Читать книгу Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann - Страница 4
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ОглавлениеChristina schaute in den Kühlschrank und überlegte kurz: Käse, Schinken, Tomaten, Radieschen? Am besten alles, entschied sie. Das Abendessen würde heute eher bescheiden ausfallen. Jan hatte mit einem Kollegen zu Mittag gegessen und für sie und die Kinder war noch ein Rest Spaghetti Bolognese vom Vortag übrig gewesen. Sie warf einen Blick durchs Küchenfenster. Jan war schon da, er schob sein Rad Richtung Garage. Wie gut er aussah, dachte sie, so jung und lässig. Und in Jeans, hellblauem Hemd und dunkelblauem Jackett sah er ganz besonders gut aus. So war er auch bei ihrer allerersten Begegnung gekleidet gewesen, als sie sich sofort in ihn verliebt hatte.
Heute Abend erschien ihr das Leben leicht und unbeschwert. Alles war genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Und wenn auch nach wie vor, in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins, noch ein winziger Rest von Unsicherheit und Vorsicht lauerte, glaubte sie doch sicher sein zu können, dass sie eine fröhliche, glückliche Familie bleiben würden, auch wenn es noch vorkam, wie kürzlich wieder, dass er in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte und sich kurz, offenkundig verwirrt, in seinem Bett aufsetzte. Er hatte vor Jahren Schreckliches erlebt. Und wahrscheinlich würde es infolge dieses Traumas immer mal wieder kleine Rückfälle geben. Damit mussten sie leben. Doch sie war sich sicher, dass Jan seine Dämonen, wie sie es nannte, im Grunde besiegt hatte.
Er war ein liebevoller, verantwortungsbewusster Vater. Seine Arbeit machte ihm Freude und wurde gut bezahlt. Und trotz zahlreicher Überstunden und anstrengender Phasen fuhr er doch jeden Morgen gern in sein Verlagsbüro. Auch nach zehn gemeinsamen Jahren war Christina noch immer verliebt in ihn. Und umgekehrt, davon war sie überzeugt, verhielt es sich nicht anders.
Damals, als sie an einem Freitagabend so ungewollt tapsig in sein Leben gestolpert war, hatten Jahre großer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hinter ihm gelegen. Und noch immer hatte es ihn viel Kraft gekostet, Beruf, Alltag und soziale Kontakte zu meistern. Sie hatte ihn als einen Menschen kennengelernt, der sehr zurückgezogen lebte und am liebsten für sich blieb. Er war nicht sonderlich gesprächig, private Fragen und Bekundungen von Interesse an seiner Person wusste er rasch abzublocken.
Obwohl sich Christina sofort stark zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war sie einige Male kurz davor gewesen aufzugeben. Es waren anstrengende Monate gewesen, ein einziges Gefühlschaos, eine regelrechte Berg- und Talfahrt zwischen Hoffnung, Euphorie, Frustration und Zurückweisung. Wenn sie glaubte, einen Schritt vorangekommen zu sein, stieß er sie zwei Schritte zurück. Doch obschon sie lange Zeit nicht ahnte, was mit ihm los war und was ihn so hatte werden lassen, wie er damals war, blieb sie geduldig und verständnisvoll. Sie hatte bis dahin gar nicht gewusst, wie leidensfähig sie sein konnte. Vielleicht, weil sie gespürt hatte, dass er nicht einfach nur ein merkwürdiger Kauz war, sondern dass dieser Mann etwas Schweres, noch nicht Verarbeitetes mit sich herumschleppte. Und tatsächlich, nach und nach bröckelte die Mauer um ihn herum, er gewährte ihr Zugang, begann zu erzählen. Bis sie schließlich alles wusste.
Dabei war der erste Abend ihres Kennenlernens nicht ohne Komik verlaufen. Es gab eine Lesung in einer Buchhandlung, die Christina oft und gern aufsuchte. Von dem Autor, der sein neues Buch vorstellte, hatte sie schon einiges gelesen. Sie saß in der dritten Stuhlreihe, fast in der Mitte, das Begrüßungsglas Prosecco in der Hand, und betrachtete entspannt das ankommende Publikum. Einige der Leute kannte sie vom Sehen, man nickte einander freundlich zu.
