Читать книгу Leben für Fortgeschrittene - Ben Worthmann - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеIch hatte drei Wochen Urlaub, und nicht nur ich wusste das zu schätzen, sondern auch Anna. Dabei stellten wir beide keine besonderen Ansprüche an einen Urlaub. Es war nicht unsere Art, Monate vorher Pläne zu schmieden, Kataloge zu wälzen und in Reisebüros herumzusitzen. Die Tourismusindustrie jedenfalls dürfte an Urlaubern wie uns kaum Gefallen gefunden haben, sie hätte sich an uns glatt die Zähne ausgebissen, sofern wir ihr dazu überhaupt Gelegenheit gegeben hätten. Unsere Söhne nannten uns „komplette Dilettanten in puncto Urlaubsplanung“. Früher, als Max und Paul noch klein waren und Julius ganz klein und die drei nichts dabei fanden, mit ihren Eltern verreisen zu müssen, hatten wir stets improvisiert, was bedeutete, dass wir jedes Jahr in demselben überlaufenen Badeort an der Ostsee landeten und fast immer nur mit viel Glück noch eine Unterkunft fanden – entweder in einem der völlig überteuerten Hotels oder in einem der sogenannten Gartenhäuser, denen man durchaus ansah, dass sie ursprünglich nicht für touristische Zwecke gedacht gewesen waren.
„Warum können wir nicht auch mal richtig Urlaub machen wie andere Leute?“, lautete alljährlich die vorwurfsvolle Frage unserer unmündigen Söhne, die nie befriedigend beantwortet wurde. Anna und ich, wir mochten es nun mal nicht anders.
Inzwischen brauchten wir nicht einmal mehr zu improvisieren. Das Maß der Elternpflichten war naturgemäß auf jene Restmenge geschrumpft, die sich auf das Begleichen von Rechnungen beschränkte – unter anderem für Reisen nach Amerika, Mallorca oder den Malediven, die unsere Söhne unternahmen, nicht ohne uns zuvor demonstrativ über die vielfältigen Optionen unterrichtet zu haben. Offensichtlich meinten sie uns damit beeindrucken zu können, doch da waren sie bei uns an der falschen Adresse.
Was Anna und mich betraf, so lief es neuerdings darauf hinaus, dass wir unseren Urlaub schlicht und einfach zu Hause verbrachten – nicht aus Sparsamkeit, sondern aus reiner Bequemlichkeit. Wozu bewohnten wir schließlich ein schmuckes Haus mit großem Garten und Liegewiese, für das wir ohnehin eine horrende Miete zahlten? Wir hatten hier unsere Bücher, unsere Musik, ich hatte mein Sportstudio gleich um die Ecke. Und wir befanden uns hier in Berlin, das ja selber als Touristenattraktion galt. Andere Leute nahmen lange Anreisen auf sich, um hier ihre Urlaubstage zu verbringen. Außerdem war Berlin relativ sonnensicher.
„Kontinentalklima“, sagte ich. „Heiße Sommer, kalte Winter. Die Nähe zu Sibirien hat zuweilen auch Vorteile.“
Ich hatte einige Semester Geographie studiert – neben Philosophie, Germanistik und ein bisschen Jura, ich war ein „abgebrochener Student“ wie viele Journalisten meiner Generation – und manchmal gelang es mir immer noch, Anna mit solchen Sprüchen zu amüsieren. Ganz am Anfang, als wir uns gerade kennengelernt hatten, dozierte ich gern mal über solche Themen wie „Steigungsregen“ und sie fand das ziemlich komisch und nahm mich lachend in den Arm. Ein Nachhall hiervon schien sich über all die Jahre konserviert zu haben. Damals hatte Geld für uns gar keine Rolle gespielt. Wir besaßen zunächst weder ein Auto noch ein Telefon noch einen Fernseher oder gar ein Bausparkonto. Vielleicht war es unser spezielles Geheimnis, dass wir uns auch von diesem Daseinsgefühl ein Stückchen bewahrt hatten – zu wissen, dass es auch gut sein kann, wenn gerade nicht alle äußeren Bedingungen perfekt sind und den allgemeinen Konventionen entsprechen.
