Читать книгу Mo Morris und der Supervirus - Benedict Dana - Страница 4
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ОглавлениеAls er seinen Wagen vor dem Tiefgaragentor eines großen Apartmenthauses in Lower Manhattan zum Stehen brachte, wies noch nichts darauf hin, welches Abenteuer ihm bald bevorstehen würde. Er gab den Code für die Tiefgarage ein, den ihm Jayden Miller per Email mitgeteilt hatte, und war nach dem Hochfahren des elektrischen Tores bloß froh, dass er endlich in das kühle Dunkel der unterirdischen Garage einfahren konnte. Die Hitze in dem alten VW war die Hölle für seinen geliebten Hund Dr. Watson, den er nur deshalb mitgenommen hatte, weil sich Mrs. Higgins am Wochenende nicht um ihn kümmern konnte. Als schließlich sein neuer Partner aus einem sich öffnenden Aufzug in die Garage trat, wurde er durch Dr. Watson so lebhaft begrüßt, dass fast seine elegante Hose zerrissen worden wäre. Im Unterschied zu Mos simpler Kleidung, die bloß aus einem T-Shirt und einer Jeans bestand, steckte der FBI-Agent in Hemd und Jackett und wirkte zusammen mit seinem modisch frisierten, lockigen Haar und seinen teuren Lederschuhen, als stünde kein wichtiger Bürotermin, sondern der Besuch in einem feinen Restaurant auf dem Programm. Die melodische Folge lauter Pieptöne, die bei der Betätigung der Fernbedienung für die Zentralverriegelung seines Wagens erklang, verriet, dass er der Besitzer eines bordeauxroten, neu aussehenden Chevrolet Camaros war, der in der hintersten Ecke der Garage parkte und mit vier angeberischen, verchromten Auspuffrohren ausgestattet war. Der teure Wagen und die Lage des Apartments mitten in Manhattan legten die Vermutung nah, dass er der Spross reicher Eltern war.
Nachdem Mo es endlich geschafft hatte, Dr. Watson dazu zu bewegen, auf die Rückbank zu springen, startete der großvolumige V8-Motor mit ohrenbetäubendem Blubbern und Dröhnen und trieb den Camaro mit quietschenden Reifen aus der Garage hinaus.
„Park Slope?“, fragte Jayden erstaunt, als Mo ihre Zieladresse in das Navigationsgerät eingab. „Ich dachte, Tim Diamond wäre groß im Geschäft und hätte irgendwo ein schickes Büro in der City.“
„Er war groß im Geschäft, das schicke Büro musste einer etwas bescheideneren Adresse in Brooklyn weichen. Als ich vor drei Jahren das letzte Mal in seinem Büro war, befand es sich noch in der Upper East Side und er hatte eine ganze Reihe Angestellte für die Kleinarbeit.“
„Erzähl mir ein bisschen mehr über ihn, was ist er für ein Kerl?“
„Wie ich schon sagte: Diamond ist ein Typ für sich…“
Mo entwich ein seltsames, fast etwas irres Lachen, wonach er gleich wieder seine Fassung zurück gewann. „Ich würde fast nicht zögern, ihn als ein Arschloch zu bezeichnen, aber das würde vielleicht etwas zu weit führen. Zumindest wäre es nicht übertrieben, ihn einen Egomanen zu nennen, dem man allerdings zugestehen muss, dass er trotz seiner penetranten Ichbezogenheit und Selbstverliebtheit große Fähigkeiten hat. Bei einem so außergewöhnlichen und extremen Charakter wie ihm ist es wichtig, zwischen der Persönlichkeit und den Fähigkeiten klar zu unterscheiden. Was paradoxerweise für ihn spricht, sind seine Verrücktheiten, in denen sich immerhin noch eine gewisse Originalität und Selbstironie erkennen lässt.
Zeitweilig hat er mal gesoffen, aber er hat auch immer wieder aufgehört. Wie es sich für einen echten Privatdetektiv gehört, war er natürlich auch ein Weiberheld, aber seit er mit der schönen Betty Cadena zusammen ist, ist das anscheinend Vergangenheit. Sie ist locker 25 Jahre jünger als er und wie man hört, hat sie ihn völlig umgekrempelt.
Den Namen Diamond verwendet er übrigens, um sein Privatleben zu schützen. Er hat das offiziell durchgekriegt, weil er manchmal mit dem Staat und der Polizei zusammenarbeitet, ähnlich wie ich. Sein echter Nachname ist nicht sehr klingend und lautet Bickelberger.“
„Wir haben es also mit einem prallen Ego zu tun, das Fähigkeiten besitzt, mit einem Super-Püppchen zusammen ist und inkognito lebt“, fasste Jayden kurz und treffend zusammen.
„Genauso ist es“, bestätigte Mo lachend. „Hoffentlich ist er vor seinem Verschwinden auf einer heißen Spur gewesen. Dann hätte er für uns bereits eine wertvolle Vorarbeit geleistet. Ich ahne mittlerweile sehr genau, dass uns die Geschichte auf die richtige Fährte führen wird. Außerdem spüre ich, dass Du und Baker mir bezüglich dieses Virus’ noch nicht die ganze Wahrheit gesagt habt. Ich möchte alles erfahren, was du darüber weißt!“
Sie bewegten sich mittlerweile auf den Brooklyn-Battery-Tunnel zu, der Manhattan an der Mündung des East Rivers in den Hudson mit Brooklyn verband. Es war für sie der schnellste Weg nach Park Slope, wo sie ein sehr entscheidendes Gespräch mit Diamonds Freundin und Mitarbeiterin Betty Cadena zu führen hatten. Wie entscheidend es sein würde, konnte sich Mos feiner Intuition noch nicht ganz erschließen, aber immerhin wusste er, dass es mit Sicherheit folgenreich war.
Jayden zögerte zunächst mit den Details herauszurücken, die bisher noch unter Geheimhaltung gefallen waren. Doch dann verriet er etwas sehr Entscheidendes:
„Wie wir bei unserem ersten Gespräch schon festgestellt hatten, gehen die Experten nicht von einem Virus im klassischen Sinn aus. Es handelt sich um eine Hybridform, in der bestimmte Schadcodes die direkte Manipulation von IP-Adressen steuern. Es sieht so aus, als würde das Netz mit Milliarden künstlich generierter IP-Adressen überschwemmt, wodurch die DNS-Server der großen Internetprovider nicht mehr in der Lage sind, Millionen Computern eine korrekte Adresse zuzuweisen. Und in der Folge kommt keine Internetverbindung zustande…“
Seine Erläuterungen klangen routiniert und fast beiläufig, aber für Mo waren sie bedeutend genug, um ihm spontan ein ungewöhnliches Bild vor Augen zu rufen. Es ließ sich nur schwer mit dem Anblick der vor ihnen fahrenden Autos und Straßenschluchten in Einklang bringen, weil es auf eine rein geistige, surreale Ebene verwies: Es war das abstrakte Bild eines riesigen Computers, der verborgen in einem Versteck in irgendeinem einsamen Erdteil stand und ständig riesige Mengen IP-Adressen ausspuckte; sie umzogen wie Wolken den gesamten Erdball und lähmten den freien Datenaustausch aller Menschen und Nationen.