Und dann kam Jan, dieser großgewachsene, etwas schlaksig wirkende blonde Mann, bei dessen Anblick Christina unwillkürlich für einen Moment den Atem anhielt. Er trug Jeans, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Jackett. Offensichtlich wurde er erwartet. Die Buchhändlerin und der bereits anwesende Schriftsteller begrüßten ihn freundschaftlich per Handschlag.
Christina saß jetzt aufrecht. Wie gebannt betrachtete sie die Szene, wobei ihr Blick immer wieder auf dem großen blonden Mann haften blieb. Genau mein Typ, schoss es ihr durch den Kopf. Und dann konnte sie nur noch eines denken – dass sie ihn unbedingt kennenlernen musste. Am besten würde sie versuchen, beim anschließenden Umtrunk irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Wenn sie etwas wirklich erreichen wollte, konnte Christina äußerst zielstrebig sein, nicht nur in Alltagssituationen, sondern auch in Bezug auf Männer. Das lag sicher mit darin begründet, dass sie Einzelkind war, umsorgt von liebevollen Eltern, die sie gefördert und in ihrem Selbstbewusstsein bestärkt hatten. Sie hatte einige Beziehungen hinter sich, aber letztlich war es dann doch nie der Richtige gewesen, zumindest nicht im Hinblick auf das, was sie für ihre Zukunft plante, nämlich zu heiraten und Kinder zu haben. Im Moment war sie Single und war mit ihrem Leben ganz zufrieden, zumal sie sich in ihrem Beruf als Grundschullehrerin wohl fühlte. Torschlusspanik hatte sie mit ihren neunundzwanzig Jahren jedenfalls noch nicht verspürt. Und das Gerede von der biologischen Uhr, die angeblich irgendwann zu ticken begann, fand sie einstweilen nur lächerlich. Alles würde sich fügen.
Sie wusste, dass sie gut aussah und bei den Männern gut ankam. Das Gesamtpaket stimmte, wie man so sagte und ihr schon oft genug bestätigt worden war. Sie galt als intelligent und vielseitig interessiert, dabei ziemlich unkompliziert, wusste sich schick zu kleiden und achtete auf ihre Figur. Zweimal die Woche ging sie ins Fitnessstudio, wenn auch ohne allzu große Ambitionen. Sie war wirtschaftlich unabhängig, hatte eine schöne Wohnung und viele Freunde und Bekannte. Aber sie konnte auch gut allein sein und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Lesen.
Jan saß in der ersten Reihe, ganz außen, sodass Christina schräg über die Köpfe der Vorderleute hinweg einen guten Blick auf ihn hatte. Er saß ein bisschen ausgestreckt, die langen Beine nach vorne geschoben, so als wäre der Stuhl etwas zu klein oder unbequem. Seine Arme hatte er irgendwie vor dem Oberkörper zusammengelegt. Christina konnte den Blick nicht von ihm wenden. Sie registrierte die etwas zu langen Haare, die über den Jackettkragen ragten, die gut geformte Nase, den leicht gebräunten Teint. Alles, was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Christina spürte deutlich, dass sie bereit war für eine neue Liebe. Und genau dieser Mann sollte es sein.
Sie konnte kaum das Ende der Lesung abwarten. Viel bekam sie davon ohnehin nicht mit. Irgendwann war der Vortrag mehr oder weniger an ihr vorbeigerauscht, das Prosecco-Glas plötzlich leer. Pflichtgemäß applaudierte sie, dann kramte sie schnell in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift und zog sich ohne Spiegel gekonnt die Lippen nach. Sie holte sich ein frisch gefülltes Glas und versuchte, sich zu orientieren. Mittlerweile waren alle Besucher von ihren Stühlen aufgestanden und bewegten sich in Richtung des kleinen Buffets.
