Читать книгу Leben für Fortgeschrittene - Ben Worthmann - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеReinhold saß auf der Untersuchungsliege, die mit einer Folie bespannt war, ich hockte auf einem scheußlichen grünen Plastikstuhl, und zugleich saß ich, wie man so sagt, auf heißen Kohlen. Aber das schien Reinhold nicht weiter zu bekümmern, falls er es überhaupt bemerkte. Wir befanden uns in dem Raum, in dem der sogenannte Kontrollcheck stattfand, dem ich mich auf Annas Betreiben jährlich unterzog. Reinhold baumelte mit den Beinen. Er fragte mich, ob ich eine rauchen wollen, er selbst hatte gerade wieder einmal begonnen, mit dem Aufhören aufzuhören. Ich wollte jetzt so früh am Morgen noch nicht rauchen, es war erst halb zehn, und meine erste Camel gönnte ich mir immer erst zum Kaffee nach der Redaktionskonferenz. Reinhold erklärte mir rundheraus, er habe festgestellt, dass ihm die Abstinenz nicht bekomme. Das galt in seinem Fall nicht nur für den Suchtstoff Nikotin. Jeden Mittag Schlag zwölf öffnete er ein spezielles Türchen in einem seiner Schränke, entkorkte die Flasche Hennessy und nahm seinen Mittagscognac zu sich, dem dann im Laufe des Tages noch so einiges folgte, wie er mir selbst erzählt hatte, von den Abenden gar nicht zu reden. Dagegen war ich mit meinem Rotwein ein Waisenknabe.
Der sogenannte Kontrollcheck hatte auch diesmal geendet wie immer. Reinhold hatte mir ein paar Komplimente gemacht wegen meiner „ziemlich guten körperlichen Verfassung“,wie er sich ausdrückte, und die üblichen neidischen Bemerkungen über meine mühsam erworbenen paar Muskeln geäußert, um mir alsdann sein Herz auszuschütten. Reinhold hatte Probleme, und wie so häufig war ich derjenige, der sie sich anhören musste. Manchmal fragte ich mich, wem hier eigentlich das Recht zustand, irgendwelche Rechnungen wegen irgendwelcher Dienstleistungen bei der Krankenkasse einzureichen.
Reinhold war ein paar Jahre älter als ich, aber sein Haar war noch dunkel und voll im Gegensatz zu meinem. Ich traute ihm ohne weiteres zu, dass er gewisse Mittelchen schluckte, schließlich saß er an der Quelle. Ich wusste, dass er häufig Affären hatte. Helga, seine Frau in zweiter Ehe, sprach Anna und mir gegenüber ganz offen darüber, und sobald man jemanden in unserem Viertel auf Reinhold ansprach, hieß es gleich: „Ach ja, der Herr Doktor, der hat es schon immer gern getrieben.“ Ich traute ihm auch zu, dass er Viagra nahm. Einige Male war ich drauf und dran gewesen, ihn ganz direkt zu fragen, aber seit mir das gesamte Ausmaß seiner promiskuitiven Aktivitäten bewusst geworden war, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen. Ich fand sein Verhalten indiskutabel, nicht nur mit Blick auf Helga, sondern aus sehr grundsätzlichen Erwägungen, die mit meinen uneingeschränkten Präferenzen für die stabile Langzeitbeziehung zu tun hatten. Dabei lag es mir völlig fern, die Sache durch die Brille eines Moralapostels zu betrachten. Ich konnte nur einfach nicht begreifen, weshalb sich jemand diesem Stress aussetzte und unentwegt auf der Jagd nach immer neuen Frauenschenkeln durchs Leben hetzte, obschon er doch allmählich hätte merken müssen, dass das, was sich dort zwischen diesen abspielte, im Prinzip immer auf das Gleiche hinauslief. In meinen Augen war Reinholds Gier nach fremden Frauen nicht nur würde- und geschmacklos sowie unfair gegenüber seinen eigenen Frau, sondern schlichtweg blöd.
Außerdem empfand ich es als unverfroren, dass er sogar versucht hatte, Anna Avancen zu machen, wobei ich allerdings zugleich so etwas wie Mitleid empfunden hatte. Er ging dabei nämlich derart plump vor und machte ihr in meinem Beisein solch schmierige Komplimente, dass ich mich fragte, was für Frauen das wohl sein mochten, die sich auf Affären mit ihm einließen. Anna fand es nicht der Mühe wert, das Ganze groß zu kommentieren. Sie meinte, im Grunde sei Reinhold „ganz nett“, aber wie er sich gegenüber Frauen verhalte, das sei „komplett daneben“.