Das laute Motordröhnen im Brooklyn-Battery-Tunnel unterbrach ihr Gespräch, und erst als sie die schier endlose Röhre nach 3000 Yards auf der anderen Seite wieder ausgespuckt hatte, war Mo in der Lage zu fragen:
„Hat es eigentlich vor kurzem neue Störungen gegeben?“
„Washington ist seit einiger Zeit störungsfrei, aber dafür hat es vor zwei Tagen die ersten Probleme im Großraum von New York gegeben. Anschließend ging eine Geldforderung bei der Regierung ein.“
„Und warum erfahre ich erst jetzt davon? Ich habe darüber nichts gehört oder gelesen!“
„Ich habe es selber erst heute Morgen telefonisch durch Baker erfahren“, wies Jayden den Vorwurf mit gutem Grund zurück. „Man versucht, das Problem aus dem öffentlichen Bewusstsein fernzuhalten, indem man den Medien Anweisung gibt, möglichst nicht über die Sache zu berichten. Im Pentagon und bei den Geheimdiensten kursiert inzwischen die Theorie, dass es den Erpressern möglicherweise nicht primär um das Geld geht. Es könnte sich um ein Täuschungsmanöver handeln, um von ihren wahren Absichten abzulenken und Zeit für die Perfektionierung ihrer Manipulationstechnologie zu gewinnen. Wenn es stimmt, wären alle bisherigen Störungen nur so etwas wie ein großer Feldversuch, ein gigantisches Experiment, um das Potential dieser Technologie zu testen und zu einer mächtigen Geheimwaffe weiterzuentwickeln. Es ist wie gesagt nur eine Theorie, aber kommt dir dazu vielleicht irgendeine spontane Eingebung in den Sinn?“
„Es ist noch etwas zu früh, mich nach Eingebungen zu fragen. Zunächst interessiert mich die Frage, über welche Art von Informationen Diamond verfügen könnte und ob er ganz allein an dem Fall arbeitet. Hast du darüber etwas herausfinden können?“
„Nein. Baker glaubt, dass Diamond sich vor allem für die Belohnung interessiert und er deshalb bereits an dem Fall gearbeitet hat, bevor ihn das FBI kontaktiert hat. Die unabhängige Arbeitsweise, die das FBI ihm zugestanden hat, wirkt sich jetzt als Nachteil aus. Diamond hat nämlich bisher niemandem irgendwelche Arbeitsergebnisse vorgelegt und seitdem er plötzlich verschwunden ist, lässt er tausend unbeantwortete Fragen zurück.“
„Diamonds ganzes Handeln wird sicherlich nur durch die Aussicht auf die Belohnung bestimmt. Und falls er inzwischen wirklich eine heiße Spur entdeckt haben sollte, hat er wegen der Gier nach dem Geld entweder niemandem etwas davon gesagt, oder er versucht seine Informationen teuer an Dritte zu verkaufen“, wusste Mo sich mühelos in die Motive seines alten Bekannten und Rivalen hineinzudenken. Dessen Charakter ließ für ihn keine andere Vermutung zu, als dass seine Beweggründe ausschließlich rein egoistischer und finanzieller Natur sein konnten. Dies schien sich durch eine weitere wichtige Information zu bestätigen, mit der Jayden plötzlich herausrückte.
„Diamonds besonderes Interesse an dem Fall ist kein Wunder. Der Präsident hat nämlich die Belohnung der Regierung einfach um eine hübsche Summe aus seinem Privatvermögen aufgestockt. Dadurch wird selbst die Aufklärung eines Verbrechens, das die Stabilität und Sicherheit des gesamten Landes bedroht, zu einem freien Wettbewerb. Wenn man die Belohnung des Präsidenten, der Regierung und die einiger Versicherungen zusammen nimmt, dürfte sie derzeit bei mindestens 10 Millionen liegen und könnte noch weiter steigen!“
Sie hatten mittlerweile die 7th Avenue in Brooklyn erreicht, wodurch sie ihrem Ziel bereits sehr nahe waren. Bald darauf kamen sie auf dem Hof eines großen, vierstöckigen Backsteingebäudes zum Stehen, das wie eine kleine Manufaktur oder ein ehemaliges Lagerhaus aussah. Um Dr. Watson nicht allein zurückzulassen, nahmen sie ihn an die Leine und stiegen unter seiner Führung eine rostige Eisentreppe hinauf, die Ähnlichkeit mit einer Feuertreppe besaß. Nirgendwo war ein Namens- oder Firmenschild zu entdecken und so verriet sich der Eingang in die Detektei lediglich durch eine Kamera, die im dritten Stock neben einer gepanzerten Eisentür an der Wand befestigt war. Noch bevor sie sich irgendwie bemerkbar machten, öffnete sich die Tür automatisch mit leisem Surren und ließ sie in einen großen, hellen Raum mit nackten Backsteinwänden und länglichen Eisenfenstern gelangen. Es handelte sich um einen Empfangsraum, dessen spärliche Einrichtung lediglich aus ein paar edlen, schwarzen Lederfauteuils bestand, die um einen futuristisch anmutenden Glastisch herumgruppiert waren. Ein paar moderne, teuer aussehende Grafiken, die an Nylonfäden von der Decke hingen und einen interessanten Kontrast zu den nackten Steinen der Wände eingingen, verhalfen dem Inneren von Diamonds neuer Repräsentanz zu einem Niveau, das das Äußere nicht vermuten ließ.
Als Betty Cadena durch eine Glastür aus einem Büro heraustrat und sie mit ernster Miene willkommen hieß, sah sie fast noch immer genauso aus, wie Mo sie in Erinnerung behalten hatte. Durch ihre schlanke und zierliche Gestalt, ihren hellen Teint und die reine Farbe ihrer langen, naturblonden Haare, wirkte sie wie eine makellose Schönheit und Ausnahmegestalt. Dieser Eindruck wurde nur durch eine gewisse Ernsthaftigkeit und Härte leicht eingetrübt, die sich über die Jahre in ihre zarten Gesichtszüge eingeschlichen hatte. Die kleine süße Betty, die irgendwann einmal als Sekretärin bei Diamond angefangen hatte, hatte sich inzwischen zu einer cleveren Managerin gemausert, die sich von niemandem mehr etwas vormachen ließ.
