir vorstellen, dass ein Mann einfach so Knall auf Fall seine Frau nach acht Jahren Ehe sitzen lässt? Ohne weitere Erklärung?“

Er empfand dies als eine mehr rhetorisch gemeinte Frage, bekam aber ohnedies keine Gelegenheit zu einer Antwort, denn Hanna fuhr gleich fort:

„Also, der Petra geht es jedenfalls ausgesprochen beschissen, das kann ich Dir sagen. Ich habe ihr gestern Abend etwas Starkes zur Beruhigung gegeben, aber sie hat trotzdem die ganze Nacht kein Auge zu getan, und heute Morgen war ich mit ihr dann sogar beim Arzt. Der hat sie erst mal krankgeschrieben. Sie hat einen richtigen Schock."

„Was denkst Du denn, wann Du zurück kommst?“ wollte er wissen.

„Also, so wie es aussieht, werde ich mindestens bis Sonntagabend bleiben. Es hängt aber auch ein bisschen davon ab, wann ich einen Flug bekomme. Ich habe nämlich keine Lust, mir nochmal solch eine Taxifahrt anzutun. Vor allem hängt es davon ab, wie es Petra geht. Kann sein, dass ich noch ein paar Tage dranhänge. In der Firma habe ich schon mal Bescheid gesagt, damit sie vorgewarnt sind und sich darauf einstellen. Ich werde mich auf jeden Fall wieder melden und dich auf dem Laufenden halten."

Max erwischte sich bei dem Gedanken, dass er gegenüber Henning so etwas wie Respekt empfand dafür, dass er den Mut und die Energie für sein völlig indiskutables Vorgehen aufgebracht hatte. Der brave, ruhige, langweilige Henning, der zu Hause immer in Strickwesten und ausgebeulten Cordhosen herumlief, hatte ihm durch sein selbstsüchtiges, verantwortungsloses Verhalten überdies einen großen Gefallen getan, ihm ein Geschenk von kaum schätzbaren Wert gemacht: Zeit. Dafür musste er ihm geradezu dankbar sein. Denn wenn es irgendetwas gab, das er im Moment wirklich dringend brauchte, dann war es Zeit ohne lästige, unangenehme Fragen, Zeit ohne Hanna. Er musste sich zusammenreißen, um seine Erleichterung nicht hörbar werden zu lassen.

„Ich hoffe nur, dass dich diese ganze Sache nicht zu viel Kraft und Nerven kostet“, sagte er und schaffte es sogar, ihre alte Floskel „ich vermisse dich“ ohne größere Schwierigkeiten über die Lippen zu bringen. Sie verwendeten sie immer noch aus Gewohnheit.

„Ich dich auch“, erwiderte Hanna, und das klang tatsächlich so, als sei es nicht gelogen, was ihn sich noch schäbiger vorkommen ließ. Immerhin hatte sie es nicht für notwendig gehalten zu fragen, wie es ihm gehe und ob alles in Ordnung sei. Und so gesehen war die Bilanz dann doch wieder halbwegs ausgeglichen. Oder vielleicht doch nicht, aber in umgekehrtem Sinne? Hanna Schil­derungen hatten sich nachvollziehbar und lebensecht angehört und ihre Stimme völlig normal geklungen. Und wenn da doch wieder die innere Stimme war, die Zweifel daran zu schüren versuchte, so blieb sie jedenfalls zu schwach, um sich ernstlich bemerkbar zu machen.

Als er das Telefon in der Diele zurück auf die Station legte, fiel sein Blick auf den Stapel Zeitungen und Zeitschriften auf der Kommode. Hanna drängte ihn dauernd, die Abonnements zu kündigen oder zumindest das Sortiment auf das unbedingte Notwendige hin zu sichten und zu lichten, da man doch mittler­weile so gut wie alles online lesen könne. Aber er tat sich schwer mit den neuen Gewohnheiten, die das digitale Zeitalter mit sich brachte. Er mochte keine Handys, und auch sein Laptop blieb ihm im Grunde suspekt. Er sah in ihm in erster Linie eine Fortentwicklung der Schreibmaschine und nutzte nur selten die Möglichkeiten des Internet. Aber eines stand dennoch fest: In den kommenden Tagen würde er ein besonderes Augenmerk auf die Berliner Lokalteile haben müssen, speziell auf die Polizeiberichte, egal, ob in den Printausgaben oder in den Online-Versionen.