Wenn Anna und ich jetzt unsere sogenannten Urlaubspläne machten, klang das ungefähr so: „Wir werden morgens lange ausschlafen“ - „Du hast endlich mal wieder Zeit für mehr Sport“ - „Wir gehen jeden Abend schön essen“ - „Wir werden häufiger ins Theater gehen“ - „Es gibt so viel in der Stadt, das wir noch nicht gesehen haben“ - „Lass uns doch auch mal wieder in Ruhe shoppen gehen“ - „Wir können Ausflüge in die Umgebung machen“ - „Das Wetter soll die nächste Zeit gut bleiben und wir haben den schönen Garten“.
Ja, der Garten. Um ehrlich zu sein: letzten Endes blieb es an ihm hängen, zum hauptsächlichen Austragungsort für die Verwirklichung unserer Urlaubspläne zu werden. Wir stellten nämlich bald fest, dass es uns wenig reizte, in der Stadt herumzulaufen, um uns Ausstellungen anzusehen, ältere und neuere weltberühmte Bauwerke zu bestaunen oder uns an Kaufhauskassen zu drängeln. Die Bauwerke würden auch in ein paar Monaten noch stehen und „Klamotten kaufen können wir immer noch, wenn du mal einen freien Tag hast“, befand Anna. Mit Ausflügen ins Umland war es auch so eine Sache. Wenn wir es genau bedachten, wollten wir eigentlich gar nicht ins Umland. Und das Essen in den Lokalen, die uns empfohlen wurden, erwies sich oft genug als enttäuschend, genau wie manche Theaterstücke.
Doch auf den Garten war Verlass – auf ihn und auf das, was Anna als „großes Glück“ nach so vielen Ehejahren nannte, ohne dass damit allerdings gesagt sein soll, wir hätten es an jedem Urlaubstag gesucht..
„Auf die Häufigkeit kommt es nicht an“, sagte Anna, und auch in diesem Punkt pflichtete ich ihr bei. Sie fügte dann aber noch hinzu, dass sie nichts dagegen hätte, wenn die Frequenz während des Urlaubs ein bisschen höher ausfalle als sonst.
Kurz: Es bedurfte keines übertriebenen Aufwandes, um Anna und mir das Gefühl zu verschaffen, wir verstünden unseren Urlaub zu genießen. Wir saßen tagsüber im Garten und an den warmen Frühsommerabenden manchmal bis in die Nacht. Zuweilen zupften wir ein bisschen Unkraut oder hackten die Erde in den Beeten auf. Anna hatte das, was man einen grünen Daumen nennt – anders als Helga, die mit ihrer Gartenpflege einfach nur fanatisch war. Wenn Anna die Blumenkästen vor den Fenstern bepflanzte oder Schalen und Kübel, um sie vor dem Haus und auf der Terrasse aufzustellen, konnte es einem vorkommen, als hätten Stiefmütterchen und Geranien, Oleander, Myrten und Chrysanthemen nur den einen Wunsch, möglichst rasch und prächtig zu gedeihen, um Anna eine Freunde zu machen. Sie wiederum erfreute mein Auge, indem sie in Shorts, T-Shirt und viel zu großen Lederstiefeln umher stapfte, was ich mindestens so sexy fand, als wenn sie sich im Bikini ausstreckte. Eines Tages stellte sich übrigens heraus, dass die Stiefel Julius gehörten. Er machte ein großes Geschrei, nannte irgendeinen Markennamen und fand es „völlig daneben“, dass seine Mutter sein kostbares Schuhwerk für ihre gärtnerischen Ambitionen zweckentfremdete.
„Warum stehen die Dinger dann wochenlang wie ausrangiert auf der Terrasse herum?“, wollte Anna wissen, musste aber vergeblich auf eine Antwort warten. Ansonsten waren solche Urlaubszeiten, wie gesagt, erholsam und beschaulich. Selbst Frieda rannte seltener nach vorn zum Zaun, um harmlose Passanten zu erschrecken, was sonst ihre Lieblingsbeschäftigung war, außer Fressen, versteht sich.