Sie war bereits über alles informiert und führte sie nach ein paar kurzen Begrüßungsfloskeln gleich in das Büro.
„Ich war sehr froh, als gestern unerwartet Ihr Anruf kam, Morton. Ich möchte sogar fast von Fügung sprechen, da Sie genau der Mann sind, denn ich jetzt brauche!“, bedachte sie Mo mit betont freundlichen Willkommensworten, während sie Jayden zunächst wenig Beachtung schenkte. Nach dem Schließen der Tür fuhr sie in vertraulich-freundlichem Ton fort:
„Tim hat mir untersagt, mich an die Polizei oder das FBI zu wenden, falls er in irgendwelche Schwierigkeiten gerät. Für ihn als Detektiv ist es Ehrensache, alle Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Aus diesem Grund war es bisher mein Plan, unsere eigenen Leute mit der Suche nach ihm zu beauftragen. Aber wenn der berühmte Inspector Mo sich aus freien Stücken an mich wendet, sage ich natürlich nicht nein! Vor allem nicht, weil Sie ihn ja persönlich sehr gut kennen!“
„Natürlich, eine persönliche Verbindung ist in solchen Fällen bestimmt vorteilhaft“, versicherte Mo, während er beim Betreten des Raumes mit einem Blick erfasste, wie sich der allgemeine Einrichtungsstil der Detektei systematisch in ihm fortsetzte: Ein gläserner Schreibtisch, eine Sitzgruppe aus modernen Ledersesseln und ein paar Grafiken vor den nackten Backsteinwänden ergaben ein klares, aber auch sehr nüchternes Bild, das lediglich durch ein großes, antik wirkendes Sideboard aus Teakholz an der rechten Wand aufgelockert wurde. Auf ihm lagen allerlei technische Geräte und verschiedenes Computerzubehör herum, und über einem Monitor hing ein ungewöhnlich großes, von einem üppigen Goldrahmen eingefasstes Foto, das Betty zusammen mit Tim Diamond bei strahlendem Sonnenschein auf dem Deck einer Segeljacht zeigte. Mo musste nur eine Sekunde lang Bettys knackige, in einem sehr knappen und verführerischen Bikini steckende Figur auf dem Foto betrachten, um sich sofort daran zu erinnern, dass er sich bei ihren früheren Begegnungen oft ein scherzhaft-ironisches Flirten mit ihr geleistet hatte. Nachdem sie auf den komfortablen Sesseln Platz genommen hatten, wurde er plötzlich vom Teufel geritten und fand Spaß daran, den unübersehbaren Ernst in ihrem Wesen herauszufordern und es dafür in Kauf zu nehmen, für einen Moment aus der Rolle zu fallen.
„Warum möchten Sie Tim überhaupt wieder finden, Betty? Er ist doch sowieso viel zu alt für Sie! Am liebsten würde ich für ihn überhaupt keinen Finger rühren, einfach hier sitzen bleiben und nichts weiter tun, als Ihnen stundenlang in Ihre entzückenden Augen zu schauen!“
Sie starrte ihn irritiert an und rang sich schließlich zu einem schwachen Lächeln durch, weil auch sie sich an ihre früheren Begegnungen erinnert hatte. Im Gegensatz zu Mo, der plötzlich nur noch Augen für die schöne Detektivin hatte, hielt Jayden seinen Blick fest auf die männliche Gestalt auf dem Foto gerichtet, die ihn sofort stark abgestoßen hatte. Der bald 65jährige Diamond besaß einen ergrauten, sich bereits deutlich lichtenden Haarkranz, und seine breite, stark behaarte Brust schmückte eine geschmacklose Goldkette mit einem hässlichen Amulett, wodurch er wie ein typischer, alternder Gigolo aussah. Sein unsensibles, grobschlächtiges Gesicht, das zur Hälfte hinter einer teuren, angeberischen Sonnenbrille verborgen war, sowie die Tatsache, dass er neben seiner superschlanken Freundin unverkennbar seinen unförmigen Bauch einzog, konnten diesen Eindruck natürlich nur verschlimmern.
„Wie Sie sich sicher vorstellen können, spielen in dieser Lage nicht nur Gefühle eine Rolle. Wenn Tim nicht innerhalb eines gewissen Zeitrahmens wieder aufgetaucht ist, kann ich hier bald alles zuschließen. Dann ist Diamond Investigations Vergangenheit und ich kann mir einen neuen Job suchen“, erklärte Betty beinahe entschuldigend, so als hätte sie Jaydens stille Abneigung gegen Diamond genau erfasst. Dieser zwang sich daraufhin, den Blick von dem Foto abzuwenden, und ging dazu über, die erste relevante Frage zu stellen.
„Ist das Mr. Diamonds Jacht auf dem Foto, Miss Cadena?“
„Ja, sie gehört ihm. Früher sind wir im Frühling und Sommer an den Wochenenden oft zusammen raus gefahren.“
„Haben Sie schon gecheckt, ob sie noch im Hafen liegt? Könnte ja gut sein, dass Ihr Boss einfach ein bisschen zu weit raus geschippert ist.“
„Ich habe schon vor 10 Tagen telefonisch bei der Hafenverwaltung angefragt. Die Jacht liegt wie immer unten in der Bannister Bay, etwa 18 Meilen von hier. Wenn Sie es für nötig halten, Mr. Miller, können Sie es ja noch einmal selber überprüfen. Ich schreibe Ihnen gern den Namen sowie die Adresse und Nummer des Liegeplatzes auf.“
„Würden Sie Tim eigentlich als einen Seebären bezeichnen? Ich meine, hatte er schon immer irgendeine besondere Beziehung zum Meer und zur Seefahrt gehabt?“, mischte sich daraufhin Mo mit einem ahnungsvollen Unterton ein.