Später versuchte er sich dazu zu zwingen, sich noch für eine Stunde an den Computer zu setzen und zu schreiben, nicht weil er sich besonders inspiriert gefühlt hätte, sondern aus dem Bedürfnis heraus, sich mit etwas Vertrautem zu beschäftigen, um sich abzulenken, um den Einfluss des Ungewohnten, Beunruhigenden zurückzudrängen. Er arbeitete gerade an einem Aufsatz über die Veränderung der städtischen Lebensverhältnisse und –gewohnheiten binnen des jüngsten Jahrzehnts, den er für eine Monatsschrift verfasste. Es handelte sich um eine ziemlich angesehene, anspruchsvolle Publikationsreihe, die allerdings nicht übermäßig viele Leser fand, und er war stolz darauf, dass man mit diesem Auftrag an ihn herangetreten war. Autoren von internationalem Rang und Namen, die sich mit Urbanistik, Architektur und soziologischen Fragen befassten, publizierten dort regelmäßig. Das war für ihn ein Ansporn, sich besondere Mühe zu geben, und er hatte in den Tagen zuvor oft stundenlang über einzelnen Sätzen gebrütet, getrieben von dem neuerdings deutlichen Wunsch, sich in diesen Kreisen etablieren zu können, nachdem er mit seinem Schreiben in all den Jahren stets unter seinen Möglichkeiten geblieben zu sein meinte, nicht zuletzt deswegen, weil es ihm stets an dem erforderlichen Ehrgeiz gefehlt hatte. Eine Woche lang hatte er Tag für Tag die Staatsbibliothek aufgesucht, um Exzerpte anzufertigen, und hatte sich dabei an seine Studententage erinnert gefühlt. Er hatte nicht mehr allzu viel Zeit, und eigentlich hätte er täglich mehrere Stunden am Computer sitzen müssen, um den Abgabetermin nicht zu versäumen.

Aber er tat sich schwer damit, die notwendige Konzentration aufzubringen, um auch nur eine einzige vertretbare, druckreife Zeile zu schreiben. Er wollte über die Aufforstung des Großstadtdschungels schreiben, wie er es mit Blick auf Kreuzberg oder Prenzlauer Berg im Geist formulierte, und ihm schwebte vor, der Verwandlung solcher ehemals problematischen Bezirke in allseits begehrte Horte der viel beschworenen neuen Bürgerlichkeit jenen Prozess eines schleichenden Niedergangs entgegenzusetzen, der anderswo zu beobachten war, selbst unten im vornehmen Südwesten. Immer mehr Villen sah man an, dass ihre Bewohner Insolvenz hatten anmelden müssen oder kurz davor standen. Neuerdings hatte sich in einem ehemaligen Laden für Angel- und Bootsbedarf, in dem sich seit jeher die Anwohner mit Seegrundstück versorgt hatten, sogar ein Textildiscounter angesiedelt.

Er verbrachte mehrere Stunden mit dem vergeblichen Bemühen, etwas Sinnvolles zustande zu bringen und wunderte sich dann, wo die Zeit geblieben war. Resigniert entschloss er sich zur Anwendung einer anderen bewährten Methode der Verdrängung und Betäubung und öffnete eine Flasche Burgunder. Dann hörte er abwechselnd Beethovens Fünfte, eine alte Best-of-Sammlung der Rolling Stones und Dvoraks Neunte und stöberte in seinen Bücherregalen. Immerhin schaffte er es, bei dem Burgunder zu bleiben, bis er, gegen Mitternacht, plötzlich sehr müde wurde. Und immerhin erwachte er am nächsten Morgen in seinem Bett und fühlte sich einigermaßen ausgeschlafen. Aber das sollte auch schon alles bleiben, was sich über den folgenden Tag an Günstigem würde sagen lassen.

Nocturno

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