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1. Kapitel
ОглавлениеWar dies das Leben? Und musste man erst ein bestimmtes Alter erreicht haben, um sich diese Frage zu stellen? Ich tröstete mich damit, dass ich vermutlich nicht der Einzige war, der seine Schwierigkeiten damit hatte, eine befriedigende Antwort zu finden. Abend für Abend sank ich matt in meinen Korbsessel – handgeflochten, italienisch, mit weißen Bezügen aus strukturiertem Leinen, wir besaßen zwei davon, Annas Stolz – und dann dämmerte ich erst einmal eine halbe Stunde vor mich hin, ehe ich mich aufraffte, doch noch rüber ins „Body Shape“ zu gehen, um mich durch den Gerätepark zu kämpfen, oder wenigstens mit Frieda eine Runde um den Block zu laufen.
Wir nannten es „um den Block“, obschon es hier in unserer Gegend alles Mögliche gab, ein paar ordentliche Restaurants, einen teuren Friseur und sogar dieses Fitnessstudio, nur keine Wohnblocks. Es handelte sich vielmehr um eine Ansammlung mehr oder minder sehenswerter Einfamilienhäuser, darunter auch ein paar richtige Villen. Die meisten Häuser waren älterer Bauart, sie stammten aus der Zeit, als dieses Viertel noch ein Vorort von Berlin war und nicht Teil eines Bezirks wie seit der großen Gebietsreform in den goldenen Zwanzigern des zwanzigsten Jahrhunderts, und einige Häuser waren hübsch renoviert, wie beispielsweise unseres. Alle standen auf Grundstücken um die achthundert Quadratmeter, manche mit altem Koniferen- und Obstbaumbestand – wie ebenfalls unseres -, und das Ganze war durchzogen von kleinen baumbestandenen, im Sommer stets schattigen Straßen, die zusammen ein irgendwie rechtwinkliges Muster ergaben. Alles erschien wohl geordnet, zumindest von weitem betrachtet, aber so ist es ja oft.
Meistens machte eines unserer Kinder eine Runde mit Frieda um den sogenannten Block. Auch die Kinder nannten wir so, obwohl sie in Wirklichkeit keine Kinder mehr waren, sondern nahezu erwachsen, jedenfalls, soweit Kinder heutzutage mit zwanzig bis dreißig erwachsen zu sein vermögen. Später am Abend trank ich meinen Rotwein, wobei Anna mich immer ermahnte, ich solle bitte wegen der weißen Sesselkissen aufpassen. Dabei fiel es mir ohnehin nicht leicht, mich zu entspannen, falls nicht Wochenende war oder ich gerade am nächsten Tag mal keinen Dienst hatte. Meistens hatte ich Dienst, auch am Wochenende, und genau das war ebenfalls ein Teil des Problems. Es gibt nun mal diese idiotischen Berufe, bei denen der göttliche Rhythmus der Wochentage einen Dreck zählt und die natürliche Ordnung der Schöpfung schon gar nichts: Fernsehmoderatoren, Polizisten, Krankenschwestern, U-Bahnfahrer, Busfahrer, Restaurantpersonal, Fitnesstrainer, Soldaten, Piloten, Hoteliers, Taxifahrer, Bademeister, Schriftsteller, Priester, Gefängniswärter, um nur ein paar zu nennen – und eben auch uns Zeitungsleute.
Man könnte die Sache auch von der anderen Seite sehen und würde sogleich feststellen, dass die Zahl der Menschen, die niemals an einem Wochenende arbeiten müssen, vergleichsweise gering ist. Doch in den Köpfen der meisten Leute verbinden sich, allem Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft zum Trotz, mit dem Begriff Arbeit immer noch Vorstellungen aus frühindustriellen Tagen. Aber nicht nur deswegen neigte ich in letzter Zeit zu der Auffassung, dass man nicht der allergrößte Zyniker sein muss, um die meisten Berufe für mehr oder weniger idiotisch zu halten. Letzten Endes dienten sie doch nur dem zweifelhaften Zweck, einem ein gewisses Quantum Geld einzubringen, eben genug, um bei Laune gehalten zu werden, aber zu wenig, um wirklich leben zu können, sofern man unter dem Leben nicht nur ein Dasein als Berufstätiger verstand.
Gewiss, es gab ein paar Verrückte, die ihren Beruf als Berufung begriffen – oft genug waren es interessanterweise solche Zeitgenossen, denen deutlich mehr als das übliche Bei-Laune-halten-Quantum auf ihr Konto überwiesen wurde. Doch das bestätigte mich nur in meiner Überzeugung, dass es sich bei all dem, was so über Arbeit, Beruf und Sinnerfüllung erzählt wurde, größtenteils entweder um Heuchelei oder um Missverständnisse oder um blind übernommene Klischeevorstellungen handelte. Und manche Klischees hielten sich besonders hartnäckig, wie beispielsweise auch jenes von dem angeblich hochinteressanten Leben, das Journalisten führen. Inzwischen kostete es mich große Mühe, den Mund auch nur zu einem kleinen wissenden, leicht ins Hämische spielenden Grinsen zu verziehen, wenn ich dergleichen hörte – um sodann müde abzuwinken und zu erklären, dass auch Journalisten längst nichts anderes mehr seien als ganz normale Bürosklaven.