„Was tut das zur Sache?“
„Ach nichts direkt, das Fragen ist nun einmal eine Eigenart von uns Detektiven, das müsste ihnen ja geläufig sein.“
„Natürlich, natürlich… Ja, das Meer und das Segeln ist für Tim tatsächlich schon immer wichtig gewesen“, entgegnete Betty knapp, während sie aufstand, um zu einem kleinen Holzschränkchen zu gehen, das vor einem großen, bodenlangen, nach vorne zur Strasse hinausweisenden Eisensprossenfenster stand. Sie holte eine Broschüre des betreffenden Jachthafens aus einer Schublade des Schränkchens heraus und notierte an ihrem Schreibtisch den Schiffsnamen und die Nummer des Liegeplatzes darauf. Als ihr Blick zufällig auf den mit hängenden Ohren vollkommen platt auf dem Fußboden liegenden Dr. Watson fiel, schien sich irgendetwas in ihr zu regen und sie meinte mit einer weichen Stimme:
„Ich werd’ Ihrem Hund eine Schale Wasser holen! Ist ja heute eine Affenhitze draußen, die Mensch und Tier gleichermaßen in den Wahnsinn treiben kann!“
Sie verschwand durch eine schmale Glastür in einer kleinen Teeküche und stellte wenig später eine Wasserschale vor den Hund. Mo beobachtete versonnen, wie sich Dr. Watson schlabbernd über das kühle Nass hermachte, und wechselte dann plötzlich in einen ganz anderen, sehr sachlichen Tonfall über.
„Also gut, Betty, ich denke, wir sollten uns nichts vormachen und mit offenen Karten spielen! Ihnen dürfte klar sein, dass wir uns für Tims Verschwinden vor allem deshalb interessieren, weil er sich mit den Internetmanipulationen beschäftigt hat!“
„Natürlich, mir ist vollkommen klar, dass Sie hier nicht aus reiner Sorge um ihn erschienen sind.“
„Wir sind mit einem großen Sack voller Fragen zu Ihnen gekommen. Vor allem wollen wir erst einmal wissen, wann und auf welche Weise Sie das letzte Mal Kontakt mit Tim hatten. Und dann wäre da ja noch diese spezielle Ortungstechnologie, die Sie bereits am Telefon erwähnt hatten und mit deren Hilfe Sie ihn aufspüren wollen. Erfreulicherweise haben Sie mich diesbezüglich sofort ins Vertrauen gezogen.“
„Wären Sie nicht ein uralter Bekannter von Tim, hätte ich es sicher nicht getan.
Der letzte Kontakt war vor drei Wochen per Telefon, als Tim aus einem Hotel in Washington anrief. Es war gestern genau 21 Tage her, was eine ganz bestimmte Bedeutung hat. Gemäß einer alten Abmachung zwischen ihm und mir soll ich nämlich nach exakt 21 Tagen zu speziellen Mitteln greifen, wenn ein solcher Fall wie jetzt eintritt. Ich weiß, es klingt etwas seltsam, aber es hängt mit Tims Schwäche für Numerologie zusammen. Speziell die Sieben hat große Bedeutung für ihn und er strukturiert mit ihr die verschiedensten Zusammenhänge in seinem Leben. Das ist ein regelrechter Tick von ihm. Er glaubt wohl, dass es ihm Glück und besonderen Schutz einbringt.
Jedenfalls habe ich mich an diese alte Abmachung gehalten und habe am 7. Tag, nachdem ich nichts mehr von ihm gehört habe, die ersten Erkundigungen eingezogen. Am 14. Tag habe ich dann den Kreis der Maßnahmen erheblich erweitert und am 21. Tag – der zufällig gestern gewesen ist – wollte ich eigentlich die letzte und entscheidende Stufe zünden. Ich habe damit nur gewartet, damit wir die Ortung heute gemeinsam vornehmen können.“
Betty blickte sie abwechselnd mit bedeutungsschwerer Miene an und strich nervös die Falten ihres knappen Rockes glatt. Mo musste sich dabei zwingen, den Duft ihres verführerischen Parfums zu ignorieren und seinen Blick nicht von ihrer hübschen, cremefarbenen Kostümjacke hinunter zu ihren grazilen Knien und wohlgeformten, nackten Unterschenkeln wandern zu lassen. An diesem Tag wurde es für ihn höchste Zeit zu lernen, nicht mehr nur Bettys Schönheit zu sehen, sondern auch ihre Persönlichkeit ernst zu nehmen. Er beugte sich zu ihr über den Tisch und drang mit einem besonderen Interesse auf sie ein:
„Bevor wir uns mit der Ortung beschäftigen, sollten wir noch ein paar grundsätzliche Punkte klären. Was hat Ihnen Tim bezüglich seiner Nachforschungen über die Internetstörungen alles gesagt? Hat er Sie über die Arbeitsergebnisse auf dem Laufenden gehalten?“
„Nein, hat er nicht. Er sagte nur mehrfach, er hätte sich eine heiße Spur in Washington gekauft, und wenn er die zu barer Münze machen könnte, wäre er bald fein raus. Er dachte in letzter Zeit immer öfter an den Ruhestand. Wahrscheinlich wollte er mich mit seinem Erfolg beeindrucken und erst dann alles verraten, sobald er sich seiner Sache sicher genug ist. Ich weiß im Grunde nicht mehr, als dass es eben mit den Internetstörungen zusammenhängt. Er sprach von dem Fall seines Lebens und war regelrecht besessen davon!“
„Wollte er vielleicht einfach nur einen lohnenden Handel mit Informationen betreiben und hatte gar nicht den Ehrgeiz, die Sache selber aufzuklären? Schließlich ist das Ganze eine Nummer zu groß für nur einen einzigen Mann. Arbeitete er vielleicht mit irgendwem zusammen? Hatte er in Washington Kontakte zur Polizei, zum FBI oder sogar zur CIA? Oder bei wem sonst hat er seine Spur gekauft?“
Mo schien nun endgültig den sachlichen Ton eines Inspektors anzunehmen und hatte den Sinn für Bettys schöne Beine und ihr verführerisches Parfum vorübergehend verloren.
„Im Grunde kann ich auf Mutmaßungen auch nur mit Mutmaßungen reagieren. All das ist möglich oder eben auch nicht. Was die Frage nach seinen Kontakten zur Polizei oder den Geheimdiensten betrifft, so müssten eigentlich eher Sie als ich eine Antwort darauf finden. Soweit ich weiß, hatten Sie ja Tim durch ihre Kooperation mit dem NYPD kennen gelernt. Zumindest hier in New York hatte er schon immer eine Menge Kontakte zur Polizei und zum FBI.“
„Hat Tim sein Apartment in der City behalten, nachdem das Büro nach Brooklyn umgezogen ist? Wo wohnt er im Moment? Leben Sie mit ihm zusammen? Obwohl ich glaubte, ihn gut zu kennen, weiß ich inzwischen eigentlich erschreckend wenig über ihn!“
„Wie wir vorhin schon festgestellt haben, hat Tim eine besondere Beziehung zum Meer und aus genau dem Grund hat er sich vor zwei Jahren einen alten Traum erfüllt und sich für den Erlös seines Apartments ein Haus in Long Beach gekauft. Ich meine natürlich das Long Beach auf Long Beach Barrier Island und nicht das in Kalifornien. Ich bin nur manchmal an den Wochenenden bei ihm. Er ist sehr auf sich selbst bezogen, wissen Sie… er hält es nicht aus, ständig jemanden um sich herum zu haben. Sie sollten übrigens nicht denken, dass ich deswegen traurig bin…“
„Aber nein, Betty, das denke ich nicht. Vor allem möchte ich das ja auch gar nicht!“, verlor Mo vorübergehend seinen Ernst, um für einen Moment wieder an das ironische Flirten anzuknüpfen. „Wann waren Sie das letzte Mal in Tims Haus? Haben Sie dort irgendwelche Auffälligkeiten bemerkt? Spuren einer Durchsuchung oder sonst etwas?“, drang er dann weiter auf sie ein.