Diesmal allerdings wurde die traute Routine durch Rituale ergänzt, auf die wir nur zu gern verzichtet hätten. Ohne den Dingen allzu weit vorzugreifen, sei dies nur schon einmal erwähnt. Als ich später bei der Zeitung von den Kollegen gefragt wurde, wie denn mein Urlaub gewesen sei, fiel mir als passende Antwort nur ein: „Es war das Gegenteil von Urlaub.“
Mein erster Urlaubstag war der fünfzehnte Krankenhaustag für meine Mutter, und das hieß auch, dass Annas notorische Ermahnungen, ich solle doch bitte nicht vergessen, wieder einmal meine Mutter anzurufen, sich auf ganz grundsätzliche Weise erledigt hatten. Ich rief sie jeden Tag im Krankenhaus an. Meistens geschah das gegen Abend, wenn Hans-Gerd Lossau seinen Stuhl neben ihrem Bett geräumt hatte. Meine Schwester schaute jeden zweiten Tag bei ihr vorbei und telefonierte ebenfalls täglich mit ihr, jeden Mittag rief sie Anna an, um ihr Bericht zu erstatten und natürlich auch mir, nachdem Anna das Telefon an mich weitergereicht hatte. Später gingen dann Anna und ich noch einmal alles durch, und die Schlüsse, zu denen wir gelangten, waren alles andere als positiv. Immerhin telefonierten Carola und ich neuerdings sehr häufig miteinander, was in Annas Augen einen gewissen Fortschritt bezüglich meiner innerfamiliären Kommunikationsbereitschaft darstellte, wenn auch nur unter dem Zwang unerfreulicher Umstände. Jedenfalls holten Carola und ich erstaunlich schnell nach, was wir in den zurückliegenden Jahren versäumt hatten. Wir sprachen nicht ausschließlich über den Gesundheitszustand unserer Mutter.
Was diesen betraf, so ließ sich darüber ohnehin nicht allzu viel Günstiges sagen. „Gesundheitszustand“ war auch wohl kaum das richtige Wort. Wegen des Wassers im Bauch musste unsere Mutter „entwässert“ werden, wie es hieß, was mittels spezieller Medikamente geschah und zur Folge hatte, dass sie binnen weniger Tage fast zehn Kilo abnahm. Ich dachte bei mir, dass sie in den letzten Jahren ohnehin zu schwer geworden war, auch weil sie, entgegen ihrer Behauptung, sich gesund zu ernähren, zu viele Süßigkeiten aß. Doch bestimmt war es keine empfehlenswerte Diät, wenn ein Mensch mit Wasser im Bauch plötzlich durch Entwässerung derart viel Gewicht verlor. Meine Mutter wurde ferner punktiert, man entnahm ihr Gewebeproben und führte irgendwelche Spiegelungen durch und schob sie in irgendwelche Röhren – alles Vorgänge und Begriffe, die mir wenig sagten, sich aber für mein Empfinden nicht gut anhörten. Carola und Anna wussten damit natürlich mehr anzufangen, und was sie nicht auf Anhieb verstanden, schlugen sie in ihren Büchern nach.
Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, dauerte es meistens eine Weile, bis nach dem Geräusch des Hörerabnehmens ihr Stimme an mein Ohr drang. Sie entschuldigte sich und machte den Apparat dafür verantwortlich.