Dabei konnte er ein durchaus angenehmer Gesprächspartner sein, solange man sich mit ihm über Politik, das Gesundheitswesen, Literatur und Musik unterhielt. Ich hatte manchen Abend mit ihm in Kneipen und Lokalen verbracht, von denen es hieß, sie seien gerade besonders angesagt. Doch irgendwann erstarb unsere Konversation, weil er unentwegt nur den jungen Kellnerinnen oder irgendwelchen weiblichen Gästen nachstarrte. Im Lauf der Zeit wurde Reinhold immer hemmungsloser. Es kamen die Tage, da fand er nicht mal mehr etwas dabei, mit seinen Affären gelegentlich in gemeinsamen Stammlokalen zu erscheinen, wenn Anna und ich gerade mit Helga dort saßen. Wir nickten uns dann zu, und jeder widmete sich angelegentlich seiner Pasta mit Krebsschwänzen und dem Chianti. Helga war ziemlich attraktiv, schlank und blond, ähnlich wie Anna, allerdings etwas älter. Auf die Frage, welche Frauen sich mit Reinhold einließen – oder auch umgekehrt -, gab es anlässlich solcher Zusammentreffen dann auch eine Antwort. Es handelte sich offenkundig um Frauen, die ein wenig zur Korpulenz neigten, sich die Haare färbten und teilweise sogar Dauerwelle hatten. Sie sahen keinen Tag jünger aus, als sie wahrscheinlich waren, und wesentlich jünger als Reinhold schienen sie auch nicht zu sein. Was er an ihnen fand, blieb sein Geheimnis. Auch mir gegenüber legte er seine Motive nie offen dar.
„Er hat es nicht anders verdient“, bemerkte Anna einmal, als Reinhold wieder mit solch einem Exemplar auftauchte, und Helga verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln.
Mein Verhältnis zu meinem Hausarzt war, mit einem Wort, ambivalent. Doch so wie sich die Dinge an diesem Morgen darstellten, würde sich über kurz oder lang sowieso vieles ändern, was dieses Verhältnis betraf. Reinhold sagte mir, er werde in Pension gehen und die Praxis aufgeben und verkaufen. Ein Interessent stehe schon bereit. Reinhold hatte verschiedentlich angedeutet, dass er sich mit solchen Überlegungen trug, und zwar stets im Zusammenhang mit seinen Klagen über das bittere Los eines niedergelassenen Arztes, der heute mehr oder minder gezwungen sei, am Hungertuch zu nagen. Zwar wusste inzwischen jeder, dass man als Arzt nicht mehr automatisch zu den Reichen zählte, sofern man sich nicht gerade auf Fettabsaugung und kosmetische Chirurgie im weiblichen Brustbereich spezialisiert hatte, aber mein Mitleid hielt sich dennoch in Grenzen, auch angesichts der ebenfalls bekannten Tatsache, dass es um viele Branchen und Berufe nicht mehr sonderlich gut bestellt war. Wer es in diesen Zeiten noch zu etwas bringen wollte, musste entweder richtig erben oder seinen Schnitt an der Börse machen, aber dazu war es im Grunde auch schon zu spät.
Als Reinhold mir jetzt erzählte, er habe seit Jahren keinen Pfennig beziehungsweise Cent mehr mit seiner Praxis verdient, hob ich dann allerdings doch ungläubig die Brauen und fragte ihn, wovon er denn seinen und Helgas Lebensunterhalt bestreite, woraufhin er entgegnete, er besitze einige Reserven aus besseren Zeiten, Fondsanteile hauptsächlich.
„Weißt du, eigentlich übe ich meinen Beruf nur aus Idealismus aus“, sagte er. „Und schließlich habe ich ja auch noch eine Verantwortung für meine Beschäftigten.“
Es stimmte, dass es zwei mausgraue ältere Frauen gab, die an der Rezeption die Gesundheitskarten durch den Scanner zogen oder einem den Blutdruck maßen. Mir war es immer so vorgekommen, als seien sie nur stundenweise im Wechsel beschäftigt, jedenfalls nicht als reguläre Praxis-Assistentinnen zu ordentlichen Konditionen. Aber ich sagte lieber nichts hierzu.
