Читать книгу Mo Morris und der Supervirus - Benedict Dana - Страница 5

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Wenige Tage später war das Geheimunternehmen, das Betty „Operation Bermuda“ getauft hatte, bereits minutiös geplant. Die selbstbewusste und dominante Detektivin hatte sich kurzerhand zu ihrer Anführerin gemacht und ihnen von Anfang an mit geschickter weiblicher Psychologie das Gefühl zu vermitteln versucht, sie wären durch das Schicksal in die bevorzugte Lage geraten, unter ihrer Führung all die Erfahrungen zu sammeln, die sonst nur speziell ausgebildeten Agenten, ungewöhnlich fähigen und mutigen Detektiven oder schlicht und einfach ganzen Kerlen vorbehalten waren. Obwohl Mo ein guter Psychologe war, versagte seine Fähigkeit zu nüchterner Analyse in diesem Fall total, da sein Ego einfach nicht wahrhaben wollte, eine so junge Frau wie Betty könnte zwei erfahrene Männer einfach so um den Finger wickeln und zu einem waghalsigen Abenteuer bewegen.

In Wahrheit hatte jedoch alles, was Mo und Jayden seit dem Treffen mit der schönen Detektivin taten, direkt oder indirekt nur noch mit ihrem Willen zu tun. Selbst als sie spät Abends mit Jaydens schnellem Chevrolet den Nassau Expressway in Richtung Atlantic Beach hinunterbrausten, schien Bettys Ungeduld das Tempo der rasanten Fahrt auf geheime Weise mitzubestimmen.

Sie rasten mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Atlantic Beach Bridge auf das Long Beach Barrier Island hinüber und hatten bald die bekannte Park Avenue in Long Beach erreicht. Sie befuhren einen der zahlreichen, in regelmäßigen Abständen von Süden nach Norden verlaufenden Boulevards und bogen schließlich in eine der kleineren Straßen ein, die den Ort von Westen nach Osten durchzogen und ihn so in gleichförmige, rechteckige Raster einteilten. Sie erreichten eine hübsche Wohngegend, in der die Häuser in großzügigen Abständen inmitten gepflegter Gärten standen, und hielten vor einer Villa, die so aussah, als hätte ihr Besitzer für ihre Abzahlung größere Raten zu bedienen. Tim Diamonds rotes, verwinkeltes Backsteinhaus hatte etwas von dem Charakter eines englischen Landhauses an sich, da es in einem klassisch-zeitlosen Stil gehalten war und im Obergeschoß zwei großzügige, mit behaglichen Holzsprossenfenstern ausgestattete Erker besaß.

Da ihre neue „Chefin“ ihnen die Anweisung gegeben hatte, den auffälligen Chevrolet in der Garage zu parken, fuhr Jayden ihn die gepflasterte Einfahrt zu einer großen, in einem separaten Backsteingebäude untergebrachten Doppelgarage hinauf. Kaum hatten sie in der Garage gehalten, sahen sie Betty bereits durch den Garten zu ihnen eilen. Nachdem sie vor zwei Tagen in Mos Haus in Rutherford die Details der „Operation Bermuda“ genau besprochen hatten, war ihr Umgangston um einiges zwangloser geworden, so dass sie ihnen zur Begrüßung bloß ein lockeres „da seid ihr ja Jungs!“ zurief. Sie setzte ein strahlendes, jedoch etwas künstlich wirkendes Lächeln auf und informierte sie voller Ungeduld:

„Michael ist schon da. Am besten nehmt ihr sofort eure Sachen aus dem Wagen. Ich hoffe, ihr habt wie besprochen ausreichend Ausrüstung dabei. Wer weiß, wie lange ihr unterwegs sein werdet!“

Die Identität von „Michael“ hatte bereits einige Fragen in ihnen aufgeworfen und diese Fragen hatten bisher nur zu sehr wenigen und vagen Antworten geführt. Mo wusste lediglich, dass Michael King einer der wenigen Mitarbeiter von „Diamond Investigations“ war, die Tim Diamond in seinem neuen Büro in Brooklyn noch geblieben waren. Obwohl Betty behauptet hatte, King wäre einer der „Besten“ und sie läge für ihn die Hand ins Feuer, hatte sich in Mo von Anfang an ein zwiespältiges Gefühl entwickelt. Angesichts der Tatsache, dass sie Kings Gesellschaft schon sehr bald für längere Zeit ausweglos ausgeliefert sein würden, wussten sie einfach zu wenig über ihn.