„Ich war erst gestern dort und konnte bisher nichts Auffälliges entdecken.“
„Und was ist mit seinen Emails und SMS? Kommen Sie in sein Postfach rein? Liegt vielleicht irgendwo ein zweites Handy herum?“
„Nein, sicher nicht. Tim ist in Sicherheitsfragen von Berufs wegen sehr genau und gründlich. Er lässt nicht einfach so Telefone irgendwo herumliegen oder schreibt das Passwort für sein Postfach auf den Memoblock, der in der Küche am Kühlschrank hängt. Er hat einige sehr ausgeklügelte Geheimhaltungsstrategien entwickelt, weil er durch seinen Job immer mit einer gewissen Paranoia zu kämpfen hat.“
„Dann hat er also auch Sie nicht in seine Geheimnisse eingeweiht?“
„Mir hat er prinzipiell immer nur das Nötigste mitgeteilt, das ich für meine Arbeit wissen muss. Auch von den wenigen Mitarbeitern, die uns hier in Brooklyn geblieben sind, weiß niemand über seine derzeitigen Aktivitäten Bescheid.
Er hat einen ausgeprägten Hang zu Misstrauen und Geheimnistuerei. Das Ortungssystem, das im Fall seines Verschwindens aktiviert werden soll, spiegelt dies sehr deutlich wider. Er hat die entsprechende Software vom FBI bekommen und den Zugang und die verschiedenen Funktionen durch ein verschachteltes Passwortsystem geschützt. Um Missbrauch zu verhindern, kann man genau nachverfolgen, wann, wie oft und von wem eine Ortung gestartet worden ist. Ich glaube, er wollte damit vor allem verhindern, dass ich ihm nachspioniere. Wer weiß, vielleicht hat es mit irgendwelchen Weibergeschichten zu tun…“
Als Mo bei dem Stichwort „Weibergeschichten“ gerade zu irgendeiner Bemerkung ansetzen wollte, schien sie dies mit einem viel sagenden Lächeln genau vorherzusehen und wehrte mit einer schnellen Handbewegung ab:
„Sparen Sie sich Ihre Kommentare, Morton. Sie sind doch ein intelligenter Mann und müssen nicht immer in die gleiche Kerbe hauen. Je mehr Sie das tun, umso eher werden Ihre Chancen bei mir sinken, als steigen.“
Die feine Ironie, mit der sie dies vorbrachte, zeigte nicht nur, wie abgebrüht die „kleine Betty“ über die Jahre geworden war, sondern brachte sie auch alle drei gemeinsam zum Lachen. Mo fühlte sich für einen Augenblick unterlegen und lenkte daher schnell wieder auf das eigentliche Thema zurück.
„Schön, dann sollten wir jetzt vielleicht endlich mal diese Software starten. Wenn ich alles recht verstanden habe, muss das möglichst noch heute geschehen, weil die Ortung nach drei Wochen erfolgen soll. Ich verstehe das zwar nicht, aber bitte, Tims irrationaler Hang zur Numerologie verlangt es nun einmal so.“
„So ist es. Es geht dabei etwas weniger um die Numerologie als um die Regel, dass die Ortung zur Wahrung von Tims Privatsphäre nicht zu früh gestartet werden soll. Es wird alles genau im System festgehalten und Tim wird später genau nachprüfen können, ob alles wie geplant abgelaufen ist. Ich habe bereits vor einer Woche, also am 14. Tag, eine Suche nach seinem Wagen gestartet, so wie es vorgesehen ist. Er ist in derselben Straße geparkt, in der sich das Hotel in Washington befindet, aus dem er mich zuletzt angerufen hat. Es handelt sich um einen schwarzen Range Rover, dessen Nummer ich ihnen noch aufschreiben werde. Ich habe bisher noch keine Maßnahmen getroffen, ihn untersuchen oder an einen anderen Ort bringen zu lassen.“
Betty erhob sich und forderte ihre beiden Besucher mit einem Handzeichen auf, ihr an den Computer zu folgen. Sie bauten sich rechts und links von ihr an dem Schreibtisch vor dem Bildschirm auf und Sie begann zu erklären:
„Sie sollten sich ansehen, was ich hier tue. Auf diese Weise werden Sie Tim später bestätigen können, dass alles ordnungsgemäß abgelaufen ist. Am Samstag vor drei Wochen habe ich die Software mit einem Masterpasswort gestartet. Bei der Gelegenheit wurde ein zweites Passwort generiert, das nach genau sieben Tagen gültig wurde. In derselben Art habe ich jede Woche ein neues Passwort erhalten, so dass ich heute das vierte und letzte eingebe.“
„Ich nehme an, die Ortung erfolgt per Chip und GPS-Signal?“, vermutete Jayden und beobachtete, wie sie ein kompliziertes Passwort aus Zahlen und Buchstaben von einem Zettel ablas und in den Computer eingab.