„Das ist hier so ein komisches Telefon“, sagte sie. Später stellte ich fest, dass es sich um ein ganz normales Telefon handelte. Sie sprach davon, dass sie in einigen Wochen wieder nach Berlin kommen wolle. Sie nannte den Namen eines Restaurants in Mellingen, in dem sie vorher mit uns essen gehen wolle, wenn wir sie abholten, wie ich ihr versprochen hatte. Der Gedanke, dass wir sie abholen würden, schien sie zu freuen und zu beruhigen. Sie steig nur äußerst ungern zu Lossau ins Auto, der trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch fuhr und erst vor wenigen Monaten seinen Wagen zu Schrott gefahren hatte, nur um sich sogleich einen neuen zu kaufen. Einmal war einer unserer Söhne mit ihm gefahren, Paul, wenn ich mich richtig erinnere, und er hatte anschließend gemeint, er könne die Abneigung seiner Großmutter gegen Autofahrten mit ihrem Lebensgefährten am Steuer sehr gut nachvollziehen. Er selbst werde ganz gewiss nie wieder mit Lossau fahren. „Der fährt wie eine Wildsau.“
Carola berichtete mir, unsere Mutter erzähle den Mitpatienten, Ärzten und Schwestern im Krankenhaus, ihr Sohn werde eigens aus Berlin kommen, um sie abzuholen. „Mein Sohn hat einen großen Wagen“, erklärte sie den anderen. Im Vergleich zu Lossaus Golf war unser Volvo tatsächlich groß.
„Lass mich nur erst hier raus sein“, sagte sie zu mir am Telefon und beklagte sich, dass man sie nicht in Frieden lasse. „Ständig sind sie um um mich herum und machen irgendetwas mit mir. Dabei möchte ich einfach nur meine Ruhe haben.“
Das war ein verständlicher Wunsch, wie überhaupt das meiste, was meine Mutter sagte, schlüssig und plausibel klang – das meiste, aber nicht alles. Es war am vierten Tag meines Urlaubs, als sie mir berichtete, in der Nacht zuvor sei jemand am Fenster gewesen. Dann sagte sie noch, sie müsse vorsichtig sein mit dem, was sie sage. „Man kann hier nicht frei sprechen, sie drehen einem das Wort im Mund herum.“ Sie äußerte den Verdacht, dass die Kirche die Hände im Spiel habe. Meine Mutter hielt nichts von der Kirche, und es war ein katholisches Krankenhaus. Aber der Zusammenhang erschloss sich mir dennoch nicht.
„Jemand wie ich ist hier nicht gern gesehen“, sagte sie. „Ich habe die falschen politischen Ansichten und lese den 'Stern' und den 'Spiegel'.“ Das war mir nicht neu, und ich wusste, dass sie die Grünen wählte und mit den Linken liebäugelte, aber ich bezweifelte, dass das irgend jemanden in diesem Krankenhaus interessierte.
Anna meinte, meine Mutter sei offenkundig etwas verwirrt. „Sie ist eine sehr eigenständige Frau, und die Krankenhaussituation bedeutet sowieso großen Stress – und dann auch noch alle die Untersuchungen.“
Carolas Erklärungen klangen ähnlich. Aber am übernächsten Tag gelangten sowohl Anna als auch Carola und ich zu der Ansicht, dass diese Theorien womöglich unvollständig waren. Die Äußerungen der Kranken muteten jetzt noch verworrener an und ihre Stimme klang bisweilen bedenklich schwach, und dies, obschon sie mittlerweile ihre ersehnte Ruhe hatte, nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren und man die Medikation auf die entsprechenden Dosierungen eingestellt hatte.
„Eigentlich müsste es ihr besser gehen“, sagte Carola. Anna meinte das auch, während ich mich in meiner Auffassung bestätigt sah, dass Krankenhäuser letztlich ihre Bezeichnung deswegen zu Recht tragen, weil sie die Menschen krank machen.
„Wenn wir sie erst nach Berlin geholt haben, wir es ihr bald besser gehen, wir päppeln sie hier auf“, sagte ich, ohne indes restlos davon überzeugt zu sein, dass dies eine realistische Perspektive war. Carola fand das auch nicht, und dann sprach sie endlich aus, was mich und wahrscheinlich auch Anna die ganze Zeit schon mehr unbewusst als bewusst beschäftigt hatte.