Die betonte Freundlichkeit, die Betty ihnen gegenüber auflegte, konnte einen unterschwelligen Befehlston nicht ganz verhehlen. Sie fuchtelte so ungeduldig mit der Fernbedienung für das automatische Garagentor in der Luft herum, dass sie sich beeilten, unter ihren kontrollierenden Blicken das Gepäck aus dem Wagen zu holen. Sie folgten ihr zu einem unauffälligen, hinter der Garage parkenden Kombi und begannen ihre Sachen in den Kofferraum zu laden. Dabei sprachen sie nicht viel, da sie genau spürten, dass die Zeit für unnötiges Geplänkel endgültig abgelaufen war und von nun an eine präzise und knappe Sprache gefordert war. Als plötzlich ein großer, schwarz gekleideter Mann lautlos wie eine Katze aus der Dunkelheit zu ihnen trat und zwei riesige, schwere Taschen voller Ausrüstung mit sich trug, schien sich genau dieses Prinzip einer sparsam artikulierten Sprache passend in seinem kantigen, militärisch wirkenden Gesicht auszudrücken. Tatsächlich gab Michael King zur Begrüßung nicht mehr als genau zehn Worte von sich:

„Nennt mich einfach Mickey. Von mir aus kann es losgehen, Jungs.“

Beim Verstauen seines Gepäcks schenkte er ihnen noch zwei kurze Blicke, doch dann schien er sich schon nicht mehr besonders für sie zu interessieren. Er zwängte sofort seine athletische Gestalt hinter das Steuer, wobei er sich wegen seiner hünenhaften Größe seinen kurz rasierten Schädel an der Dachkante anstieß. Die vielen Falten in seinem schnurrbärtigen Gesicht verrieten, dass er bestimmt schon weit über 50 Jahre alt war; trotzdem wirkte alles an ihm, als wäre er von Innen her mit einer besonderen, sehr exakt und pointiert wirkenden Kraft beseelt.

Nachdem Mo und Jayden auf dem Rücksitz Platz genommen hatten, teilten sie für einen Moment das unangenehme Gefühl, von nun an keinen Ausweg mehr zu haben und wie eine Maus in der Falle zu sitzen. Sie nahmen den bedrohlich wirkenden Hünen im ersten Moment nicht als einen unerlässlichen Partner in ihrem Team, sondern als einen ungewollten Aufpasser wahr, der dafür zu sorgen hatte, dass die Operation genau nach Bettys Vorstellungen ablief und nicht vor dem Erreichen des Zieles vorzeitig abgebrochen wurde.

Mickey fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und verbreitete durch sein einsilbiges Wesen solange eisernes Schweigen um sich, bis Betty beim Abbiegen auf die Park Avenue erklärte:

„Mickey ist unser bester Mann, ein echter Profi, dem niemand etwas vormachen kann. Ihr werdet euch daran gewöhnen müssten, dass er meistens nicht viele Worte macht. Alles Weitere werdet ihr nachher unter euch besprechen. Ich werde versuchen, mich nicht weiter einzumischen, aber ich werde natürlich mit euch in Verbindung bleiben. Ich wäre wirklich gerne selber mitgekommen, aber ich muss wie gesagt in der Detektei die Stellung halten.“

„Mickey ist dein bester Mann, aber er ist auch dein einziger Mann, stimmt doch Betty, nicht wahr?“, wagte Mo einen ersten, kleinen Scherz zu reißen, damit die militärisch wirkende Autorität, die ihr neuer „Kollege“ ausstrahlte, nicht schon zu Anfang die Oberhand gewann und noch genügend Raum für ein wenig Humor übrig ließ. Bevor Betty darauf etwas entgegnen konnte, wandte sich Mickey einmal kurz mit strafendem Blick zu ihm um und meinte bloß trocken:

„Spaßvogel, wie? Na ja, wir werden uns schon verstehen!“

Die grimmige Gutmütigkeit, die er dabei mit unverkennbarer Ironie durchblicken ließ, reizte Mo und Jayden zum Lachen, und sie ahnten in diesem Moment bereits sehr genau, dass sie mit diesem Typen noch ihren Spaß haben würden.

Der Wagen lief unter seiner Führung so exakt wie auf Schienen, und während sie die Atlantic Beach Bridge überquerten, fragte er plötzlich so kurz und schneidig wie ein Soldat:

„Wie sieht’s mit Waffen aus, Leute?“

Da nur Jayden eine Pistole vorweisen konnte, erhielt Mo sofort die großzügig klingende Zusicherung:

„Macht nichts, hab’ genug für alle dabei. Du kriegst ne richtige Knarre von mir. Hoffe, dass du damit umgehen kannst!“

Sie bekamen eine Weile Zeit, sich von dieser vollmundigen Ansage zu erholen, da die nächste Frage erst folgte, nachdem sie eine Meile gefahren und abermals abgebogen waren.

„Irgendwelche Erfahrungen in Tauchen, Klettern oder Nahkampf?“

Jayden kam wieder am besten davon, da er auf seine FBI-Ausbildung verweisen konnte. Immerhin konnte Mo dieses Mal mit seinen Judofähigkeiten punkten, die er in seinem früheren Leben als Polizist erworben hatte. Trotzdem hatte er schon jetzt genug davon, sich von diesem Kerl wie ein kleiner Schuljunge ausfragen zu lassen; als er schon zu einer nicht besonders freundlichen Gegenfrage ansetzen wollte, kam ihm Betty zuvor und erklärte beschwichtigend:

„Ihr müsst euch nichts draus machen, Jungs. Mickey war früher bei der Armee. Ich denke, weitere Erklärungen dürften sich damit erübrigen. Ihr müsst ihm nur vertrauen und dürft ihn nicht zu sehr reizen, dann wird er verlässlich wie eine gut geölte Maschine für euch arbeiten. Sein Öl heißt übrigens von Zeit zu Zeit Whisky, weil er zwischendurch mal ganz gerne einen trinkt. Es wird euch gar nicht stören, weil es ihn wenigstens etwas redseliger macht.“