„Richtig, es ist sehr simpel, es funktioniert im Grunde nicht anders als ein x-beliebiges Navigationsgerät. All unsere Mitarbeiter werden mit mehreren Chips ausgestattet. Tim und ich tragen zusätzlich noch einen Chip unter der Haut direkt am Körper.“
Sie klickte die Schaltfläche „Ortung starten“ an, woraufhin ein leerer, weißer Balken erschien, der den Fortschritt des Ortungsprozesses in blauer Farbe anzeigte. Derweil erläuterte sie:
„Ein Chip ist im Wagen, ein weiterer in der Armbanduhr, der dritte in der Kleidung und der vierte direkt am Körper. Es macht Sinn das Signal von allen Chips abzurufen, weil die Ortung dadurch natürlich viel exakter wird. Falls sie sich an verschiedenen Orten befinden sollten, lässt das einige Schlüsse zu. Im Moment orte ich die Armbanduhr.“
Nach einer Weile hatte sich der Balken endgültig gefüllt und direkt darauf wurde in fetter schwarzer Schrift ein Längen- und Breitengrad angezeigt. Wenig später tat sich eine Satellitenansicht der Erde auf. Nachdem Betty die Vergrößerungsfunktion betätigt hatte, waren die Umrisse einer kleinen, karabinerhakenförmigen Inselgruppe mitten im Ozean zu erkennen, die sich schließlich als die Bermudasinseln entpuppten. Obwohl die Bermudas auf der Höhe Georgias rund 800 Meilen östlich der nordamerikanischen Küste völlig einsam im Atlantik lagen, schien die schöne Detektivin das Ergebnis der Ortung nicht sonderlich zu erstaunen. Sie betätigte den Zoom erneut, wodurch ein Straßenname in der Hauptstadt Hamilton auf der Hauptinsel Grand Bermuda sichtbar wurde.
„Der exakte Ortungspunkt wird sich womöglich als ein Hotel in Hamilton erweisen, in dessen Restaurant Tim gerade gemütlich beim Mittagessen sitzt. Es würde mich nicht wunden, wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass er da draußen bloß Urlaub mit irgendeinem leichten Mädchen macht!“
„Es läge nah, anlässlich dieser Bemerkung einen Witz zu reißen, aber ich werde es mir verkneifen. Sie sagten ja, ich sollte nicht immer in dieselbe Kerbe hauen“, feixte Mo und strengte sich sichtlich an, seine Zunge in Zaum zu halten. Betty hörte kaum hin, da sie voller Spannung darauf konzentriert war, die Ortung des nächsten Chips zu starten.
Als nach einer schier endlos scheinenden Minute ein neuer Längen- und Breitengrad angezeigt wurde und die Satellitenansicht mit einem Ruck von den Bermudasinseln abschwenkte und in süd-süd-westlicher Richtung von ihnen einen neuen Punkt mitten im Ozean ins Visier nahm, war der Raum von einer angespannten Stille erfüllt. Betty zoomte den Punkt immer weiter heran, aber weil sich trotz ihrer verzweifelten Suche nirgendwo ein Stück Land zeigen wollte, rief sie nervös aus:
„Entweder befindet er sich auf einem Schiff, auf irgendeiner winzigen, unverzeichneten Insel oder auf einer Ölbohrplattform oder so etwas!“
„Sieht fast so aus, als wäre der gute, alte Tim im Bermudadreieck verschollen…“, murmelte Mo bedeutungsschwer und stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne aus.
Tatsächlich befanden sich die angezeigten Koordinaten genau in dem bekannten Seegebiet, das in dem Dreieck zwischen Bermuda, Puerto Rico und dem südlichen Zipfel Floridas lag und in dem überdurchschnittlich häufig Flugzeuge und Schiffe verunglückten oder verschwanden. Dabei sah es auf den ersten Blick nicht so aus, als ob der betreffende Punkt viel mehr als 50 bis 100 Meilen von den Bermudas entfernt war.
„Bevor wir uns vorschnellen Vermutungen hingeben, werde ich jetzt den letzten Chip anpeilen. Es würde mich nicht wundern, wenn dadurch nochmals alles in einem anderen Licht erscheint“, kündigte Betty an und startete die Ortung des Chips, den Tim direkt unter der Haut an seinem Körper trug. Sie beobachteten abermals voller Spannung, wie die Satellitenansicht wieder einen Schwenk machte und dieses Mal einen Punkt anzeigte, der etwa 100 Meilen nördlich von Bermuda im Ozean lag.
„Sie können bei dieser Gelegenheit beweisen, ob Sie wirklich die Gabe der höheren Ahnung haben, Morton. Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten? Vielleicht muss es ja gar nichts Schlimmes sein, was meinen Sie?“
Mo beugte sich zu ihr hin und nahm ihr die Computermaus aus der Hand. Obwohl man nicht mehr als eine einzige blaue Fläche sah, zoomte er den Punkt noch weiter heran. Als dadurch weitere Dezimalstellen hinter den Kommata der Längen- und Breitengrade sichtbar wurden, stellte er wie erwartet fest, dass diese sich langsam veränderten.
„Man braucht zum Glück noch nicht gleich die Gabe der höheren Ahnung anzustrengen, um ein paar einfache Vermutungen anzustellen. Es liegt nahe, dass Tim nach Washington fuhr, um sich weitere Informationen vor Ort zu besorgen. Wahrscheinlich verfügte er über Kontakte zu FBI- und CIA-Agenten oder zu sonstigen Informanten. Danach flog er aus einem Grund, der mit den neuen Informationen zusammenhing, nach Bermuda. Entweder vergaß er dort seine Armbanduhr im Hotel oder er ließ sie absichtlich liegen. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt bereits die Gefahr und legte vorsorglich eine Spur für Sie, Betty.
Da die Koordinaten seines Körperchips sich langsam verändern und damit eine Bewegung anzeigen, wird er sich auf einem Schiff befinden. Dies lässt mehrere Schlüsse zu. Wahrscheinlich hatte er ein ganz bestimmtes Ziel und stach von Bermuda aus mit einem Boot in See. Unterwegs verlor er aus irgendeinem Grund das Kleidungsstück mit dem Chip oder warf es absichtlich ins Meer. In diesem Fall könnte er sich noch immer auf dem ursprünglichen Boot befinden und sich inzwischen in nördlicher Richtung fortbewegen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er unterwegs Schiffbruch erlitt, sich des Kleidungsstückes mit dem Chip notgedrungen im Meer entledigte und später von einem anderen Schiff gerettet wurde.
Ich selber würde allerdings folgende Variante favorisieren: Tims Ziel war ein anderes Schiff. Als er es erreichte, enterte er es heimlich und ließ den Chip auf seinem eigenen Boot zurück, um eine Spur für Sie zu legen, Betty - genau wie schon mit der Armbanduhr!“
„Das klingt alles recht einleuchtend. Allerdings muss es sich ja nicht unbedingt um ein Schiff handeln, sondern es könnte auch ein Flugzeug oder Hubschrauber sein“, wandte Jayden ein. „Können Sie die Veränderung der Koordinaten in Geschwindigkeit umrechnen, Betty? Das müsste doch sicher möglich sein!“
Bettys Antwort bestand darin, sich sofort auf die Suche nach der entsprechenden Software zu machen und sie zu starten.