Allerdings wurden die Gelegenheiten zu solchen aufklärerischen Momenten inzwischen immer seltener. Mit unserer Branche ging es rapide bergab, das dämmerte allmählich auch denen, die immer noch blauäugig von enormen Karrieren in den sogenannten Medienberufen träumten. Überall schlichen nassforsche Burschen in schwarzen Anzügen, mit hässlichen gelben oder grünen Krawatten und widerwärtigen Frisuren durch die Gänge und suchten mit dreistem Blick nach Optionen für sogenannte Synergieeffekte, um sich mit sündhaft überhöhten Jahresgehältern und Boni dafür entlohnen zu lassen, dass sie fremde Arbeitsplätze zerstörten. Denn Synergieeffekte ließen sich bekanntlich am einfachsten dadurch erzeugen, dass man irgendeinen fadenscheinigen Vorwand erfand, um Leute hinauszuwerfen.
In meinem Fall wäre das etwas schwierig gewesen, einfach deswegen, weil ich zu alt war. Ein Familienvater jenseits der fünfzig, mit dreißig Berufsjahren und immerhin fast zehn Jahren Betriebszugehörigkeit auf dem Buckel, stellte für diese Typen ein echtes Problem dar. Für mich war das jedoch kein wirklicher Trost. Ich hätte nämlich gar nichts dagegen gehabt, wenn sie mich synergetisch wegsaniert hätten – gegen eine entsprechende Abfindung, versteht sich.
Doch genau daran wurde offenbar gar nicht gedacht. Sie warfen bei diesem Zeitungsverlag das Geld für alles Mögliche zum Fenster hinaus, für Beteiligungen an obskuren Fernsehsendern, für fragwürdige Internetprojekte, neue Fachmagazine zu den absurdesten Themen und peinliche Billigillustrierte, Zeitungsgründungen in zahlungsschwachen EU-Beitrittsländern und natürlich für die Vorstands- und Chefredakteursgehälter einschließlich Tantiemen und Dienstmercedes. Aber auf die Idee, mich mit einem goldenen oder von mir aus auch ruhig nur silbernen Handschlag zu verabschieden, war bisher noch niemand gekommen.
Ich hatte mittlerweile diverse Synergie- und Sanierungsmaßnahmen überlebt, während um mich herum permanent die Köpfe rollten. Die Überlebenden überboten einander in Schleimerei, Ellbogeneinsatz und scheinheiligem Eifer, sodass ich mir gelegentlich wie ein Exot vorkam. Man schätze mich wegen meiner Routine und Erfahrung, hatte ich mir verschiedentlich mit eigenen Ohren anhören müssen, und es hatte mich jedes Mal in Erstaunen versetzt, dass diejenigen, die sich in dieser Weise äußerten – voran der Chefredakteur – es nicht einmal für nötig gehalten hatten, wenigstens ein bisschen dabei zu erröten. Zwar hätte man auf den Gedanken kommen können, ich stünde nach all den Jahren jetzt gewissermaßen unter Artenschutz, gerade weil ich das falsche Alter hatte und obendrein die falschen politischen Ansichten und mich dann auch noch dem hauseigenen Dresscode verweigerte. Aber die banale Wahrheit lautete, dass einfach niemand ahnte, wie leicht es gewesen wäre, mich loszuwerden. Sie hätten mir lediglich, sagen wir, fünfhunderttausend Euro zahlen müssen und ich hätte mich still und leise und unter Verzicht auf jegliche arbeitsrechtliche Gegenwehr verabschiedet. Womöglich wäre ich sogar mit vierhunderttausend zufrieden gewesen. Auf jeden Fall hätte ich über dieses Angebot sehr intensiv nachgedacht und mit Anna beratschlagt. Doch statt mit solch einer Offerte auf mich zuzukommen, zahlten sie mir jedes Jahr an die hunderttausend, was dem Gehalt eines Ressortchefs – eines Abteilungsleiters also, wie das anderswo hieß – entsprach, und das, obschon ich längst kein Ressortchef mehr war – eine Folge der jüngsten Synergie-, Sanierungs- und Optimierungseffekte.
Das Ergebnis bestand letztlich darin, dass sie nun in meiner Person einen „erfahrenen und routinierten Mitarbeiter“ besaßen, der objektiv betrachtet deutlich überbezahlt war und im Grunde auf seinen Job und überhaupt diesen ganzen Laden pfiff. Das geschah ihnen nur recht, wie ich fand.
Doch leider blieb meine Schadenfreude nicht ungetrübt, denn das Ärgerliche war: Ich fühlte mich zunehmend wie ein Sträfling, auch wenn das ein wenig frivol anmuten mochte angesichts des Schicksals vieler Mitbürger, die gar keine Arbeit hatten oder mit wesentlich kleineren Einkommen abgespeist wurden. Vielleicht hätte ich einfach den Mund aufmachen und vorschlagen sollen: „Bitte sanieren Sie mich weg. Zahlen Sie mir ein paar Jahresgehälter und die Sache ist für mich erledigt. Und für Sie bin ich so perspektivisch erheblich kostengünstiger.“
Aber dazu fehlte mir dann doch der Mut. Es ist schon ziemlich schwierig, sich als abhängig Beschäftigter auf Dauer seine Authentizität zu bewahren, um einmal diese arg strapazierte Vokabel zu benutzen. Manchmal, wenn der Feierabend nahte, fühlte ich mich dermaßen unauthentisch, dass ich versucht war, einen Strich an die Wand meines Büros zu kratze, und selbst am Abend zu Hause überkamen mich beim Blick auf die Wände der beiden Wohnräume – Putz, mit biologisch unbedenklicher Farbe gerollt, in dem einen weiß, im anderen preußisch-gelb – zuweilen gewisse Anwandlungen, solch einen Häftlingskalender für mein dahinschleichendes Daseins anzulegen.