Sowohl Mo als auch Jayden bemühten sich krampfhaft, eine Bemerkung dazu zu unterdrücken, um den reizbaren und offenbar schwer bewaffneten Hünen nicht schon in den ersten zehn Minuten gegen sich aufzubringen. Da ein saufender Kriegsveteran allgemein als potentielle Gefahrenquelle für die Zivilgesellschaft galt, hatten sie vielleicht doch nicht den besten Mann erwischt. Mo verdrängte eine Reihe düsterer Gedanken und versuchte sich auf das unmittelbar vor ihnen Liegende zu konzentrieren. Sie waren nämlich inzwischen in eine kleine Nebenstraße abgebogen und näherten sich unaufhaltsam ihrem kaum noch eine Meile entfernten Ziel – einem kleinen Yachthafen an der Bannister Bay.

„Nach euren nautischen Kenntnissen brauche ich euch ja gar nicht erst zu fragen“, beendete Mickey mit unverhohlenem Spott die kurze Befragung seiner neuen Partner und spielte damit auf einen der wichtigsten Gründe an, warum er mitgekommen war: Er sollte die Yacht führen und mit Hilfe des von dem Chip ausgestrahlten GPS-Signals bis zu dem Punkt auf hoher See navigieren, an dem sich sein Chef Diamond mit hoher Wahrscheinlichkeit an Bord irgendeines Schiffes befand. Der Grund, warum Mo und Jayden sich eine Antwort hierauf sparten, lag auf der Hand.

Bald darauf konnten sie im Schein einer einsamen Laterne die Einfahrt zu dem Hafengelände erkennen und durchfuhren schließlich ein offen stehendes Tor. Sie kamen an einer Reihe von Liegeplätzen mit großen Motoryachten vorbei und hielten erst, als sie das Ende des befahrbaren Geländes erreicht hatten. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen und nur aus dem einen oder anderen Kajütenfenster fiel ein schwacher Lichtschein auf das tiefschwarze, nur von einer mäßigen Brise bewegte Wasser der Bannister Bay. Nachdem sie ihre Ausrüstung ausgeladen hatten und einem schmalen Pier gefolgt waren, erreichten sie eine lange, schwimmende Anlegestelle, an deren Ende Tims kleine, höchstens 14 Yards lange Yacht wie eine Aussätzige als eines der wenigen Segelschiffe unter den vielen Motorbooten lag. Als Mo im Schein einer Taschenlampe den Namen „Star of Atlantis“ an dem leise in der Dunkelheit vor sich hin dümpelnden Rumpf ablas, schrumpfte die Yacht im Verhältnis zu dem großen Klang ihres Namens und der Weite des Atlantiks in seiner Wahrnehmung zu einer kleinen Nussschale zusammen.

Mickey sprang natürlich als Erster an Bord und öffnete sofort den Zugang zur Kajüte, um drinnen nach dem Rechten zu sehen. Die schweren Taschen, die er danach von Jay über eine kleine Gangway entgegennahm, waren in Mos Phantasie randvoll mit Whiskyflaschen und Waffen gefüllt, was allerdings – wie sich noch herausstellen würde – glücklicherweise nicht ganz den Tatsachen entsprach.

Betty spürte, dass sie Mo angesichts der drohenden Gefahren mehr als nur ein paar freundliche und beruhigende Worte mit auf den Weg geben musste. Nachdem sie eine Weile auf ihn eingeredet hatte, packte sie ihn plötzlich, um ihn zum Abschied fest an sich zu drücken. Die Nachwirkungen der Umarmung beflügelten ihn so sehr, dass er die letzten Bedenken leichthin in den frischen Seewind schlug und voller Zuversicht die Gangway der „Star of Atlantis“ erklomm. Dabei bellte ihm Mickey, der sich bereits in den ersten Minuten selber in den Rang des Kapitäns und Befehlshabers erhob, ungeduldig mit rauer Stimme entgegen:

„Na, da kommt der große Meisterkriminologe ja endlich! Es wird um Punkt 23 Uhr abgelegt und es gibt keine Grund, schon zu Beginn vom Zeitplan abzuweichen!“

Direkt darauf war das Starten der Schiffsmaschine zu hören und Mo ließ sich eilig auf der Sitzbank nieder, die einen großen Teil des Hecks ausfüllte und sich halbrund an der Bordwand entlang zog. Zu seinem Glück hatte es sich von selbst ergeben, dass dem Jüngsten die Rolle des Schiffsjungen zufiel, weshalb er tatenlos zusehen konnte, wie sich Jayden unter Mickeys lautstarken Befehlen abmühte, die Leinen loszumachen, die Gangway einzuholen und den Schiffsrumpf mit einem langen Bootshaken von dem schwimmenden Steg abzustoßen. Während Mickey die Position am Ruder einnahm und die Yacht mit kleiner Fahrt von der Anlegestelle fortsteuerte, verfolgte Mo, wie sie langsam die Bucht hinter sich ließen und Bettys Gestalt am Ufer immer kleiner wurde. Bei dem Erreichen der schmalen, nicht mehr als 60 Yards breiten Wasserstrasse, die auf den Reynolds Channel und das dahinter liegende Long Beach Barrier Island zulief, schien es endgültig unmöglich geworden zu sein, die „Operation Bermuda“ noch abzubrechen.