„Ihr solltet herkommen, um sie zu besuchen“, sagte meine Schwester, „und zwar möglichst bald.“
Carola hatte hier offenbar präzise Vorstellungen, es war nicht leicht, ihnen etwas entgegenzusetzen, zumal sie wusste, dass ich Urlaub hatte, sodass ich mich nicht mit überraschenden Dienstplanänderungen herausreden konnte, wie ich das sonst gern tat, wenn ich irgendwelche unangenehmen Verpflichtungen auf uns zukommen sah. Meistens deckte mich Anna, beispielsweise, wenn wir auf Besuchsreise waren und bereits nach zwei Tagen feststellen mussten, dass wir genug hatten von den Verwandten und Bekannten. Ich fand es interessant, dass Annas Auffassungen darüber, wann es genug war, sich den meinen im Lauf der Jahre immer mehr angeglichen hatten, auch wenn sie das nicht so ohne weiteres zugegeben hätte. Zwar legte sie großen Wert darauf, dann und wann ihre Leute zu sehen, und jedes Mal gab es vorher langwierige Überlegungen, wer im einzelnen besucht werden müsse. Für einige wurden kleine Geschenke eingepackt, die Anna vorsorglich gesammelt hatte, oft waren es auch nur verspätete Weihnachtsgeschenke, die dann im Sommer überreicht werden sollten. Doch wenn es dann ernst wurde mit der Reise und der Termin näher rückte, stellte sich alsbald heraus, dass die Zahl derer, die unbedingt besucht werden mussten, dann doch nicht ganz so groß war. „Lass es uns kurz machen“, sagte Anna.
Meistens erklärten wir dann, es tue uns wirklich Leid, aber wir könnten nicht länger bleiben, wegen meiner Arbeit. Mal kündigten wir die Besuchsabkürzung schon vorher an, mal erfolgten unsere Erklärungen ganz spontan – je nachdem, wie sehr uns die Sache auf die Nerven ging, da waren wir flexibel.
In der ersten Zeit nach unserem Umzug nach Berlin waren wir noch ziemlich regelmäßig Richtung Westen gefahren, nicht nur dann, wenn dieser oder jener Pflichtbesuch fällig war. Doch mit den Jahren hatte die Frequenz deutlich nachgelassen und wir hatten eigene Vorstellungen davon entwickelt, was ein Pflichtbesuch war. Das gab gelegentlich Anlass zu spitzen Bemerkungen von Bekannten und Verwandten. Auch wurden Zweifel geäußert, ob bei den Zeitungsjournalisten tatsächlich so häufig die Dienstpläne über den Haufen geworfen würden – Zweifel, die durchaus ihre Berechtigung hatten. Aber es war einfach so, dass uns der ganze Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis zum Sinn und Nutzen solcher Reisen zu stehen schien. Wir verbrachten viele Stunden auf der Autobahn, etliche davon im Stau, mussten langweilige Kaffeetrinken über uns ergehen lassen, wurden von wohlmeinenden Gastgebern zum Verzehr von zu vielen warmen Mahlzeiten genötigt und mussten in unbequemen Betten schlafen. Wir fanden es bei uns zu Hause einfach angenehmer.
Doch wie immer wir mittlerweile zu Besuchsreisen stehen mochten, eines war klar: Der Besuch bei meiner kranken Mutter war nicht zu vermeiden. Hier handelte es sich eindeutig um einen Pflichttermin. Die Frage schien einstweilen nur, was meine Schwester mit „bald“ meinte.
Für Anna und mich hatte das Projekt „meine Mutter nach Berlin holen“ bis dahin unter anderem den Vorzug gehabt, dass es weder sehr konkret noch sonderlich aktuell war. Die Dringlichkeit war in etwa vergleichbar mit jener solcher Urlaubsaktivitäten wie Museumsbesuche oder Fahrten ins Umland. Irgendwann würde vielleicht der Tag kommen, da wir uns dazu aufrafften – aber doch nicht jetzt gleich. Anna hatte übrigens nicht nur eine starke Abneigung gegen lange Autofahrten, sie hasste auch Krankenhausbesuche mindestens so sehr wie ich selbst.
„Lass uns bitte nicht gleich morgen fahren“, sagte sie. „Übermorgen ist früh genug, ich muss mich erst auf das Ganze irgendwie einstellen.“
Das sollte mir nur recht sein, so eilig hatte ich es auch nicht, und außerdem hatte ich ebenfalls das Gefühl, dass mir die die richtige Einstellung zu dem Vorhaben bisher noch fehlte. Allerdings glaubte ich kaum, dass ich sie bis zum übernächsten Tag finden würde. Ich wusste nicht einmal, wie die richtige Einstellung überhaupt auszusehen hatte.