Ich sah die Strichpäckchen deutlich vor meinem geistigen Auge, an der Wand über dem Klavier, neben dem Selbstportrait meines Vaters, allerdings gesellte sich dann sogleich auch das Bild von Anna hinzu, die mein Treiben mit Anzeichen äußerster Missbilligung verfolgen würde. Mich mit einem Nagel oder Schraubenzieher Strichlisten an die Wand kratzen zu sehen, hätte sie zweifellos noch weniger akzeptiert, als wenn ich Rotweinflecken auf den weißen Polstern hinterlassen hätte.
Dabei hätte sie durchaus ein gewisses Verständnis für meine Motive aufgebracht. Sie hasste meinen Job mindestens ebenso sehr wie ich. Und sie hatte sich inzwischen mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass es so etwas wie männliche Wechseljahre gibt. In guten Phasen nahm sie es mit Humor. Schließlich erlebte sie an sich selbst die ersten Anzeichen dessen, was hier gespielt wurde, auch wenn das ihrer Jugendlichkeit einstweilen nicht den geringsten Abbruch tat. Es schien mir immer wieder unbegreiflich, dass sie nur wenige Jahre jünger war als ich und auf die fünfzig zuging. Dabei war längst klar, dass sie von uns beiden die besseren Gene hatte. Man musste sich nur meine Schwiegermutter ansehen, die weit über achtzig war und dabei munter wie eine Sechzigjährige. Verkäufer von Anti-Aging-Produkten würden jedenfalls bei Anna nie ein offenes Ohr finden, und wenn wir zwanzig Jahre weiter wären, würde unweigerlich der Tag kommen, da man sie für meine Tochter halten würde. „Was will so ein alter Kerl mit solch einem jungen Ding?“, würden die Leute sagen.
Wenn ich mich in dieser Weise Anna gegenüber äußerte, reagierte sie natürlich geschmeichelt und meinte, ich solle mal bloß nicht übertreiben – zumindest in den guten Phasen. In den weniger guten kam es jedoch auch vor, dass wir beide mit dem Schicksal zu hadern begannen. Anna verfluchte bestimmte Hitzewallungen und ich erzählte ihr etwas vom Burnout-Syndrom und von meinen melancholischen Anwandlungen, nicht zu vergessen die länger werdenden Regenerationszeiten nach dem Sport. Gelegentlich gerieten wir hierüber einander in die Haare. Anna fragte mich, weshalb ich es nicht wie andere machte und stattdessen nach wie vor meine Tage im Büro zubrachte.
„Andere“, das waren zum Beispiel die dicken Knoops, unsere Nachbarn. Er hatte sich vorletztes Jahr, mit knapp fünfzig, frühpensionieren lassen, wegen eines angeblichen Meniskusschadens, der ihn daran hinderte, vom Parkplatz der Import-Export-Firma, bei der beschäftigt war, sein vierzig Meter entferntes Büro zu Fuß ohne Gehhilfe zu erreichen. Woran ihn der Meniskusschaden eindeutig nicht hinderte, war freilich, sich um den Garten zu kümmern, die Bäume zu beschneiden und den Rasen zu mähen sowie ausgedehnte Einkaufsgänge zu unternehmen. Der gelbe Krückstock, den er meistens mit sich führte, wenn er das Haus verließ, war in unseren Augen der glatte Hohn. Frau Knoop arbeitete im öffentlichen Dienst – soweit das Wort „arbeiten“ hier wirklich passt -, was praktisch bedeutete, dass sie nur ein wirkliches Problem hatte: in jenen Zeiten, da sie gerade einmal nicht krankgeschrieben war, irgendwie ihren Jahresurlaub unterzubringen.
Die Knoops hatten einen Adoptivsohn von zwölf oder dreizehn Jahren, Stefan hieß er dem Vernehmen nach, den sie in einem Internat untergebracht hatten. „Diese Doppelbelastung, das ist einfach zu viel für meine Frau“, hatte Herr Knoop gegenüber Anna als Erklärung hierfür angeführt. Während der Ferien wurde das Kind bei Bekannten in Süddeutschland einquartiert, sodass sich die Zeiten seines Aufenthalts im Haus seiner sogenannten Eltern auf ein äußerstes Minimum beschränkten, was aber vermutlich für alle Beteiligten die beste Lösung war und einzig die Frage offenließ, weshalb die Knoops den Jungen überhaupt adoptiert hatten.
Im Sommer bekamen wir notgedrungen mit, wie die beiden jeden Tag gegen Abend auf der Terrasse saßen, üppige Mahlzeiten mit hohem Fleischanteil einnahmen und dazu Sekt und Weißbier in sich hinein schütteten, um sich sodann verklärten Blicken und schon etwas unsicherem Gang im Schein der Abendsonne am Gedeihen ihrer Sträucher, Blumen und Gräser sowie der Frösche im Gartenteich zu delektieren. Das sah in der Tat nach schweren Belastungen aus, ein Kind hätte da nur gestört, zumal die Knoops auch noch eine Katze besaßen. Die war gleichfalls übergewichtig, und wenn sie gelegentlich bei uns herumlungerte, hatte sie Mühe, zurück über den Zaun zu flüchten, sobald Frieda die Szene betrat. Den Gartenteich hatte Herr Knoop übrigens im Jahr zuvor höchstpersönlich in wochenlanger Arbeit angelegt, auch das trotz seines angeblichen Knieschadens. Was das Verhältnis von Frieda zu den Knoops ansonsten anbelangte, so war es, anders als das zur Katze der beiden, außerordentlich freundschaftlich. Der Grund dafür waren die Reste der allabendlichen Mahlzeiten, die regelmäßig über den Zaun flogen.