Reinhold fuhr indessen fort, für ihn sei nun der Punkt erreicht, da er nicht länger bereit sei, sein eigenes Unternehmen, wie er es nannte, zu subventionieren. Plötzlich versiegte sein Redefluss und er verschwand im Nebenzimmer. Als er wieder auftauchte, hatte er seine Cognacflasche und ein Glas dabei. Mir bot er nichts an, da er wusste, dass ich tagsüber keinen Alkohol trank. Er genehmigte sich seinen sogenannten Mittagstrunk, zwei Stunden verfrüht und „ausnahmsweise“, wie er eilfertig und nicht besonders glaubwürdig betonte, und zündete sich seine mittlerweile dritte Zigarette an. Dann sagte er: „Und Helga werde ich auch nicht mehr subventionieren.“
Helga arbeitete in einem Büro, es war eher ein Taschengeld, das sie dort verdiente, und die beiden hatten einen Ehevertrag, das hatten sie uns mal erzählt. Ich fragte ihn, ob er sich etwa scheiden lassen wolle, und er gab zur Antwort, dass es wohl darauf hinauslaufen werde. Er habe nämlich eine neue Frau kennengelernt, Erika mit Namen. Es lag mir auf der Zunge, dass das doch nun wirklich nichts weiter Erwähnenswertes sei, aber er begann sogleich von der neuen Frau zu schwärmen, sprach sogar davon, noch einmal zu heiraten und weitere Kinder zu zeugen. Einen erwachsenen Sohn hatte er bereits, aber nicht von Helga. Von Helga hatte er nie ein Kind gewollt.
Ich fragte mich, ob es vielleicht so etwas wie eine zweite oder sogar dritte Midlife-Crisis gab oder ob Reinhold jetzt womöglich dabei war, völlig den Verstand zu verlieren. Ihn fragte ich, ob er sich klar darüber sei, was aus Helga werden würde, wenn sie nicht mehr in dem gemeinsamen Haus wohnen dürfe. Die beiden besaßen einen sehr schönen Bungalow mit einem geradezu parkähnlichen Garten – Helgas ein und alles. Sie pflegte diesen Besitz mit einer Inbrunst, durch sie sie vermutlich auch etwas zu kompensieren, vor allem ihre Kinderlosigkeit. Um in Helgas Rasen etwas anderes zu finden als Grashalme, hätte man lange suchen müssen. Haus und Garten schienen Ersatzobjekte für ihren mütterlichen Pflegetrieb geworden zu sein, und dass sie es schadlos überstehen würde, wenn ihr beides genommen würde, war kaum zu erwarten.
„Sie kann dort weiter wohnen, zumindest vorerst mal“, sagte Reinhold, als hätte er meine Gedanken erraten, aber ohne näher auszuführen, was er mit „vorerst mal“ meinte. Er selbst werde auf jeden Fall ausziehen und sich eine kleine Wohnung nehmen, und dies bereits in der kommenden Woche.
Ich überlegte kurz, was Anna wohl sagen würde, wenn sie diese Neuigkeiten erführe – an Stoff für lange Gespräche mit Helga und auch einigen anderen ihrer Bekannten würde es in nächster Zeit noch weniger mangeln als sonst, so viel stand fest. Was mir die ganze Zeit im Kopf herumging, waren allerdings in erster Linie ganz andere Dinge als Reinholds Finanz- und Beziehungsprobleme. Ich hatte eigentlich vorgehabt, seinen Rat wegen meiner Mutter einzuholen, wo ich nun schon mal zwecks des Kontrollchecks da war. Ich wollte einfach gern wissen, was er von der Sache hielt. Wenn man schon einen Freund hat, der zufällig auch der Hausarzt ist, muss man das doch nutzen, dachte ich mir. Doch es dauerte lange, bis ich dieses Thema anschneiden konnte. Denn Reinhold sprach auch dann, wenn er nicht über über Patientenbelange, sondern über seine eigenen Probleme redete, stets in einem etwas weihevollen, getragenen Duktus, den er offenbar als einzig angemessene Ausdrucksform für einen Mann seines Standes ansah. Das kostete mich nicht nur Nerven, sondern auch Zeit.