„Leider können wir nicht ausschließen, dass Tim längst tot ist. Vielleicht hat er tatsächlich Schiffbruch erlitten und seine Leiche wurde von einem Schiff geborgen, das jetzt auf dem Weg nach Kanada ist. Das könnte jedenfalls eine Erklärung dafür sein, warum ein Kleidungsstück von ihm im Atlantik treibt“, brachte Jayden einen Gedanken zur Sprache, der bei Betty sofort auf heftigen Widerstand stieß.
„Ein Schiffsunglück mit einem Toten wäre längst gemeldet worden. Man hätte ihn inzwischen sicher identifiziert und uns informiert! Der Körperchip verfügt übrigens über eine zusätzliche Funktion, durch die sich die Frage von Leben oder Tod mit ziemlicher Sicherheit beantworten lässt. Er kann nämlich die Körpertemperatur messen und übermitteln!“
Als sie den entsprechenden Vorgang bereits starten wollte, bemerkte sie, dass inzwischen der Wert für die Geschwindigkeit angezeigt wurde, und rief voller Freude aus:
„Tim bewegt sich zurzeit mit etwa 18 Meilen fort! Das müssten so um die 16 Knoten sein! Wenn es nicht gerade ein U-Boot ist, kann es eigentlich nur ein ganz stinknormales Schiff sein!“
„Es müsste schon ein größerer Dampfer oder Frachter sein, ansonsten könnte es sich bei dieser Position auf hoher See und bei dieser hohen Geschwindigkeit nur um eine schnelle Hochseeyacht, einen Fischtrawler oder so etwas in der Art handeln“, mutmaßte Mo und ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er ausgerechnet mit der Vermutung richtig liegen sollte, die er für die Unwahrscheinlichste hielt.
„Wir sollten es nicht länger aufschieben, Betty. Überprüfen Sie, ob Tim lebt, dann werden wir wenigstens in der wichtigsten Frage Gewissheit haben!“
Seine Aufforderung war unnötig, da Betty längst den Mauszeiger auf der entsprechenden Schaltfläche in Stellung gebracht hatte und sie nur noch anzuklicken brauchte. Im Unterschied zu der Ermittlung der Geschwindigkeit dauerte die der Temperatur nur wenige Sekunden. Als sie voller Spannung die Hand von ihren Augen wegzog und den Wert 100 Grad Fahrenheit ablas - was etwa 38 Grad Celsius entsprach - stieß sie einen tiefen, erleichterten Seufzer aus. Diamond schien lediglich leichtes Fieber zu haben, aber nicht tot zu sein. Mo zeigte sich von dem Ergebnis nicht sonderlich bewegt und zog mit detektivischer Nüchternheit eine wichtige Schlussfolgerung:
„Wenn Tim lebt und sich an Bord eines Schiffes befindet, stellt sich die Frage, warum er sich nicht bei Ihnen meldet. Wahrscheinlich ist er schon länger auf diesem Schiff unterwegs, denn sicherlich hätte er Sie angerufen, wenn er sich noch bis vor wenigen Tagen auf Bermuda aufgehalten hätte. Er wusste ja über die Drei-Wochen-Frist bis zu seiner Ortung Bescheid. Wenn er nicht gerade mit einem kleineren Boot alleine unterwegs ist und sein Telefon aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, spricht leider einiges dafür, dass ihm auf einem anderen, wahrscheinlich erheblich größeren Schiff die Besatzung nicht besonders zugetan ist. Oder anders ausgedrückt: Tim mag zwar freiwillig an Bord eines solchen Schiffes gegangen sein, aber möglicherweise hält er sich dort inzwischen nicht mehr aus freien Stücken auf.“
Betty hörte diese Vermutungen überhaupt nicht gerne und erhob sich vom Schreibtisch, um nervös vor dem großen, zur 7th Avenue hinausweisenden Fenster auf und ab zu gehen.
„Vor allem stellt sich natürlich die Frage, in welcher Beziehung dieses ominöse Schiff zu den Internetstörungen an der Ostküste steht“, gab sie dabei zu bedenken. Nachdem sie irgendwann stehen geblieben war und eine Weile beobachtet hatte, wie in einem Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Menschen ein und aus gingen, erklärte sie in einem etwas seltsamen, keinen Widerspruch zulassenden Ton, in dem unterschwellig etwas Befehlsartiges durchklang:
„Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie beide gerade jetzt den Weg hierher gefunden haben, um mir in dieser schwierigen Lage zur Seite zu stehen. Es wird sicher nicht ganz einfach sein, sich Klarheit über Tims derzeitige Verfassung zu verschaffen und ihn gegebenenfalls aus einer misslichen Lage zu befreien.
Haben Sie schon irgendeine Idee, wie Sie vorgehen wollen? Die Zeit rennt. Es wäre sicher gut, wenn Sie sich sobald wie möglich auf den Weg machen würden! Falls sich dieses Schiff noch weiter von der Küste fortbewegt, wird es für uns ohne fremde Hilfe irgendwann nicht mehr erreichbar sein!“
„Auf den Weg machen?“, wiederholte Mo mit blankem Erstaunen und tauschte bedeutungsvolle Blicke mit Jayden aus. „Wissen Sie, wir hätten nicht unbedingt damit gerechnet, mit unserer Suche auf hoher See beginnen zu müssen. Ich wüsste gar nicht, wie wir zu diesem Schiff gelangen sollten… Überhaupt fehlt uns die Ausrüstung und Erfahrung für eine solche Operation.“
„Sie klangen noch erheblich entschlossener, als ich mit Ihnen telefoniert habe, Morton. Wollen Sie jetzt etwa kneifen? Vielleicht sollten Sie sich Tim zum Vorbild nehmen! Er hatte offenbar nichts Geringeres vor, als die große Belohnung abzuräumen und nebenbei unser Land vor einer folgenreichen Internetsabotage zu bewahren, die unter Umständen eine große politische und ökonomische Krise heraufbeschwören wird!“
Betty war drauf und dran die Worte hinzuzusetzen, „so muss ein ganzer Kerl denken und handeln und Sie tun jetzt plötzlich so ängstlich und klein?“, verzichtete aber wohlweißlich darauf, um Mo nicht zu verärgern. Das, was sie gesagt hatte, genügte sowieso längst, um ihn aus der Reserve zu locken und bei seiner Ehre zu packen. Sie hatte ihn geschickt mit den Waffen einer Frau eingefangen, und er hatte jetzt fast keine andere Wahl mehr, als sich vor ihr als wagemutiger Held zu zeigen und die Flucht nach vorne zu wagen.