Frieda hatte diesen Vorgang offenkundig fest in ihren sommerlichen Tageslauf eingeplant. Solange sich die Nachbarn auf ihrer Terrasse der Völlerei hingaben, weigerte sie sich jedenfalls strikt, um den sogenannten Block zu gehen. Erst wenn sie anschließend die Knochen teils gefressen, teils in einem ihrer Vorratslager verstaut hatte, die sich meines Wissens hinter dem Komposthaufen und im Rosenbeet befanden, ließ sie wieder mit sich reden. Ob sie noch über weitere Vorratslager verfügte, die ihren wölfischen Ursprung dokumentierten, entzog sich meiner Kenntnis. Sie tat damit immer sehr geheimnisvoll. Das Rosenbeet sah aber eindeutig nicht so aus wie die Beete in den Nachbargärten. Es wirkte ein wenig so, als hätte jemand versucht, dort Aushübe vorzunehmen, vielleicht zu dem Zweck, nach verborgenen Schätzen zu suchen oder Grabstätten für Kleintiere anzulegen. Unser Rosenbeet war eine einzige Katastrophe, um es mal ganz klar zu sagen. Und Frieda legte infolge der Zusatzernährung vom Tisch der Knoops derart an Gewicht zu, dass sich der Tierarzt beim letzten Impftermin zu der Bemerkung veranlasst gesehen hatte, der Hund sei für seine Größe entschieden zu schwer. Ich entgegnete ihm, da müsse er erst einmal die Leute sehen, die wesentlich zu dieser Entwicklung beitrügen, was der Veterinärmediziner mit leicht irritiertem Blick quittierte.
In der Tat handelte es sich bei Frieda keineswegs um ein besonders eindrucksvolles Exemplar ihrer Gattung, soweit es die Größe betraf, alles in allem lag der Mann vermutlich nicht völlig falsch. Den Papieren zufolge war Frieda eine „Mischung auf Cocker-Basis“, ohne dass sich einem auf Anhieb der tiefere Sinn respektive Realitätsgehalt dieser Klassifizierung erschlossen hätte. Frieda war klein, schwarz, irgendwie kompakt und im übrigen einfach nur extrem verfressen. Aber von einem Cocker hatte sie nun ganz gewiss gar nichts. Mir kam sie eher wie eine Mischung aus Spitzen, Dobermännern, Terriern und anderen Hunderassen vor, die sich in erster Linie durch Dreistigkeit und Großmäuligkeit, gepaart mit Opportunismus, auszeichnen.
„Korrupt, Hunde sind korrupt, da siehst du es wieder, sie sind nur auf die Nahrungsaufnahme fixiert, und dieser Hund ist keinen Deut besser als alle anderen“, sagte ich zu Anna, während Frieda gerade wieder die Essensreste unserer Nachbarn verschlang. Wir genossen in unseren Liegestühlen die späte Sonne dieses Maitages. Immerhin musste ich nicht länger als bis gegen achtzehn Uhr in meinem Büro ausharren, bevor ich mich aus dem Staube machen konnte, um wenigstens für ein paar Stunden und die anschließende Nacht dem Irrsinn zu entfliehen. So gefragt waren meine Routine und Erfahrung zum Glück auch wieder nicht, ich nutzte jede Gelegenheit, mich sobald wie möglich zu verdrücken.
„Dieser Hund hat einen Namen“, entgegnete mir Anna mit leichtem Tadel. „Dass Frieda gern frisst, ist nur ein Zeichen ihrer Vitalität. Sie nimmt sich eben, was sie kriegen kann.“
„Genau wie die Knoops“, ergänzte ich und dachte dabei nicht nur an an das Essen, sondern das Leben überhaupt, aber obwohl ich leise sprach, zischte mir Anna sogleich zu, ich solle - „bitte!“ - damit aufhören. Man verstehe dort drüben jedes Wort. Das stimmte natürlich nicht. Überall in der Nachbarschaft saßen die Leute in ihren Gärten, das war eine Art grüner Gesamtkomplex über die Zäune und Hecken hinweg, und was in der Luft hing, war neben den Düften des Frühlings ein allgemeines Stimmengewirr, aus dem kein normaler Mensch irgendetwas hätte heraushören können. Aber „die Leute“ waren seit jeher ein beliebtes Argument von Anna, wenn es darum ging, Diskussionen über unliebsame Themen abrupt zu beenden. Selbst wenn wir im Winter bei geschlossenen Fenstern in der Küche saßen, konnte es vorkommen, dass bei entsprechendem Anlass auf einmal angeblich die Leute mithören konnten. Abfällige Bemerkungen über den Charakter Friedas stießen bei Anna grundsätzlich auf taube Ohren, selbst dann, wenn sie in Wirklichkeit gar nicht direkt Frieda galten, sondern anderen, beispielsweise den Knoops. Für Frieda war Anna das Alpha-Tier, und das wurde mir von beiden nur allzu gern demonstriert. Ich war nicht mal Beta, allenfalls Gamma. Es mochte irgendeine Sünde geben, die Frieda hätte begehen müssen, um es sich mit Anna zu verscherzen, doch in den knapp sieben Jahren Familienzugehörigkeit unseres Hundes war es mir nicht gelungen, auch nur eine leise Ahnung von der Beschaffenheit dieses theoretischen Fehltritts zu erlangen. Frieda hatte sogar den anderen der beiden italienischen Korbsessel okkupiert, und Annas einzige Reaktion bestand darin, ein altes Handtuch über die Leinenpolster zu legen, um das Schlimmste zu verhüten. Als Frieda einmal zu probieren versuchte, wie die geflochtenen Armlehnen wohl schmecken mochten, waren seitens des Alpha-Tiers lediglich ein paar freundlich-mahnende Worte zu hören. Dass die Armlehnen dem Hund letztlich dann doch wohl nicht schmeckten, war wieder eine andere Sache.