Als sie schließlich die Atlantic Beach Bridge passiert hatten und die offene See nur noch eine Meile entfernt war, schlüpfte er über den Niedergang in die Kajüte hinunter, um sich das erste Mal im Bauch der „Star of Atlantis“ umzusehen. Er war über die saubere, ganz in Teakholz gehaltene Ausstattung überrascht und gelangte an einer Navigationsecke, einer kleinen Pantry und einem ausklappbaren Esstisch vorbei in einen engen Mittelgang, an dem links die Seetoilette und rechts eine winzige, mit einer Schiebetür verschließbare Seitenkoje untergebracht war. Hinter einer schmalen Tür am Ende des Ganges tat sich eine geräumige Vorschiffskajüte auf, die über ein Doppelbett, eine große Lichtluke und längliche Seitenfenster verfügte. Er ließ sich seufzend auf einen weichen, von Einbauschränken eingerahmten Polstersessel fallen und hätte die Gemütlichkeit der Kajüte unter anderen Umständen sehr genießen können, wenn nicht die ungewohnte Enge des Schiffsbauches klaustrophobische Gefühle geweckt und die Befürchtung aufkommen lassen hätte, vielleicht so bald kein Land mehr wieder zu sehen.

Er lehnte sich tief in den bequemen Sessel zurück und fiel irgendwann in ein leichtes Dösen, aus dem er hin und wieder durch die Geräusche der Flugzeuge aufgeschreckt wurde, die auf dem nur wenige Meilen entfernten John F. Kennedy Airport starteten und landeten. Eine Viertelstunde später hatte ihn das monotone Nageln der kleinen Dieselmaschine und das sanfte Rollen des Rumpfes fast vollends eingeschläfert und er kam erst wieder richtig zu sich, als er plötzlich an der Schulter geschüttelt wurde und ihm Mickeys Stimme unangenehm hart in die Ohren fuhr.

„Los aufstehen! Keine Stunde an Bord und schon liegt unser Meisterdetektiv pennend unter Deck! Alle Mann in den Salon, jetzt gibt’s erst mal `ne Bordbesprechung!“

Er wankte verschlafen in den Salon und ließ sich neben Jayden an den mittlerweile ausgeklappten Esstisch nieder. Danach dauerte es nicht lange, bis Mickey eine seiner beiden am Boden liegenden großen Taschen öffnete, eine Flasche Whisky herauszog und sie mit einer übertriebenen Geste brutal laut auf den Holztisch knallte.

„So, jetzt machen wir erst mal reinen Tisch! Schließlich wollt ihr Landratten ja sicher wissen, was euch in den nächsten Tagen erwarten wird! Dass es sich um keine Kreuzfahrt mit Kabinensteward, üppigem Bordbuffet und Deckliegestühlen handelt, habt ihr ja bereits geahnt!“

Es machte ihm offensichtlich Spaß, sich vor ihnen wie ein alter, kerniger, ihnen an Erfahrung überlegener Seebär zu geben, und er schenkte den Whisky so reichlich in die Gläser ein, als würde es sich um reines Wasser handeln. Obwohl ein seltsamer Überschwang in seinem ganzen Verhalten lag, bemühte er sich merklich um einen rationalen Ton, als er begann ihnen ein paar grundlegende Dinge zu erklären.

„Du hast es noch nicht mitgekriegt, Meisterdetektiv, aber wir haben inzwischen die offene See erreicht und werden bis auf weiteres der Küste Long Islands ost-nord-östlich folgen. Das Ruder ist zurzeit auf Autopilot gestellt, das heißt, wir werden abwechselnd Nachtwache halten, um regelmäßig den Kurs zu kontrollieren und die See voraus zu beobachten. Die technischen Details des Cockpits werde ich euch gleich noch erklären. Die Instrumente können auch hier drinnen in der Navigationsecke abgelesen werden. Man kann auch von dort das Ruder bedienen und mit Hilfe dieses Bildschirms und einer Kamera nach draußen gucken.“

Er wies zu der Navigationsecke, beugte sich dann abermals zu einer seiner Taschen hinunter und zog dieses Mal eine Mappe heraus, in der mehrere zusammengefaltete Karten lagen. Er breitete eine von ihnen auf dem Tisch aus und fuhr fort:

„Diese Karte hier haben Betty und ich gestern angefertigt. Sie zeigt unseren Kurs und den des Schiffes, das wir erreichen wollen. Wenn das betreffende Objekt bei gleich bleibender Geschwindigkeit denselben Kurs der letzten Tage beibehält, müsste er sich mit unserem ungefähr an diesem Punkt schneiden. Der Berechnung liegen die Werte aller bisherigen Ortungen zugrunde, von denen wir die letzte heute Abend vorgenommen haben.“

Er wies mit ahnungsvoller Miene auf eine rot markierte Stelle und ließ zunächst unausgesprochen, was sie dort seiner Meinung nach erwarten würde. Dann fuhr er fort:

„Die entsprechenden Koordinaten befinden sich etwa 400 Meilen von hier, dabei rede ich von Landmeilen wohl gemerkt. Die eine Hälfte der Strecke liegt in Küstennähe, die andere auf hoher See. Unsere durchschnittliche Reisegeschwindigkeit dürfte je nach Wetterlage irgendwo zwischen 5 und 6 Knoten liegen, so dass wir unser Ziel mit etwas Glück in rund drei Mal 24 Stunden erreicht haben werden.“

„Und wann setzen wir die Segel?“, schaffte Jayden es zum ersten Mal, eine kurze Frage einzustreuen.