Reinhold kannte meine Mutter, er war mit Helga einmal bei uns zum Essen gewesen, als auch sie und Hans-Gerd gerade da waren. Normalerweise vermieden wir es, meine Mutter und Hans-Gerd einzuladen, denn selbst Anna, die gewissenhafte Hüterin der Familienbande, ertrug nur schwer den Anblick, den der Lebenspartner ihrer Schwiegermutter anlässlich der Nahrungsaufnahme bot. Er stopfte das Essen in solchen Mengen in sich hinein, als stünde unmittelbar eine Hungersnot bevor, gleichgültig, um welche Art von Speisen es sich handelte – Hauptsache, er bekam sie, ohne dafür bezahlen zu müssen. Wir nannten sein diesbezügliches Vorgehen das „Buschmann-Prinzip“, weil sich meines Wissens die Ureinwohner der Kalahari gleichfalls auf diese Weise ernährten, allerdings nicht aus Gier, sondern aus Not. Wenn sie denn tatsächlich mal ein Stück Wild zu packen kriegten, mussten sie zulangen und sich auf Vorrat die Bäuche füllen. In den Wohlstandregionen der nördlichen Halbkugel war solch ein Verhalten jedoch äußerst ungewöhnlich, wenn man mal jemanden wie Frieda außer Acht ließ, und Helga und Reinhold hatten das Ganze mit allen Anzeichen erheblicher Irritation verfolgt. Reinhold meinte hinterher, auch aus rein medizinischer Sicht sei es ein bemerkenswertes Phänomen, dass ein älterer Mensch derartige Essensmengen zu sich zu nehmen vermöge.
„Meine Mutter liegt im Krankenhaus“, sagte ich jetzt zu Reinhold, und er zeigte sich sogleich interessiert auf seine notorisch doktorhafte Weise. Über seine eigene Mutter wusste ich nichts. Ich hatte nur einige Male mitbekommen, wie er sehr ungehalten mit ihr telefoniert und anschließenden befunden hatte: „Sie spinnt.“
Reinhold schüttete sich noch einen Cognac ein, während ich ihm erzählte, was ich wusste, seit ich vor drei Tagen auf Annas Geheiß hin meine Mutter hatte anrufen wollen, doch keine Gelegenheit dazu erhalten hatte. Stattdessen war ich selber angerufen worden, und zwar von Anna, nachdem diese einen Anruf von meiner Schwester erhalten hatte. Anna und Carola telefonierten viel miteinander, was man von Carola und mir nicht sagen konnte. Carola und Bodo, mein Schwager, wohnten in Gingen, einer Nachbarstadt von Mellingen, also weit weg von Berlin, aber das war nicht der eigentliche Grund, weshalb der Kontakt zwischen mir und meiner Schwester im Lauf der Jahre immer sporadischer geworden war. Hätte man mich nach dem wahren Grund gefragt, so wäre mir allerdings auch keine plausible Antwort eingefallen, vermutlich, weil es ihn gar nicht gab. Wir hatten uns immer gut verstanden und wir lebten heute in ähnlichen Verhältnissen, hatten ähnliche Ansichten, ähnliche Kinder, ähnliche Probleme und sogar ähnliche Hunde – na ja, beinahe ähnliche. Doch wer einen regelmäßigen Austausch von Gedanken pflegte, über literarische und musikalische Vorlieben miteinander plauderte oder auch nur Wunsch hatte, die eine oder andere befremdliche Neuigkeit über Hans-Gerd Lossau und meine Mutter zu erörtern, das waren nicht Carola und ich, sondern Anna und Carola. Die beiden Schwägerinnen schienen beinahe wie Schwestern, und zwar welche, die besonders gut miteinander können, was ja auch nicht unbedingt selbstverständlich ist.
Beide waren, vorsichtig gesagt, etwas hypersensibel, man hätte es auch leicht hypochondrisch nennen können, ohne allzu sehr zu übertreiben. Immer hatten sie einander viel zu erzählen, wenn nicht über Bücher, die sie beide mochten, oder die Kinder, die nicht erwachsen werden wollten, oder ihre Männer, die in dieser Hinsicht ebenfalls gewisse Schwierigkeiten bereiteten, dann über Krankheiten, die sie selbst niemals hatten und aller Voraussicht nach auch niemals würden zu erleiden haben. Und jetzt die Krankheit meiner Mutter – das war ein Thema für die beiden, bei dessen Erörterung ich mir beinahe wie ein Außenseiter vorkam.