Was nun abfällige Bemerkungen über die Knoops anging, so stellten sich die Dinge kaum weniger heikel dar als in Bezug auf Frieda, wenn auch aus anderen Gründen. Dass es sich bei den Knoops um Nachbarn handelte, deren bloßes Vorhandensein für das Empfinden arbeitender Menschen starke Züge des Unzumutbaren aufwies, war nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere sah so aus: Es gab auch noch Beziehungen zwischen ihnen und uns, die, wenn auch nur indirekt, über das rein Nachbarschaftliche hinausgingen. Der Onkel von Herrn Knoop, ein Herr Lossau, war nämlich mit meiner Mutter liiert. Die beiden hatten sich vor einigen Jahren über den Zaun hinweg kennengelernt, als meine Mutter bei uns zu Besuch war. Meine Mutter lebte „in Westdeutschland“, wie viele in Berlin immer noch sagten, genauer, in Mellingen, jenem kleinen Nest in Westfalen, aus dem ich stamme. Sie bewohnte dort mein sogenanntes Elternhaus, das sie von meinem Großvater geerbt hatte und das für mich immer „sogenannt“ geblieben war, weil es nach dem sehr frühen Tod meines Vaters nie ein Elternhaus im eigentlichen Wortsinn hatte sein können.
Herr Lossau – oder Hans-Gerd, wie wir ihn inzwischen nannten – wohnte ein paar Straßen von uns und den Knoops entfernt. Seit meine Mutter und er ihre Gefühl für einander entdeckt hatten, war es zu einer regen Reisetätigkeit gekommen. Mal wohnten sie bei ihr, mal bei ihm, ein Haus stand jedenfalls immer leer, was sich ohne weiteres als Fall von Wohnraumverschwendung bezeichnen ließ. Ganz objektiv hätte nichts dagegen gesprochen, wenn die beiden geheiratet hätten und eines der beiden Häuser beziehungsweise das Geld, das der Verkauf erbracht hätte, jemandem vermacht hätten, der es gut gebrauchen konnte, also beispielsweise uns. Denn so hübsch unser Haus war, so hatte es doch einen entscheidenden Nachteil. Es gehörte nicht uns, sondern einer Frau Kempfer, die in Stuttgart lebte und von uns Monat für Monat eine ziemlich hohe Miete überwiesen bekam, genug jedenfalls, um ihr ein auskömmliches Dasein zu garantieren; manch einer musste für solche Beträge täglich zur Arbeit gehen.
Subjektiv betrachtet hätte gegen einen Eintritt Hans-Gerd Lossaus und meiner Mutter in den Stand der Ehe allerdings dann doch so einiges gesprochen, und das Alter der beiden – sie Ende siebzig, er hoch in die achtzig – wäre noch das schwächste Gegenargument gewesen. Aber wir wären dadurch nicht nur mit Lossau, sondern auch mit den Knoops in verwandtschaftliche Beziehungen geraten, wenn auch nur um drei Ecken – eine Vorstellung, die ich einigermaßen unerträglich fand. Rententechnisch passten die beiden ohnehin nicht zusammen. Meine Mutter bekam nur eine bescheidene Witwenrente, während Lossau als ehemaliger Finanzbeamter im gehobenen Dienst eine stattliche Pension bezog. Obendrein hatte ihm seine Frau einiges hinterlassen. Sie war gerade rechtzeitig gestorben, bevor er meine Mutter kennenlernte. Kinder hatte er nicht. Wenn man ihn so sah, schlank und hochgewachsen mit eisgrauem Haar, wirkte er ein wenig wie der Typ des Grandseigneurs. Um genau so zu wirken, hätte er allerdings entschieden mehr Wert auf seine Kleidung legen müssen. Doch dem stand eine übertriebene Neigung zur Sparsamkeit im Weg, um es zurückhaltend auszudrücken. Hans-Gerd Lossau lief nicht nur meistens wie ein Stadtstreicher herum, sondern konnte auch nichts wegwerfen. Demgemäß sah es in seinem Haus aus. Von einem richtigen Messi-Haushalt zu reden, wäre vielleicht etwas übertrieben gewesen, aber sehr viel fehlte nicht, und der Begriff hätte exakt gepasst.
Für meine Mutter aber hieß dies, dass auf ihrem späten Glück so etwas wie ein Schatten lag. Sie scheute davor zurück, sich zu eng an ihren Hans-Gerd zu binden – und das aus absolut nachvollziehbaren Gründen. So groß konnte auch ein spätes Glück schwerlich sein, als dass sich ein Schatten wie dieser einfach hätte ignorieren lassen. Manchmal schüttete meine Mutter ihr Herz aus angesichts ihrer Beziehungsprobleme, und zwar bei Anna. Gegenüber mir, ihrem Sohn, hätte sie das nie gewagt. Mein Verhältnis zu meiner Mutter war nämlich ein wenig problematisch. Es glich dem, das andere Männer normalerweise zu ihrer Schwiegermutter haben. Mein Verhältnis zu Annas Mutter entsprach ziemlich genau diesem Klischee. Es gab, wenn man es genau betrachtete, überhaupt nicht allzu viele Menschen, zu denen ich richtig gute Beziehungen unterhielt, abgesehen höchstens von Anna, und selbst dies galt nur mit gewissen Einschränkungen. Beispielsweise machte mir meine Frau häufig Vorhaltungen, dass ich ein schlechter Sohn sei, der zu wenig Interesse am Schicksal seiner Mutter habe.
