Читать книгу Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann - Страница 3
1.
ОглавлениеSchon als er seine Bürotür hinter sich schloss, spürte Jan Hofmeister jenes Gefühl von Unbehagen, das ihn neuerdings überkam, wenn er sich nach Feierabend auf den Heimweg machte. Bis vor kurzem war das noch anders gewesen. Er hatte sich jedes Mal gefreut, wieder nach Hause zu kommen. Und oft genug war es ihm fast wie ein Wunder erschien, dass sein Leben noch einmal solch eine Wende zum Guten genommen, dass sich alles so gefügt hatte, wie es jetzt war. Nach den dunklen, quälenden Zeiten, die hinter ihm lagen, war das wahrhaftig kaum mehr zu erwarten gewesen. Dabei war er alles andere als ein gläubiger Mensch, in dessen Denken und Empfinden ein Begriff wie Wunder seinen Platz gehabt hätte. Und falls er das je gewesen wäre, sagte er sich, so hätte er seinen Glauben gewiss längst verloren, vor allem jenen an irgendeine Gerechtigkeit, sei sie nun von irdischer oder höherer Art.
Manchmal hatte er sich gefragt, ob es ihm überhaupt jemals gelingen würde, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden und die Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen. Auch als es erste Zeichen der Hoffnung gab, dass er es schaffen würde, hatte es noch immer vorkommen können, dass er so heftig aus Alpträumen hochschreckte, dass Christina neben ihm davon wach wurde und ihn beruhigen musste. Die Nächte, in denen so etwas geschah, waren in den letzten Jahren deutlich seltener geworden. Doch in dieser Woche war es gleich zweimal passiert.
Als er sich an diesem warmen Spätsommerabend auf seinem Rad dem Haus näherte, verlangsamte er die Geschwindigkeit und hielt dann für einen Moment inne, um den Anblick in sich aufzunehmen. Ja, es war gut, hier zu leben, musste er wieder denken, wie schon so oft in den zurückliegenden zwei Jahren, seit sie ihr Haus gekauft und bezogen hatten. Und das sollte, verdammt noch mal, auch so bleiben. Aber sofort meldeten sich wieder die Zweifel, ob es auch wirklich immer noch gut war und ob das auch weiterhin so sein würde.
Das helle, anderthalbstöckige Gebäude mit seinem Walmdach, den Gauben und den weißen Sprossenfenstern gehörte zu einer hübschen Siedlung am grünen Stadtrand, deren Bewohner vor allem gemeinsam hatten, dass sie es sich leisten konnten, hier auf eigenem Grund und Boden zu leben. Die Sonne stand bereits tief, sodass ihre Strahlen kaum noch das dichte Buschwerk durchdringen konnten, das das Grundstück auf der rechten Seite begrenzte. In der knapp mannshohen Hecke zur Straße hin schwirrten Insekten. Aus einigen Gärten und geöffneten Fenstern drangen Fetzen von Gesprächen und Musik zu ihm herüber, die aber den Eindruck idyllischer Ruhe nicht beeinträchtigen konnten. Irgendwo wurde gegrillt.
Die Straße war für den normalen Durchgangsverkehr gesperrt und Schwellen in der hellgrauen Pflasterung sorgten dafür, dass die Anwohner nur im Schritttempo fahren konnten, was sie aber nach Jans Einschätzung auch ohne diese verkehrspädagogische Maßnahme getan hätten.
Die freistehenden Einfamilienhäuser hatten sorgsam gepflegte Vorgärten und an die Terrassen grenzende Rasengrundstücke nach hinten hinaus, und alle waren sie ähnlich gestaltet. Man merkte ihnen die Handschrift ein und desselben Architekten an, der aber zugleich darauf geachtet hatte, dass nicht alle Häuser völlig gleich aussahen. Es gab Unterschiede sowohl in Farbe und Größe als auch bei der Form der Dächer.
Das Haus gegenüber beispielsweise war in einem rötlichen Ton gehalten, hatte ein abgeflachtes Dach und war auch ein bisschen größer als das von Jan und Christina, obschon die neuen Bewohner nur zu dritt waren, nachdem dort zuvor eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Manchmal waren die beiden Wagen vor dem Tor geparkt – ein großer Mercedes-SUV und ein BMW-Cabrio. Auf Jan wirkte das so, als würden diese neuen Nachbarn einen gewissen Wert darauf legen, ihren Wohlstand zur Schau zu stellen. Aber er wollte nicht vorschnell aufgrund solcher Äußerlichkeiten urteilen, wozu er bisweilen neigte, wie er sich selbst eingestehen musste. Schließlich kannte er die Leute von gegenüber, ein Paar in seinem und Christinas Alter mit einem kleinen Sohn, bisher nur flüchtig vom täglichen Sehen und Grüßen. Sie waren ja auch erst vor ein paar Wochen dort eingezogen.