„Irgendwann am Vormittag, jedenfalls heute Nacht nicht mehr. Da ihr von nichts eine Ahnung habt, möchte ich euch morgen früh erst einmal ein bisschen was übers Segeln erklären. An diesem Punkt hier…“, er wies erneut auf die Karte und nahm vor dem Weiterreden schnell einen kräftigen Schluck Whisky, als müsste er seine Stimme ölen, „…werden wir voraussichtlich langsam von der Küste abweichen und Kurs auf Nantucket Island nehmen. Spätestens dann werden wir auch die Segel setzen. Wir werden die Insel südlich streifen und dann endgültig auf die hohe See hinausfahren.“

Während Mickey redete, vertiefte sich Mo für eine Weile in sein Gesicht und stellte erleichtert fest, dass sich in dessen vielen Falten durchaus so etwas wie Charakter und höhere Erfahrung erkennen ließ, nachdem er ihn auf den ersten Blick einfach nur als einen harten und eher simpel gestrickten Menschen eingeschätzt hatte.

„Du scheinst dich gut auf dem Schiff auszukennen. Bist du mit ihm schon mal auf See gewesen?“, fragte er ihn in der vertraulichen Art, die sich zwischen ihnen in dieser Lage wie selbstverständlich ergab.

„Ich kenne die Star of Atlantis wie meine Westentasche. Außerdem hatte ich selber mal ein Boot. Bin unzählige Male mit Tim draußen gewesen, wenn er einen zweiten Mann gebraucht hat. Ein zuverlässiges Schiff, das natürlich seine Vor- und Nachteile hat. Es ist nicht gerade schnell, weil es nicht sehr lang ist und eine relativ geringe Segelfläche hat, dafür ist es wendig und unauffällig. Sein Kunststoffrumpf wird von dem Radar der Großschiffe meistens nicht erfasst und bei Dunkelheit ist es praktisch nicht zu sehen. Insofern macht das, was wir vorhaben, durchaus seinen Sinn und ist kein kopfloses Himmelfahrtsunternehmen.“

„Mich interessieren im Moment vor allem zwei Punkte: Werden wir das gesuchte Schiff einholen können, wenn wir länger als geplant für die Strecke bis zum Punkt X brauchen? Wir haben bei der ersten Ortung eine Geschwindigkeit von 16 Knoten errechnet, mehr als doppelt so schnell wie unsere. Und falls wir dieses Schiff tatsächlich finden und Jayden und ich wie geplant an Bord gehen, wie werden wir hinterher wieder zusammen mit Diamond auf die Star of Atlantis zurück gelangen? Bei 16 Knoten Geschwindigkeit müssten wir uns sehr beeilen, damit wir dir nicht davonfahren!“

„Das hast du sehr gut erkannt, Dr. Morton Morris Meisterdetektiv. Ihr müsst euch sehr beeilen, das ist wahr. Oder solange an Bord bleiben, bis ich euch eingeholt habe. Allerdings gibt es noch eine gute Neuigkeit: Das Objekt scheint sich nicht mit konstanter Geschwindigkeit fortzubewegen, sondern zeitweise nur sehr kleine Fahrt zu machen. Bei mehreren Ortungen während der letzten beiden Nächte stellten wir fest, dass die Geschwindigkeit nur noch 4 Knoten betrug. Dies ist bei unserer Berechnung von Punkt X bereits berücksichtigt worden. Da das Schiff es aus irgendwelchen Gründen offenbar nicht eilig hat und nachts deutlich langsamer fährt, müssen wir bei Dunkelheit zuschlagen, was ja sowieso unserem Plan entspricht. Falls es seinen bisherigen Kurs beibehält, läuft es direkt auf die südliche Spitze von Novia Scotia zu. Das kann sich zwar jederzeit ändern, aber wir haben ja den GPS-Empfänger dabei, so dass wir die aktuelle Position ständig überprüfen können.“

Mickey besiegelte seine Worte natürlich gleich wieder mit einem kräftigen Schluck Whisky; als er sah, dass Mo und Jayden bisher kaum etwas getrunken hatten, spornte er sie mit einem grimmigen Lachen an:

„Na, das fängt ja großartig an! Los, mal immer bloß runter mit dem Zeug, es wird euch helfen, die Launen der See besser zu ertragen! Glaubt mir, es hat schon seinen Grund, warum ein Seemann gerne säuft. Ihr könnt von Glück sagen, dass wir solange in Küstennähe bleiben. Wenn man irgendwann nichts Anderes mehr als eine blaue Linie am Horizont sieht und ausweglos in einer kleinen Nussschale festsitzt, kann einem schon anders werden. Viele, die es nie erlebt haben, unterschätzen das. Aber so ist es ja immer mit den Leuten, die keine praktische Erfahrung haben und immer nur labern und alles besser wissen…“

Er schnaubte verächtlich und stand auf, um sich seine schwarze Lederjacke auszuziehen und sich ein blaues, zerknautschtes Seemannskäppi auf seinen kahl rasierten Schädel zu setzen, das er zufällig auf einem Regal über der Sitzecke fand. Durch das Käppi und den grob gestrickten Pullover, der unter der Jacke zum Vorschein kam, hatte er innerhalb weniger Sekunden eine überzeugende Wandlung von einer „Landratte“ zu einem „Seebären“ vollzogen und seiner Erscheinung einen völlig neuen Charakter verliehen.