Das konnte man durchaus so sehen. Tatsache war allerdings, dass ich einfach festgestellt hatte: meine Mutter und ich, wir konnten nicht viel miteinander anfangen – und das, obschon sie ähnliche politische Ansichten vertrat wie ich, teilweise die gleichen Bücher las und sich, genau wie ich, gern mit Leuten anlegte, die anderer Meinung waren als sie. Außerdem war sie manchmal ein bisschen lebensfremd, „wenig alltagstauglich“, wie Anna es formulierte. Wahrscheinlich waren wir einander schlichtweg zu ähnlich, um einander viel zu sagen zu haben. Doch das hieß beileibe nicht, dass sie mir gleichgültig gewesen wäre. Sie ging mir lediglich dann und wann auf die Nerven, mal mehr, mal weniger. Und ihren Hans-Gerd Lossau konnte ich einfach nicht leiden.
Das also war der ganze komplexe Hintergrund, angesichts dessen es Anna an jenem schönen Maiabend für tadelnswert hielt, abfällige Bemerkungen im Freien zu machen. Plötzlich musste ich niesen, und zwar nicht nur einmal. Meine Augen begannen zu tränen, und ich suchte nach einem Taschentuch, natürlich vergebens, denn ich hatte nur eine Badehose an, worüber Anna und die sogenannten Kinder – Max, unser Ältester, und Julius, der Jüngste, wohnten immer noch bei uns, nur Paul war kürzlich ausgezogen -, sich bereits mokiert hatten. Sie nahmen es als Indiz für alarmierend wachsende altersbedingte Eitelkeit.
Max, der gerade sein Studium an der Hochschule der Künste abgeschlossen hatte und noch ein bisschen Zeit zur Selbstfindung benötigte, wie er uns wissen ließ, fand Körperbräune schon aus Prinzip spießig. Er legte Wert auf seine Blässe, zumal er sich gerade von seiner Freundin getrennt hatte, was ihm Gelegenheit bot, eine kleine Depression zu pflegen. Um die optische Präsentation dieses Zustandes perfekt zu machen, hatte er auch Abschied von seinem kreativen Pferdeschwanz genommen und trug das Haar neuerdings stoppelkurz. Julius leistete seinen Zivildienst ab, was der Selbstfindungsphase, in der sich auch er befand, insofern eine zusätzliche Dynamik verlieh, als er Fragen nach dem Sinn des Lebens zu stellen begann. Er arbeitete in einem Spastiker-Kleinheim, wobei „klein“ lediglich die die baulichen Dimensionen der Einrichtung beschrieb, nicht aber die Last, die ihm hier täglich auf seine neunzehnjährigen Schultern geladen wurde. Julius musste Schwerstbehinderte füttern, waschen, wickeln und ins Bett bringen, einige davon kaum älter als er selbst und infolge von Unfällen querschnittgelähmt. Das alles setzte ihm zu, und zuweilen überkam mich, ehrlich gesagt, leise Scham, wenn ich über meinen Job stöhnte. Wenn Anna und ich ihn dazu zu animieren versuchten, in seiner Freizeit an die frische Luft zu gehen, wurde er jedes Mal ungehalten. „Wie wär's, wenn ihr es einfach mir selbst überließet, wie und wo ich meine Freizeit verbringe?“, lautete seine Entgegnung.
Er war noch blasser, länger und schmaler als Max, und in den Blicken, mit denen er seinen sich bräunenden, um seine körperliche Fitness besorgten Vater gelegentlich bedachte, lag unübersehbar ein Anflug von Arroganz. Er hatte so etwas nicht nötig. Er stöberte in meinen Bücherregalen, spielte ein bisschen auf seiner Gitarre, saß am Computer und nutzte die Nächte, soweit es sein Dienstplan erlaubte, zu ausgedehnten Kneipentouren mit seinen ehemaligen Klassenkameraden, Letzteres mit besonderem Engagement.
Immer noch niesend erhob ich mich aus meinem Liegestuhl und ging ins Haus, um mir einer Packung Papiertaschentücher zu holen. Anna folgte mir. „Wirst du krank?“, fragte sie in diesem hoffnungsvoll-besorgten Ton, den wir beide nur zu gut kannten. Anna hatte mich gern zu Hause, ganz im Gegensatz zu jenem traurigen Klischee der Langzeitehefrau, welcher davor graust, dass der Gatte einmal krank, arbeitslos oder pensioniert werden könnte.
Marga Zarkowski, eine ältere Frau aus unserer Straße, mit der Anna trotz des Generations- und, nun ja, auch Milieuunterschieds auf vertrautem Fuß stand, war solch ein Fall. Sobald Emil, ihr Mann, des Abends von der Arbeit heimkehrte, wurde sie nahezu hysterisch. Er musste seine Kleidung weitgehend auf der Terrasse ablegen und erst duschen, bevor er den Wohnbereich betreten durfte. Das Essen wurde ihm in der Küche verabreicht, und während er es zu sich nahm, verließ Marga demonstrativ den Raum. Emil Zarkowskis Schlafstelle befand sich im früheren Gästezimmer unter dem Dach. Er führte das Leben eines gerade eben geduldeten Schlafburschen, wie man früher gesagt hätte, und das in seinem eigenen Haus, das er übrigens vom Keller bis zum Dach tadellos, wenn auch ziemlich geschmacklos renoviert hatte. Emil war Maurer und außerdem Experte für die meisten anderen Tätigkeiten, die beim Hausbau anfallen, es gab kaum ein Haus in unserer Gegend, in dem er nicht schon einmal Hand angelegt hatte. Das heißt, eigentlich gehörte sein Handwerkerleben längst der Vergangenheit an, denn inzwischen war er an die siebzig und in Rente. Doch er ging weiterhin Tag für Tag seinem Beruf nach – soweit man von Beruf reden kann, wenn jemand gut bezahlte Arbeiten verrichtet, ohne dass das Finanzamt etwas davon erfährt. Dabei beruhte Emil Zarkowskis ungebrochener Schaffensdrang keineswegs auf Geldgier, jedenfalls nicht ausschließlich, obschon seine Augen leuchteten, wenn er die Bündel von Scheinen aus seinen speckigen Drillichhosen fingerte. Die wahre Triebfeder war Marga. So wenig sie seine Anwesenheit ertrug, so sehr war er bemüht, ihr diese zu ersparen. In gewisser Weise passten die Zarkowskis also sehr gut zusammen – ein fast perfektes Paar. Dass es auch Eheleute wie Anna und mich gab, die einander nicht aus dem Wege gingen, wollte ihnen kaum in den Kopf. Sie konnten so etwas nicht verstehen.