Zugleich allerdings fühlte ich etwas in mir weich werden. Ich würde meine Mutter fortan jeden Tag anrufen, das nahm ich mir fest vor; ich hatte mir von Carola eigens die Durchwahl zu ihrem Krankenbett geben lassen. Annas Standardhinweis - „es ist schließlich deine Mutter“ -, mit dem sie sonst entsprechende Ermahnungen an meine Adresse zu beschließen pflegte, gewann plötzlich einen neuen Beiklang, vor dem selbst ich die Ohren nicht verschließen konnte. Und als Anna nach Bekanntwerden der Krankheitsnachricht gemeint hatte, ich sollte doch bitte einmal Carola anrufen - „schließlich ist sie deine Schwester“ -, hatte ich nur zustimmend genickt. Ich sah all diese Dinge nun doch in einem etwas anderen Licht, wenn auch noch nicht in einem völlig neuen, so weit war ich noch nicht. Und dass Carola ihren Schilderungen gegenüber Anna zufolge das Gefühl hatte, sie sei für mich „immer nur die kleine Schwester gewesen, die der große Bruder nicht ernst nimmt“, gab mir in dieser Stimmung doch mehr zu denken, als ich sonst von mir selber gewohnt war.
Unsere Mutter hatte „Wasser im Bauch“, wie Carola es ausdrückte, außerdem waren ihre Blutwerte miserabel und der „Stuhl“, wie es hieß, pechschwarz. Allein dieses Wort ließ mich innerlich zusammenzucken, aber so redeten sie wohl in den Krankenhäusern, benutzten die Bezeichnung für ein Sitzmöbel als schönfärberisches Synonym für Exkremente. Der vorläufige Befund jedenfalls lautete, dass unsere Mutter offenbar wahllos und in viel zu großen Mengen Schmerzmittel geschluckt hatte wegen ihrer Arthrose in Knien und Handgelenken. Doch ob das tatsächlich die Ursache für das „Wasser im Bauch“ war, schien einstweilen nicht sicher. Man hatte begonnen, allerlei Untersuchungen anzustellen, und sowohl Carola als auch Anna hatten bereits ihre medizinischen Ratgeberbücher gewälzt.
„Das klingt alles nicht sehr gut“, lautete der Kommentar Reinholds, und ich verkniff mir die Bemerkung, dass wir darauf auch schon gekommen seien. Dann erwähnte er noch etwas von der Leber, die manchmal „verantwortlich für Wasseransammlungen“ sei, was mich kurz überlegen ließ, wie es wohl um seine, Reinholds Leber bestellt sein mochte, wie er es für den Rest des Tages mit dem Cognac halten und wie verantwortlich er sich nach Dienstschluss verhalten würde. So wie ich ihn kannte, würde er trotz erheblicher Alkoholisierung in seinen Wagen steigen, einen kleinen tiefergelegten Mercedes mit Breitreifen und Spoiler, den er unten um die Ecke geparkt hatte. Schlagartig wurde mir klar, dass ich – Freundschaft hin oder her – es schon viel zu lange versäumt hatte, den Hausarzt zu wechseln.
Als ich nach Hause kam, traf ich Anna und Helga im Wohnzimmer an, in dem weißen, um genau zu sein, dort wo gegessen wurde. Sie aßen Räucherlachs, Oliven und Baguette. Helga hatte bereits eine halbe Flasche Weißwein intus, wie ich bemerkte, aber das war gewiss nicht der Grund dafür, dass ihre Augen gerötet waren. Derlei Symptome zeigten sich bei ihr frühestens nach der Hälfte der zweiten Flasche, schließlich war sie bei Reinhold in eine gute Schule gegangen. Zum Glück trank sie immer nur Weißwein, sodass ich keine akuten Sorgen um meine letzten beiden Flaschen Rotwein haben musste. Anna wollte erst übermorgen wieder Großeinkauf machen.
Ich verzog mich mit dem neuen Houellebecq nach draußen in den Liegestuhl, um noch ein bisschen Abendsonne zu genießen, und ich hoffte, dass der neue Houellebecq besser war als der letzte John Irving, der nicht nur viele Kritiker enttäuscht hatte, sondern auch mich. Wer mich nicht enttäuscht hatte, war Philippe Djian, der enttäuschte mich so gut wie nie. Allerdings schrieben sie alle neuerdings nur noch über Sex, und zwar in einer derart bemühten Manier, dass es mich seltsam berührte, obschon ich mir zugute halten konnte, jemand aus der legendären, aufgeklärten, rundum selbstbefreiten Generation zu sein. Insbesondere dieser Houellebecq trieb es ziemlich toll. Ich hatte die ersten zehn Seiten von „Plattform“ gelesen und die beiden anderen Bücher von ihm, „Ausweitung der Kampfzone“ und „Elementarteilchen“, und ich fragte mich, wie jemand durch das Verfassen solcher Texte derart berühmt werden konnte. Was Djian und Irving dazu veranlasst hatte, schriftlich ihre sexuellen Obsessionen auszuleben, schien mir indes noch einigermaßen plausibel. Wahrscheinlich versuchten sie, mit ihren männlichen Wechseljahren klarzukommen, nur eben auf literarische Weise und damit anders als ein gewisser Herr Doktor im Südwesten Berlins. Houellebecq hingegen war meiner Meinung nach einfach nur durchgeknallt – was er da schrieb, waren im Grunde nichts anderes als überlange Leitartikel, garniert mit ein bisschen Porno. Auf solch einen Mix wäre nicht mal der verrückteste Zeitungsredakteur gekommen, und ich kannte einige, denen allerlei zuzutrauen war.
