Читать книгу Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann - Страница 6
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ОглавлениеDieses unheimliche, wabernde Gebilde, das Jan um sich spürte, seit er Andreas Berger zum ersten Mal gesehen hatte, verdichtete sich und rückte näher an ihn heran. Es ließ sich nicht fassen, es ließ sich nicht erklären, es ließ sich nicht abschütteln.
Es ist Angst, ausgelöst durch meine Irritation, dachte er. Aber wovor, verdammt, habe ich Angst? Vor diesem geschwätzigen Banker, der seine Selbstgefälligkeit so ungeniert zur Schau stellt? Einfach lächerlich, zischte er durch die Zähne.
Und doch, sein Zustand war eindeutig verknüpft mit diesem Mann, der ihm so zuwider war. Den Abend bei den Bergers hatte er als wahre Tortur empfunden. Es hatte ihn Mühe gekostet, dem Geplapper bei Tisch zu folgen oder sich gar daran zu beteiligen. Hätte man ihn im Nachhinein gefragt, was geredet worden war und was Kerstin aufgetischt hatte, er hätte es kaum zu sagen vermocht. Seine ganze Konzentration war auf Andreas gerichtet, immer in der Hoffnung oder Erwartung, dass es irgendwann „klick“ machen würde. Aber nichts war passiert. Weder Bergers Stimme noch sein Mienenspiel lösten irgendwelche konkreten Erinnerungen oder auch nur Assoziationen aus. Er ließ sich nicht einordnen, nicht in die nähere oder ferne Vergangenheit, nicht ins Berufsleben. Und doch war Jan sich sicher, dass er schon mit Andreas Berger zusammengetroffen war. Es konnte keine erfreuliche Begegnung gewesen sein.
Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, als sie wieder zu Hause waren, nahmen sie noch einen Schlummertrunk auf der Terrasse. Es gehörte zu ihren Gewohnheiten, ausführlich über alles zu sprechen, was sie gemeinsam erlebten. Vor allem Christina lag immer viel an dieser „theoretischen Nachbereitung“, wie Jan es mit milder Ironie nannte. Und diesmal gab es dazu ja auch tatsächlich einigen Anlass.
„Besonders begeistert scheinst du ja nicht gerade zu sein“, meinte Christina mit skeptischem Unterton und warf ihm im matten Schein der Terrassenleuchte einen forschenden Blick zu. „Gibt es dafür einen speziellen Grund?“
„Ach, du weißt doch, dass ich nicht mit allen Leuten gleich gut zurechtkomme. Mit den einen habe ich mir mehr zu sagen, mit den anderen weniger. Es passt eben nicht immer perfekt“, antwortete er.
„Ja, mein Lieber, das weiß ich. Aber du weißt auch, dass die Menschheit nun mal nicht nur aus Geistesschaffenden, aus Literaten und Lektoren besteht. Und außerdem solltest du nicht schon nach diesem ersten Abend vorschnell urteilen.“
„Nein, das will ich nicht und tue ich auch gar nicht.“
„Wir sind schließlich Nachbarn und werden das wohl auch für lange Zeit bleiben. Da muss man schauen, dass man miteinander auskommt. Und es ist ja auch nicht so, dass wir nun jede Woche mit ihnen zusammensitzen müssen.“
„Wie beruhigend“, entfuhr es ihm mit mehr Sarkasmus in der Stimme, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „Aber okay, ja, du hast natürlich recht.“
„Es gibt eben Leute, deren Art zu leben nicht unsere ist“, dozierte Christina weiter. „Vielleicht brauchen sie ein großes Haus und zwei teure Autos, um sich wichtig zu fühlen und Geld, Mode, der Job, Anschaffungen und aufwändige Urlaubsreisen bedeuten ihnen viel. Sei's drum, jeder nach seiner Fasson.“
Sozialneid war Jan immer fremd gewesen. Anlass dafür hätte es ohnehin nicht gegeben. Als Cheflektor eines großen Buchverlags bezog er ein ansehnliches Gehalt, Christina hatte ihren krisensicheren Beruf als Lehrerin.
„Ja, ja, ist schon gut“, murmelte er.
Kerstin Berger schien ja auch tatsächlich ganz nett zu sein und machte trotz ihrer etwas aufgesetzten Art einen ziemlich handfesten Eindruck. Und dass sie attraktiv war, ließ sich kaum bestreiten - eine gepflegte, sportlich wirkende Enddreißigerin, die sichtlich nicht nur sehr auf ihre Kleidung und den Schnitt ihres blonden, halblangen Haars achtete, sondern auch auf ihre Figur, was unter anderem mit ihrem körperbezogenen Beruf zu tun haben mochte.
Während ihm die Bilder und Szenen noch einmal durch den Kopf gingen, fühlte er sich plötzlich genervt von dem Gespräch mit Christina. So sehr er ihre Offenheit, ihr Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen oft bewunderte – jetzt fand er ihre schon fast enthusiastische Einschätzung der neuen Nachbarn doch deutlich übertrieben.
„Wenn du nur fest genug entschlossen bist, jemanden zu mögen, findest du auch an dem größten Blödmann noch liebenswerte Seiten“, sagte er so schroff, dass sie ihn erschrocken ansah.
„Lass uns nicht streiten“, lenkte sie sofort ein. „Eines gebe ich ja auch ohne weiteres zu: Er, also der Andreas, wirkt ein bisschen anstrengend, um es mal zurückhaltend auszudrücken. Es ist bestimmt nicht leicht, es länger mit ihm auszuhalten.“
„Na, da bin ich ja doch irgendwie erleichtert, dass du das genau so wahrgenommen hast. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre wieder mal zu kritisch.“