Als ich am Abend mit meiner Mutter telefonierte, schien sie mir noch verwirrter als am Vortag. Dann rief noch einmal Carola an, und wir machten aus, dass wir uns übermorgen im Krankenhaus treffen und dann für ein paar Tage bei ihr und Bodo bleiben würden. Platz genug hatten sie, seit Lars und Nina ausgezogen waren, die etwa das gleiche Alter hatten wie Max und Paul. Das Haus war, nebenbei bemerkt, ihr eigenes, was Anna manchmal neidisch werden ließ, auch wenn sie das nicht gern zugab. Carola und ich und später Anna und ich überlegten, wann wir zuletzt bei den beiden zu Besuch gewesen waren. ES musste mindestens sechs, sieben Jahre her sein.
Carola gegenüber bekräftigte ich die Behauptung, ich müsse in der kommenden Woche wieder arbeiten, sodass unser Aufenthalt zwangsläufig begrenzt sein würde. Ich hielt es für vertretbar, meine Schwester in dem Irrtum zu belassen, ich hätte nur zwei Wochen Urlaub. Dies war das Mindeste, was ich tun konnte, um Anna und mir eine Chance zu sichern, „es kurz zu machen“.
Der letzte Tag vor dem Unvermeidlichen verstrich, ohne dass sich hätte sagen lassen, er sei noch besonders erholsam gewesen. Dann war es so weit. Anna erteilte Max und Paul die passenden Ermahnungen, die Post aus dem Kasten zu nehmen, sich vernünftig zu ernähren und sich um Frieda zu kümmern, wir versorgten uns an der Tankstelle mit dem Nötigen und machten uns auf den Weg.
Wir sprachen nicht viel während der Fahrt. Die Zeit verging selbst für Anna mit ihrer erklärten Aversion gegen lange Autobahnfahrten viel zu schnell. Dies hier war ein Pflichtbesuch der härteren Art. Ich dachte daran, welch ein Unterschied es war, im Liegestuhl im Garten zu liegen oder in einem Krankenhausbett. Im Sommer zuvor hatte meine Mutter oft bei uns im Garten gesessen.
Im Radio wurde unentwegt die Nummer eins der Charts gespielt – ganz egal, welchen Sender ich wählte, überall wurde nur dieser Song der blonden Kolumbianerin gespielt, die mir kürzlich nachts beim Zappen schon zufällig auf einem der Musiksender aufgefallen war, auch wegen ihres beeindruckenden Hüftschwungs. Das Stück war ein Ohrwurm, keine Frage, aber mir stand der Sinn nicht nach dieser Art von Musik.
Als wir nach fünf Stunden endlich die Autobahn hinter uns gelassen hatten und uns dem Krankenhaus näherten und immer noch Shakira sang, sagte Anna: „Stell bitte das Radio ab, ich kann es nicht mehr hören.“ Ich konnte es auch nicht mehr hören. Kurz darauf suchte ich eine Parklücke vor dem Krankenhaus und fand auch gleich eine. Eigentlich gab es keinen Grund für uns, noch im Wagen sitzen zu bleiben, aber wir taten es trotzdem.
Eine knappe Stunde später saßen wir bereits wieder im Auto und hatten es ziemlich eilig, von hier wegzukommen. Mir waren die ganze Zeit zuvor schon Carolas Worte bei unserem letzten Telefonat nicht aus dem Kopf gegangen: „Ihr müsst euch übrigens darauf einstellen, dass sie jetzt ganz anders aussieht. Es ist nicht mehr die Frau, die ihr gekannt habt.“ Anna hatte ich davon lieber nichts gesagt, weil ich wusste, dass sie ohnehin angespannt und nervös war. Was es mit dieser Warnung meiner Schwester tatsächlich auf sich hatte, war mir allerdings nicht ganz klar gewesen. Die zurückliegende Stunde hatte es klar gemacht, nicht nur mir, sondern auch Anna.