Angesichts dieser Erkenntnis zündete ich mir erstmal eine Camel an. Kurz danach kam Anna kurz heraus, tätschelte mit einem Blick, den ich gut kannte, meinen Brustkorb - „mein Gott, wie braun du schon bist“ - und teilte mir mit, Helga habe ein Problem.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte ich. „Hast du vergessen, dass ich heute Morgen bei Reinhold war? Er hat mir alles erzählt.“
„Natürlich habe ich das nicht vergessen, aber ich hätte nicht gedacht, dass er es dir erzählen würde. Er erzählt eigentlich nie jemandem etwas über sich – sagt jedenfalls Helga.“
Nun, in diesem Fall musste er ja wohl mit Helga gesprochen haben. Im Übrigen kam mir das Thema bekannt vor. Anna bemängelte auch oft, ich spräche zu wenig über das, was mich bewegte, und ich erwiderte dann meistens, sie gleiche dieses beziehungsinterne Kommunikationsdefizit doch ohne weiteres aus, woraufhin sie fragte, wie denn das nun zu verstehen sei. Aber verglichen mit Reinhold war ich bestimmt das reine Musterbild eines mitteilsamen Ehemanns.
„Dass Reinhold nichts über sich erzählt, würde ich so nicht sagen“, entgegnete ich jetzt, während ich meine Zigarette im Rasen ausdrückte, das heißt, Rasen war leicht übertrieben, bei uns wuchs mancherlei, nur wenig Gras. Helga hatte sich oft fassungslos gezeigt, dass wir nichts unternahmen, um das zu ändern.
„Nach ein paar Cognac kann Reinhold sehr gesprächig werden“, fuhr ich fort.
„Du meinst, er trinkt im Dienst?“
„Na klar, oder dachtest du vielleicht, er hätte kein Problem?“
Anna fragte dann noch einmal, was mit dem Kontrollcheck gewesen sei – sie wusste es längst, denn natürlich hatten wir bereits mittags telefoniert -, und ich bestätigte ihr erneut, dass alles mit mir in Ordnung sei, jedenfalls aus der Sicht meines Hausarztes. Ob es sich hier um ein Urteil auf der Basis höchster Kompetenz handelte, darüber konnte man zwar unterschiedlicher Ansicht sein, doch ich wollte es mit meinen Vorbehalten gegenüber Reinhold auch nicht übertreiben.
„Ich bin fit“, sagte ich, und sie warf mir einen weiteren dieser Blicke zu. Manchmal spottete sie ein bisschen darüber, wie ernst ich die Sache mit meinem Training nahm, doch es gab auch Zeiten, da sie das sehr wohl zu schätzen wusste, schließlich hatte sie auch Augen im Kopf, um zu bemerken, wie viele andere in meinem Alter aussahen, das hing auch mit dem Rhythmus ihres Hormonhaushalts zusammen. Gegenwärtig sah sie das alles offenkundig sehr positiv.
Später am Abend sagte sie etwas, das beinahe ein wenig pathetisch klang, also nicht gerade typisch für sie: „Es ist ein großes Glück, dass wir beide uns nach so vielen Jahren immer noch so gut verstehen, und zwar in jeder Hinsicht.“
Ich pflichtete ihr bei, und mir kam der Gedanke, dass es nicht nur ein Glück, sondern fast ein Wunder war, wie leicht sich manches andere vergessen ließ, beispielsweise die Krankheit meiner Mutter. Aber zugleich hatte ich so eine Ahnung, dass es schon bald Zeiten geben könnte, in denen das weniger leicht sein würde.