Anna wiederholte ihre Frage, ob ich dabei sei, krank zu werden, eine kleine Sommer-, genauer, Frühlingsgrippe vielleicht. Ich rechnete kurz nach, wann ich zuletzt krank gewesen war. Sechs Wochen lag diese Zahngeschichte zurück, als man mir den halben Oberkiefer aufgeschnitten hatte. Einerseits reizte mich die Aussicht auf ein paar freie Tage, andererseits war mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl. Ohnehin war ich einer der Ältesten in der Redaktion, und die Aussicht, über kurz oder lang nicht nur als alt – wenn auch einigermaßen gut erhalten – zu gelten, sondern auch mit dem zweifelhaften Image eines Kollegen behaftet zu sein, der zwar „erfahren und routiniert“, jedoch gesundheitlich nicht mehr voll auf der Höhe ist, gefiel mir dann doch nicht so besonders. Außerdem fehlten gerade ein paar Leute wegen Urlaubs oder Dienstreisen.
„Was geht dich das an?“, gab Anna zu bedenken. „Mein Gott, du hast da doch sowieso nichts mehr zu gewinnen – und zu verlieren auch nicht.“
Das entsprach im Prinzip voll und ganz meiner eigenen Sicht der Dinge. Und dennoch zögerte ich, auch deswegen, weil ich für die übernächste Woche bereits den ersten Teil meines Jahresurlaubs angemeldet hatte.
„Du brauchst doch nur den Reinhold anzurufen“, drängte Anna. Auch damit lag sie richtig. Reinhold würde mir den gelben Schein einfach in den Briefkasten werfen. Er wohnte ein paar Straßen weiter, das war für ihn gar kein Problem. Reinhold war außerdem mein Freund, abgesehen davon, dass er mein Hausarzt war. Wir trafen uns hin und wieder „auf ein Bier“, wie er es nannte, obschon ich mich nicht erinnern konnte, dass bei diesen Zusammenkünften jemals Bier getrunken worden wäre. Doch in letzter Zeit ging mir Reinhold ein bisschen auf die Nerven. Mir stand nicht der Sinn nach seiner Gegenwart. Überdies hatte ich in den nächsten Tagen sowieso einen Termin bei ihm wegen der wieder mal fälligen Routineuntersuchung.
Später am Abend, als Anna schon zu Bett gegangen war und ich mit meinem Rotwein in meinem Sessel saß, hing ich meinen Gedanken nach. Früher waren die Männer etwa in meinem derzeitigen Alter oder sogar noch jünger gestorben. Der moderne, oder besser postmoderne, wenn nicht sogar schon postpostmoderne Berufstätige lebte zwar länger, musste aber auch mehr Lebenszeit mit Arbeit vergeuden, um die materiellen Voraussetzungen dafür zu erwirtschaften, dass er länger auf diesem Planeten weilen durfte. Man arbeitete länger, um länger ein Leben führen zu können, das einem durch die Arbeit ruiniert wurde – das war die wenig erfreuliche Regel dieses Spiels.
Ich schlief nicht besonders gut, und am nächsten Morgen erwachte ich, bevor der Wecker seine Chance hatte. Ich wankte in die Küche, öffnete den Wandschrank und schluckte meine Pillen – Vitamine, Mineralstoffe, Johanniskraut – und nahm dann auch noch ein Aspirin wegen des leichten Rotweinkaters. Dann steckte ich kurz den Kopf zum preußisch-gelben Wohnzimmer hinein, wo Anna, wie immer, schon auf der Couch saß und Zeitung las, den Hund zu ihren Füßen. Sie fragte, wie es mir gehe, und ich sagte, es sei schon okay, es sei doch kein Schnupfen geworden.
„Kann sein, dass es der Pollenflug ist“, sagte ich noch, „ich habe irgendwo gelesen, dass solche Allergien ganz plötzlich auftreten können.“
Anna musterte mich skeptisch und meinte, ich solle vielleicht doch versuchen, mit etwas weniger Rotwein auszukommen.
Beim Rasieren – nass, aus Überzeugung – fiel mir auf, wie unvorteilhaft mein Gesicht neuerdings wirkte, zumindest um diese Tageszeit, da half auch keine Frühjahrsbräune. An diesem Morgen war es außerdem wieder mal so weit. Angeblich waren diese Klingen absolut verletzungssicher, ich hatte gelesen, die Firma habe Hunderte Millionen für das neue Werk investiert. Ich fragte mich, was mit dem Geld geschehen war. Am eigenen Leibe musste ich erfahren, dass man sich mit diesen Klingen jede Art von Gesichtsverletzung zufügen konnte. Ich fluchte, als mir das Blut am Kinn herunterlief, schaffte es aber irgendwie, die Wunde mit einem kleinen fleischfarbenen Pflaster zu kaschieren. Vielleicht sollte ich mir den Kopf gleich mit rasieren, wo ich schon mal dabei war, mich zu verstümmeln, dachte ich voller Bitterkeit. Von einer vernünftigen Behaarung konnte dort oben schon lange keine Rede mehr sein.