„Und wie werden wir genau vorgehen, wenn wir Punkt X erreicht haben? Es würde mich nicht wundern, wenn dein Plan nicht ganz mit dem von Betty übereinstimmen würde“, bemerkte Mo mit einem leicht provokanten Unterton, der den launischen Captain sofort auf die Palme trieb.

„Wie? Warum sollte denn mein Plan nicht mit dem von Betty übereinstimmen sollen? Ich will euch jetzt mal was ganz Grundsätzliches sagen, damit ihr mich nicht etwa für ein Weichei haltet: Mir schmeckt es absolut nicht, euch Vögel alleine auf das Schiff gehen zu lassen, aber Betty besteht darauf, weil einer unbedingt auf der Jacht bleiben muss. Da ihr sie nicht zuverlässig manövrieren könnt, muss ich es eben sein. Wenn es allerdings um Tims und euer Leben geht und ihr mich braucht, könnt ihr mich anfunken, dann komme ich an Bord und pfeife auf unser Boot. Das wäre die harte Tour, denn für den Rückweg müssten wir uns dann wirklich etwas einfallen lassen…“

„Aber wie sollen wir überhaupt auf das Schiff gelangen?“, knüpfte Mo mit anderen Worten wieder an seine erste Frage an.

„Nur Geduld, das klärt sich alles später. Damit es zu keiner Meuterei kommt, erzähle ich euch das besser erst, kurz bevor wir Punkt X erreicht haben. Im Moment gibt’s nicht viel zu tun, also kriecht ihr jetzt am besten in die Koje, damit ihr morgen früh fit genug zum Segelsetzen seid. Ich werde die erste Nachtwache bis 2 Uhr übernehmen und danach Jayden als Ersten aufwecken. Von mir aus könnt ihr euch zusammen in die große Vorschiffskajüte verziehen. Ich bin nicht schwul und ich schnarche, daher kann ich es unter diesen Umständen am besten alleine aushalten, he, he, he…“

-

70 Stunden, nachdem die „Star of Atlantis“ in der Bannister Bay in See gestochen war, lag Mo mit kreidebleichem Gesicht in seiner Koje und versuchte, sich zur Ablenkung krampfhaft auf den Bildschirm eines kleinen DVD-Gerätes über der Kajütentür zu konzentrieren. Er konnte der Handlung des laufenden Filmes nicht im Geringsten folgen und als in einer Szene plötzlich ein gedeckter Tisch voller Speisen zu sehen war, befiel ihn wieder das große Würgen. Obwohl sein Magen längst leer war, beugte er sich zum x-ten Mal zu dem Eimer neben seiner Koje hinunter und verfluchte stöhnend und spuckend die gesamte Seefahrt. Während er mit der rechten Hand den Eimer festhielt und sich mit der linken Hand an den Bettrahmen klammerte, damit ihn der gewaltige Wellengang nicht auf den Boden schleuderte, presste er mit den Beinen die Flasche Whisky fest auf die Matratze, die er sich unter seine Kniekehlen geklemmt hatte. Als eine günstige Gelegenheit kam und die Yacht nach einer heftigen Erschütterung durch ein längeres Wellental glitt, ließ er kurz den Bettrahmen los und schnappte sich schnell die Flasche, um durch einen tiefen Schluck die brennende Magensäure aus seinem Mund zu spülen. Er wollte sich schon wieder zurücklehnen, um wenigstens für ein paar Sekunden zu entspannen, doch da öffnete sich die Kajütentür. Jayden trat mit einem zynischen Grinsen herein, hielt den erbärmlichen Zustand seines Partners mit der Kamera seines Smartphones fest und verschwand sofort wieder. Er konnte nicht schnell genug dagegen protestieren und ahnte bereits, dass dieses Foto eines Tages in irgendeiner Runde Anlass zu allgemeiner Erheiterung werden würde.

Er hatte die ganze Zeit nichts davon mitbekommen, wie Jayden fieberhaft damit beschäftigt gewesen war, die Wassermengen vom Boden des Salons aufzuwischen, die mehrmals über den Niedergang in die Kajüte gespült worden waren, und wie Mickey über zwei Stunden lang draußen am Ruder gegen das Meer gekämpft hatte, indem er mit voller Maschinenkraft gegen den Wind und die monströsen Wellen angesteuert hatte. Als die See nach Anbruch der Dunkelheit endlich ruhiger wurde, goss er nach und nach den letzten Rest des Whiskys in sich hinein und spürte voller Befriedigung, wie sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitete und die Übelkeit langsam verdrängte. Das Schicksal ließ ihm nur wenig Zeit, die Genesung von der Seekrankheit zu genießen, da gegen Mitternacht Mickey in die Kajüte hineingepoltert kam und lautstark rief:

„Ich habe eben mit Betty über Funk gesprochen! Nach ihren Berechnungen könnte es zwischen 3 und 4 Uhr soweit sein! Du musst wieder klarkommen, Mann! Vielleicht haben wir heute Nacht unsere einzige Chance. Am besten leistest du deinen Kumpel auf Deck Gesellschaft und schnappst frische Luft. Im Gegensatz zu dir hat er sich inzwischen zu einem echten Seemann gemausert, dem man getrost das Ruder überlassen kann!“

Mo schlüpfte hastig in seinen Pullover und seine Wetterjacke und folgte der Anweisung des „Captains“ zum Frischlufttanken an Deck zu gehen. Draußen empfing ihn als Relikt des Sturmes ein mächtig pfeifender Wind, der nach drei sonnigen Tagen auf See eine unangenehme Kälte mit sich brachte und die „Star of Atlantis“ mit beängstigender Seitenneigung und einer Geschwindigkeit von knapp 7 Knoten immer tiefer in die Gefahrenzone hineintrieb. Jayden hatte sich in der kurzen Zeit gute Segelkenntnisse angeeignet und schien trotz der stetig näher rückenden Gefahren, der Dunkelheit und des rauen Wetters seine helle Freude an dem Steuern der Yacht zu haben. Er steckte in einer gelben Wetterjacke und hatte sich an der Bordwand angeleint, damit er sich bequem in das Seil hineinlehnen konnte. Mo klammerte sich neben ihn an die Reling und kämpfte tapfer gegen die letzten Wehen der Seekrankheit an. Von den erhabenen Gefühlen, die ihn während der letzten Tage immer dann übermannt hatten, wenn sich die „Star of Atlantis“ bei einer steifen Brise extrem in die See gelehnt und sich mit stolzem Heben und Neigen des spitzen Rumpfes ihren Weg durch die unendliche Weite des Atlantiks erkämpft hatte, war unter diesen Umständen nicht mehr viel zu spüren. Jayden schrie ihm ein paar Worte direkt ins Ohr, doch er verstand ihn nicht. Das Getöse der Wellen und das Pfeifen des Windes unterband jegliche Unterhaltung und ließ sie nur noch zu kleinen und stummen Zeugen der mächtigen Naturgewalten werden.

Als nach einiger Zeit die Klappe zur Kajüte aufging und Mickey seinen Kopf herausstreckte, kündigte sich endgültig die heiße Phase ihres Abenteuers an.

„Ich habe auf dem Sonar ein Signal erwischt, etwa fünfzehn Meilen von hier! Streicht die Segel und kommt unter Deck! Wir werden die Maschine anwerfen und den Autopiloten einschalten!“, rief er aufgeregt und winkte sie herein.

Nachdem sie das Hauptsegel eingeholt hatten, schlüpften sie in die Kajüte, wo ihnen der penetrante Geruch einer von Mickey zubereiteten Konservensuppe entgegenschlug. So rau das Verhalten ihres schrägen Captains oft war, so zuverlässig kümmerte er sich auch um sie, fast so als hätte er Betty einen heimlichen Schwur geleistet, durch den er sich für die Sorge um ihr Wohlergehen verpflichtet hatte.

„Das Sonar hat ein starkes Signal gegeben, was bei dieser Entfernung für ein Riesenschiff spricht“, klärte er sie mit ernster Miene auf, während sie sich in der engen Schiffsmesse niederließen. Trotz der rapide ansteigenden Spannung hatten sie zunächst nichts Wichtigeres zu tun, als sich von ihm Kartoffelsuppe und Brot servieren zu lassen. Während sie den geschmacklosen Fraß, der ein wenig an eine Henkersmahlzeit erinnerte, missmutig in sich hineinlöffelten, fummelte Mickey an den Geräten in der Navigationsecke herum. Schließlich gab er ihnen mit knapper, militärisch klingender Sprache einen kurzen Lagebericht ab.

„Das Objekt befindet sich jetzt etwa 14 Meilen ost-süd-östlich von uns, Geschwindigkeit cirka 4,5 Knoten. Das Erreichen von Punkt X ist je nach Wetterlage in zwei bis drei Stunden zu erwarten. Der Wind bläst glücklicherweise genau nach Osten. Falls wir die nötige Durchschnittsgeschwindigkeit nicht halten können, werden wir wieder die Segel setzen. Im Moment sieht es allerdings nicht danach aus.

Ich werde von nun an alle zehn Minuten die verbleibende Distanz und nötige Geschwindigkeit neu errechnen. Erreichen wird Punkt X zu schnell, müssen wir warten und kreuzen, wodurch die Gefahr steigt, frühzeitig geortet zu werden; sind wir zu langsam, verpassen wir das Schiff. Hier kommt es auf das nautische Geschick eines erfahrenen Seemannes an.“

Die Art, wie er sich durch diese Bemerkung selber auf die Schulter klopfte, ließ Mo leise aufstöhnen und die Augen nach oben rollen. Er tauschte ein wissendes Grinsen mit Jayden aus und kam dann auf den heikelsten Punkt zu sprechen.