„Würde Tim es überhaupt wollen, dass Sie seine Rettung selber organisieren? Schließlich hat er offiziell mit dem FBI kooperiert“, fiel ihm zunächst noch ein weiterer, nicht ganz unbegründeter Einwand ein.
„FBI? Na, das haben wird doch hier!“, rief Betty und wies grinsend auf Jayden, der sich unter ihrem herausfordernden Blick und ihrem spitzen Zeigefinger sichtlich unwohl fühlte. „Überlegen Sie doch einmal, Morton! Erstens ist das FBI außerhalb unserer Hoheitsgewässer gar nicht mehr zuständig. Und zweitens wäre es ganz sicher nicht in Tims Sinn, wenn wir die Navy, die Luftwaffe, die CIA und sonst wen auf dieses Schiff loshetzen, was bei nur einem Wort gegenüber den Behörden sicher bald geschehen würde. Das würde sein Leben eher gefährden als retten und außerdem wäre es dann mit der großen Belohnung vorbei. Meiner Meinung nach sollte man den Ehrgeiz haben, das erfolgreich zu Ende zu bringen, was Tim angefangen hat – und zwar selbstständig, auf unsere eigene Weise! Ich kann Ihnen versichern, Tim hat seinen eigenen Stolz und hätte es ganz genauso gewollt!“
Die Wandlung, die Betty nach diesen Worten vor Mos geistigem Auge durchlief, war die von einer jungen und extrem hübschen, aber etwas naiven und unerfahrenen Sekretärin zu einer cleveren und fleißigen Büromanagerin und schließlich – nach all den Jahren unter Tims Einfluss - zu einer gewieften Detektivin und mit allen Wassern gewaschenen Draufgängerin. Die Hauptfrage, die sich ihm vor dem Hintergrund dieser Wandlung aufdrängte, war, ob ihre Nase – wie leider bei so vielen Menschen auf der Welt – womöglich sehr sensibel auf den Geruch des Geldes eingestellt war. In dem Fall hätte sie eventuell mehr Interesse an der Vermehrung von Diamonds Reichtum durch die Belohnung als an dessen Rettung. Da der Gedanke, sie könnte ernsthaft etwas an einem Kerl wie ihm finden, fast noch unangenehmer als der Verdacht der Geldgier war, wäre Mo die Bejahung dieser Frage gar nicht einmal besonders unangenehm gewesen.
„Ich denke, wir sollten unsere zukünftige Zusammenarbeit bei einem Lunch in dem Restaurant gegenüber besiegeln. Außerdem haben wir ja etwas zu feiern. Wir haben Tim entdeckt! Ich lade Sie ein und wir können dann alles Weitere in Ruhe besprechen“, schlug Betty so entschieden vor, dass Mo und Jayden nichts einwenden konnten.
Als sie alle gemeinsam - einschließlich Dr. Watson - das Büro verließen, gab Mo zu bedenken:
„Wir sollten uns gut überlegen, inwieweit wir es verantworten können, dem Staat grundlegende Informationen vorzuenthalten. Sie müssen zugeben, Betty, dass Tims Verschwinden und sein Aufenthalt auf diesem Schiff eine äußerst heiße Spur darstellt!“
„Ich wusste, Sie würden so etwas sagen und auf einmal wieder unter die schützende Hand des Staates schlüpfen wollen. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass das Einschalten der Behörden unter Umständen eine Gefährdung von Tims Leben darstellt. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob sein Verschwinden tatsächlich in irgendeinem direkten Zusammenhang mit den Internetstörungen steht. Diamond Investigations hat einen gewissen Ruf zu verteidigen und mit einer vorschnellen, auf vagen Fakten beruhenden Meldung könnte man sich auch lächerlich machen. Tim hat schon immer großen Wert auf selbstständige Arbeit gelegt, womit sowohl das potentielle Risiko als auch der potentielle Gewinn grundsätzlich bei ihm selber liegt“, schlug Betty die Bedenken vehement in den Wind, während sie nach draußen traten und über die Eisentreppe in den Hinterhof hinuntergingen. Als sie den Hof verließen und durch eine überwölbte Tordurchfahrt auf die Straße gelangten, fiel Mo eine am Straßenrand parkende, unauffällige Limousine ins Auge, an deren Steuer eine Gestalt mit Sonnenbrille saß und die Kamera eines Smartphones auf sie richtete. Er war so in Gedanken, dass er dem Anblick fast keine weitere Beachtung geschenkt hätte, wenn nicht plötzlich Dr. Watson laut gebellt und ihn an der Leine zu dem Wagen hingezogen hätte. Der innere Spürhund hatte in dem jungen Cockerspaniel gnadenlos angeschlagen und schien seinen lieben und treuen Charakter innerhalb weniger Sekunden in ein vollkommen anderes, hochgefährliches Wesen zu verwandeln. Er sprang solange zähnefletschend unter fürchterlichem Gebell an der Beifahrertür der schwarzen Limousine hoch, bis der Mann am Steuer sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als nervös den Motor anzuwerfen und mit quietschenden Reifen die Flucht zu ergreifen.
„Da haben Sie es, das alles sehende Auge der Geheimdienste hat uns bereits ins Visier genommen. Die Schlinge zieht sich schon zu, wenn man nur den ersten Schritt auf die Straße tut. Ich hoffe, Sie werden von nun an meine Bedenken nicht immer gleich in den Wind schlagen!“, wandte sich Mo nach dem Vorfall vorwurfsvoll an Betty.
Sie hatte es vor den beiden Männern gut zu verbergen gewusst, dass sie sich einen Augenblick lang mit einem Hauch von Paranoia überall ängstlich umgesehen hatte, als könnten sich plötzlich in jedem vorbeifahrenden Wagen und hinter jeder Hausecke Agenten verbergen. Für sie hatte es mit Berufsehre zu tun, sich nicht gleich von jedem kleinen unerwarteten Ereignis aus der Fassung bringen zu lassen und wenigstens so zu tun, als ob man jederzeit Herr – oder eben Frau – der Lage wäre.
„Wer sagt Ihnen denn, der Kerl könnte nur im Auftrag des Staates spionieren? Das kann genauso gut irgendein ganz anderer Vogel sein! Wir sollten uns davon nicht zu sehr beeindrucken lassen und endlich zu dem verfluchten Restaurant hinübergehen. Alles Weitere werden wir dann beim Essen besprechen.“
Als Mo sich daraufhin am Ellenbogen gepackt fühlte und von ihr voller Ungeduld auf die andere Straßenseite hinüber gezogen wurde, wusste er instinktiv, dass spätestens von nun an alles genauso laufen würde, wie die schöne und resolute Betty es wollte…