Doch da gab es etwas, das ihn beschäftigte, seit er zum ersten Mal den Mann gesehen hatte. Sofort hatte sich eine Art Déjà-vu-Gefühl eingestellt, und zwar kein gutes. Die Sekunden des ersten Anblicks waren fast wie ein Schockmoment gewesen, weil es zugleich ein Augenblick des Wiedererkennens war. Es kam ihm vor, als würde er kurz innerlich erstarren. Seither hatte er immer wieder versucht, die Ursache dafür zu ergründen und sich klar darüber zu werden, wann und wo er den Mann schon gesehen hatte. Doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
Christina, die kontaktfreudiger war als er selbst und schnell mit Menschen ins Gespräch kam, hatte sich inzwischen mit den Leuten von gegenüber bekannt gemacht und ihm erzählt, sie seien sehr nett und umgänglich und gewiss würden sie gut miteinander auskommen. Andreas Berger hatte einen leitenden Job bei einer Bank, seine Frau Kerstin arbeitete halbtags als Physiotherapeutin in einer großen Praxis. Ihr Sohn Hannes war sechs, ein Jahr älter als die Zwillinge, und gerade eingeschult worden. Und vor ein paar Tagen hatte ihm Christina mitgeteilt, dass es nun so weit sei und man sich wohl ein bisschen näher kennenlernen werde. Die Bergers hätten sie nämlich für diesen Samstag zum Abendessen eingeladen.
Jan stieg von seinem Fahrrad ab und schob es die letzten Meter bis zum Grundstückstor, um es dann in der Garage neben dem Volvo-Kombi an die Wand zu lehnen, und nahm die Tasche ab, die er am Gurt schräg über der Schulter getragen hatte. Ein Rucksack wäre sicherlich bequemer gewesen, aber er mochte diese grassierende Rucksackmode einfach nicht. Während er einen Blick auf den dunkelgrauen Wagen warf, dachte er, dass er mal wieder eine Wäsche vertragen könnte, auch wenn er nicht dauernd so zu blinken und blitzten wie die Fahrzeuge der Nachbarn gegenüber. Christina und er hatten beschlossen, dass ein Familienauto vollauf genügte, zumal es fast nur sie es war, die den Wagen wirklich benötigte, vor allem, um die üblichen Einkäufe zu erledigen, die Zwillinge zur Kita zu fahren und selbst zu der von ihrem Haus etwas abgelegenen Grundschule zu gelangen, in der sie seit Jahren als Lehrerin arbeitete.
Jan nahm das Rad für die zwei Kilometer zur S-Bahnstation, von der er mit dem Zug in knapp zehn Minuten bequem beim Verlag war. Manchmal legte er die Strecke auch zu Fuß zurück. Das erschien ihm nicht nur aus Rücksicht auf die Umwelt vernünftig. Er merkte auch, dass ihm die Bewegung ganz gut tat, zusätzlich zu den Gymnastik- und Yoga-Übungen, die er seit damals auf Anraten der Therapeuten täglich absolvierte. Tatsache war aber außerdem, dass er einfach nicht gern Auto fuhr, schon gar nicht in dieser großen Stadt, wo die allgemeine Hektik nur allzu leicht in Rücksichtslosigkeit und Aggressivität umschlug. Umso mehr wusste er es zu schätzen, dass sie jetzt hier praktisch wie auf dem Lande lebten, in ihrem behaglichen Refugium, in sicherer Entfernung von all dem Lärm und der Hektik der Metropole – weit weg aber vor allem von Altenstedt, jener Stadt, aus der er stammte, in der er geboren und aufgewachsen war und bis vor achtzehn Jahren gelebt hatte.
Als er Altenstedt damals verlassen hatte, war das wie eine Flucht gewesen und er war seither nie mehr dorthin zurückgekehrt. Der Name der Stadt war für ihn zum Synonym für die dunkelsten Stunden und Tage seines Lebens geworden.
Auf dem Weg zur Haustür stellte er fest, dass er seinen Schlüssel nicht dabei hatte, was bisweilen vorkam. Bevor er anklingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen und Paul und Marie kamen ihm entgegengestürmt.
„Papi, Papi, schön, dass du endlich da bist“, riefen beide fast gleichzeitig.
„Ja, ich freue mich auch, ihr beiden Wilden.“
„Wir sind gar nicht wild, sondern ganz brav“, widersprach ihm Paul. „Wir haben nämlich ganz alleine freiwillig unsere Sachen aufgeräumt.“
„Na ja, das ist dann vielleicht doch ein bisschen übertrieben“, korrigierte ihn lächelnd seine Mutter, die aus der Küche in die Diele getreten war. „Ganz so freiwillig war das nun auch wieder nicht.“
Während Jan die Tür hinter sich schloss und seine Tasche abstellte, kam Christina näher, um ihn mit einer kurzen Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. Sie trug Shorts und ein T-Shirt und er spürte für einen Moment die Wärme ihres schlanken, hochgewachsenen Körpers, der nur wenig kleiner war als sein eigener. Immer noch wirkte sie sehr jung mit ihrem feingeschnittenen Gesicht, dem kurzen dunklen Haar, mit ihrer lebhaften, offenen Art - jünger jedenfalls, als es die fünf Jahre Altersunterschied vermuten ließen, die er ihr mit seinen knapp vierundvierzig voraus war. Immer noch kam es vor, dass sich beim Anblick Christinas Anblick ein anderes Bild vor sein inneres Auge geschoben und er gewisse Vergleiche angestellte, obschon er es eigentlich gar nicht wollte.
„Hast du an den Wein für die Bergers gedacht?“, fragte sie.
„Welchen Wein? Ach so, ja. Tut mir leid, den habe ich vergessen.“