Christina entdeckte Jan sofort, wie er inmitten eines Pulks von Gästen stand. Immer wieder an ihrem Prosecco nippend, hatte Christina die Gruppe fast erreicht, als es passierte. Sie verschluckte sich so heftig, dass sie für einen Moment das Bewusstseins zu verlieren meinte. Das halbvolle Glas fiel ihr aus der Hand, Tränen schossen ihr aus den Augen, hustend und prustend versuchte sie, wieder zu Atem zu gelangen. Jan war sogleich bei ihr. Mit seiner linken Hand nahm er ihren Unterarm, mit der anderen zog er ein Papiertaschentuch aus seiner Jacketttasche und drückte es ihr in die Hand.
„Ganz ruhig, das ist gleich vorbei“, hörte sie ihn sagen und dachte, was für eine angenehme Stimme er hatte, während sie sich, immer noch nach Luft ringend, die Augen tupfte und zu lächeln versuchte.
„Vielen Dank auch“, brachte sie schließlich hervor und blickte ihm ins Gesicht, in seine blauen Augen.
„Das wäre ja wohl überstanden“, meinte er mit einem Nicken.
„Nochmals vielen Dank“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. „Ich heiße Christina Reichenbach.“
Er nahm ihre Hand und drückte sie fest.
„Jan Hofmeister“, sagte er und lächelte kurz, dann wandte er sich ab. Noch immer schauten einige der Gäste nach ihr. Ein älterer Herr hatte inzwischen die Scherben vom Fußboden aufgesammelt. Christina kam sich klein und lächerlich vor, nachdem ihre Strategie so gründlich fehlgeschlagen war. Sie wollte nur noch nach Hause.
In den folgenden Tagen und Wochen dachte sie viel an Jan. Zunächst hatte sie auf seinen Anruf gehofft, schließlich kannte er ja ihren Namen. Um ehrlich zu sein, sie hatte sich seinen Anruf sehnlichst gewünscht. Nach zwei Wochen wurde ihr dann allmählich klar, dass er sich nicht melden würde. Aber sie wollte ihn unbedingt wiedersehen. Noch fehlte ihr der Mut, ihn anzurufen und den ersten Schritt zu tun. Ein paarmal hatte sie bereits die ersten Zahlen eingetippt, nachdem sie seine Nummer auf der Homepage des Verlags, bei dem er als Lektor arbeitete, gegoogelt hatte, sich dann aber doch nicht getraut. Sie hatte Angst, sich zu blamieren und abgewiesen zu werden.
Dann begann sie zu überlegen, ob sie ihn vielleicht unter irgendeinem Vorwand kontaktieren und beispielsweise sagen könnte, sie plane ein Buch und benötige dafür fachmännischen Rat, fand diese Idee jedoch selbst zu abwegig. Nein, solche Spielchen und Tricksereien waren letzten Endes zu kompliziert und außerdem so gar nicht ihr Ding.
Nach langem Zögern entschied sie sich dann doch für den direkten Weg und wählte eines Nachmittags, mit Herzklopfen und leicht zitternden Fingern, seine Büronummer und wurde nach kurzem Warten vom Sekretariat weiterverbunden. Da sie nicht mehr davon ausging, dass er sich an ihren Namen erinnerte, meldete sie sich als „die Frau, die besser keinen Prosecco trinken sollte“, was ihn zu belustigen schien.
„Natürlich, ja, ich erinnere mich“, sagte er nach einem kleinen Zögern.
„Ich dachte mir, wir könnten uns vielleicht irgendwo auf ein Glas Wein treffen“, fuhr sie fort, um keine Pause entstehen zu lassen.
Aber Jan ließ sich mit der Antwort so lange Zeit, dass ihr Herz bis zum Hals zu schlagen begann.
„Das lässt sich machen“, sagte er schließlich. „Eigentlich eine nette Idee.“
Alles Weitere war schnell besprochen. Als sie mit feuchten Fingern das Telefon aus der Hand legte, spürte sie Freude und auch ein bisschen Triumph. Jetzt würde es laufen, da war sie sicher.