Vor einer Weile hatte sich ein Friseur in Kreuzberg, den ich in der Mittagspause aufsuchte, eine halbe Stunde damit beschäftigt, und ich hatte vergeblich zu ergründen versucht, was er da eigentlich trieb. Schließlich dämmerte mir, dass es sich um einen schwulen Friseur handelte. Er war türkischstämmig, höchstens Mitte zwanzig und hatte einen orange gefärbten Kurzhaarschnitt. Womöglich stand er auf ältere Männer. Vor ein paar Tagen war ich wieder in jenem Salon gewesen, wurde diesmal aber von einer jungen Frau mit schwarzem Haar bedient. Sie hatte ein keckes, ebenmäßiges, eindeutig orientalisches Gesicht und eine ziemlich aufreizende Figur in ihren Jeans und dem knappen Topp, und sie widmete sich meinem Haupthaar gleichfalls mit einer solchen Hingabe, dass ich mich zu fragen begann, ob ich auf meine fortgeschrittenen Tage womöglich so etwas wie eine multikulturell-bisexuelle Aura entwickelte. Ein irritierender Gedanke.
Immerhin schien der Rest meines Körpers, abzüglich des Kopfs, noch einigermaßen in Ordnung zu sein – ein kleiner Lichtblick, aber irgendeinen Sinn musste es schließlich haben, dass ich seit Jahren Stammkunde im „Body Shape“ war. Um in den Genuss dieses Lichtblicks zu gelangen, musste ich allerdings erst auf den Badezimmerschemel steigen, sodass ich mich komplett im Spiegel betrachten konnte – ein Vorgang, bei dessen Anblick sich ein Psychologe wohl seinen Teil gedacht hätte. Beim Heruntersteigen knickte ich mit dem Fuß um und sah mich abermals veranlasst, unflätige Bemerkungen auszustoßen, und zwar so laut, dass Anna es mitbekam und fragte, ob irgendetwas sei.
Inzwischen überlegte ich ernsthaft, ob es nicht doch besser gewesen wäre, ihrem Rat zu folgen und Reinhold wegen eines Attests anzurufen. Aber ich überwand mannhaft den Anflug von Larmoyanz, duschte heiß und kalt, schlüpfte in meine Jeans, streifte ein kurzärmeliges schwarzes Polohemd über und holte mein leichtes graugrünes Leinensakko aus dem Schrank. Als Anna mich erblickte, hob sie die Brauen und meinte, ich sähe ja ganz passabel aus, aber ob denn unbedingt die alten Jeans sein müssten. Ich sagte, sie müsse das verstehen, dies sei meine individuelle Form des Protests. Sie nickte sofort, das verstand sie. Von unserem Chefredakteur, der noch ziemlich neu in dem Laden war, wurde der Ausspruch zitiert, dass es ein Zeichen für mangelnde Leistungsbereitschaft sei, wenn jemand sich weigere, im Dreiteiler zur Arbeit zu erscheinen. Vor diesem Hintergrund war ich für mein Empfinden immer noch deutlich overdressed.
„Schade, dass du zur Arbeit musst“, sagte Anna, nachdem ich meine zwei Toasts mit fettarmem Käse und einen mit Quark und Honig gegessen und meinen Kaffe getrunken hatte. Ich hatte herausgefunden, dass es mir besser bekam, wenn ich nicht zu üppig frühstückte.
„Ja, es ist wirklich schade“, gab ich zurück.
„Und denk daran, mal wieder deine Mutter anzurufen“, sagte sie noch, bevor ich das Haus verließ. Sie selber würde, sobald ich in den Volvo gestiegen war, mit einer ihrer Freundinnen oder Bekannten telefonieren. Anna verbrachte viel Zeit am Telefon, die Erfindung erst des schnurlosen Apparats und dann des Handys war für Frauen wie sie ein wahrer Segen. Sie konnte telefonierend dies und jenes im Haus erledigen oder im Garten sitzen. Auch ohne Telefon redete sie viel und gern, jedenfalls sehr viel mehr als ihr Ehemann, dessen unterentwickelter Äußerungsdrang in ihren Augen eines seiner größten sozialen Defizite darstellte. Als ich sie einmal darauf hinwies, dass dieses allgemeine Menschheits-Phänomen seit langem evolutionsbiologisch nachgewiesen sei - „Frauen reden grundsätzlich mehr als Männer und meistens reden sie redundant“ -, lächelte sie nur nachsichtig.
„Ja, ich werde meine Mutter anrufen“, versprach ich.
Meine Mutter und Lossau verbrachten den Winter stets im Haus in Mellingen, einerseits, weil es weniger Orte in Deutschland gibt, in denen der Winter so unangenehm ist wie in Berlin, andererseits aus Sparsamkeit, soweit es Hans-Gerd anging. Für ihn war dies die kostengünstigste Methode, die kalte Jahreszeit hinter sich zu bringen. Der jetzt zurückliegende Winter in Mellingen war allerdings kein Zuckerschlecken gewesen. Meiner Mutter ging es nicht gut, sie hatte ein paarmal zum Arzt gemusst. Deswegen waren die beiden auch noch nicht wieder nach Berlin herüber gewechselt wie sonst im Frühjahr. Sie wollten erst kommen, wenn es meiner Mutter wieder besser ging.
Ich nahm mir fest vor, sie anzurufen. Doch dann kam alles ganz anders.