„Ich denke, es wird höchste Zeit, uns endlich aufzuklären, wie wir das Schiff entern sollen. Bisher hast du dich ja darüber beharrlich ausgeschwiegen.“

„Nicht ohne Grund würde ich sagen. Schließlich wollte ich euch den Spaß an unserem kleinen Segeltörn nicht verderben…“

Sein dreckiges Lachen ließ nichts Gutes erwarten und nachdem er ein paar obligatorische Schlucke aus einer Whiskyflasche genommen hatte, setzte er endlich zu der lange erwarteten Erklärung an.

„Gut, kommen wir also endlich zu der Entertechnik, die ich dabei habe. Dass wir es nicht mit einer Segelyacht, sondern mit einem großen Schiff zu tun haben werden, haben wir ja von Anfang an geahnt. Ich möchte euch elenden Landratten deshalb mal eine kleine, aber feine Frage stellen:

Was würdet ihr tun, wenn über euch eine zwanzig Yards hohe Bordwand aus purem Stahl in den Himmel aufragt, ohne dass irgendjemand so freundlich gewesen ist, für euch Superhelden extra eine Leiter anzuschweißen, he?“

Mo und Jayden lachten. Mickeys gerötetes Gesicht sah durch seinen stoppeligen Dreitagebart, seine fragend hochgezogenen Augenbrauen und den Einfluss des Whiskys für einen Moment ungewollt lustig aus und war von einer gutmütigen Ironie beseelt.

„Mit einer Harpune Seil und Enterhaken über die Reling schießen?“, musste Mo nicht lange überlegen, um eine plausible Antwort zu finden.

„Sehr klug, genau richtig, das wäre schon mal der erste Punkt! Ihr werdet lachen, aber so was in der Richtung hab’ ich tatsächlich dabei!“

Er öffnete die Tür der kleinen Seitenkajüte und zog unter seiner Koje eine der beiden großen, schwarzen Taschen hervor, die der Aufbewahrung der Spezialausrüstung dienten. Kurz darauf schmiss er ein aufgerolltes Seil mit einem Enterhaken und einer Art Flaschenzug auf den Gang und begann dann aus mehreren Einzelteilen eine Armbrust zusammenzubauen.

„Was ich euch jetzt noch zeigen werde, ist, nun… ich möchte sagen, schon ziemlich speziell und ihr könnt wirklich von Glück sagen, dass ich in der kurzen Zeit noch daran gekommen bin. So etwas liegt nämlich auch im Lager von Diamond Investigations nicht einfach so herum!“

Als er ihnen daraufhin vier kreisrunde Metallplatten vor die Füße legte, an denen starke Elektromagneten, Akkus, Handgriffe und Spanngestelle angebracht waren, verwandelte er sich in ihren erstaunten Augen zu einem Magier, der einen lebendigen, weißen Hasen aus einem Zauberhut zog.

„Die Dinger werden an die Unterarme geschnallt und an den Griffen kann man sich zusätzlich festhalten. Mit diesem Knopf hier schaltet ihr den Magneten ein. Funktioniert im Grunde wie eine Leiter. Ihr heftet euch an die Bordwand, zieht euch hoch und schaltet den Magneten für einen Moment aus, um ihn ein Stück weiter oben anzusetzen. Vorher werfen wir noch den Enterhaken hoch, so dass ihr euch gleichzeitig am Seil sichern könnt. Allerdings gibt es nur eins davon, das heißt, der Erste geht vor, der Zweite seilt sich an ihn an. Ich schlage vor, dass Jayden vorangehen wird.“

Er grinste wegen ihrer großen, staunenden Augen und klopfte Jayden ein paar Mal auf seinen muskulösen, gut durchtrainierten Oberarm. Dann zog er sich wieder in die Navigationsecke zurück, um die aktuelle Position und Entfernung des Zielobjektes zu überprüfen.

„Das verfluchte Höllenschiff hat seinen Kurs geändert!“, schimpfte er wenige Minuten später laut auf. „Sieht fast so aus, als ob Novia Scotia nicht das endgültige Ziel der Reise wäre. Falls es weiter in den Norden rauf geht, würde ich an eurer Stelle darauf achten, das Schiff früh genug zu verlassen. Sollte es die Passage durch die Baffin Bay in den Arktischen Ozean nehmen, müsstet ihr ein warmes Plätzchen in einer Kajüte finden, sonst würden euch bald große Eiszapfen an den Nasen wachsen!“

Seine Show war danach noch nicht vorbei, denn nun holte er die zweite seiner beiden großen, schwarzen Taschen hervor. Als erstes zog er zwei schwarze Surfanzüge heraus, die er ihnen vor die Füße warf.

„Die Dinger hier werden euch warm und trocken halten und in der Dunkelheit unsichtbar machen. Falls ihr bei eurer Rückkehr über Bord gehen müsst, werdet ihr es damit eine Weile im Wasser aushalten können.

Außerdem hätten wir hier dann noch ein Funkgerät, einen GPS-Sender und zwei Waffen. Ihr solltet auch noch ein bisschen Proviant mitnehmen. Ach ja, eine wasserdichte Leuchtpistole ist auch noch dabei. Das Ding könnte sehr wichtig werden, falls ich euch irgendwo aus dem Meer fischen muss…“

„Du solltest noch einmal genauer erklären, wie du dir den Rückzug vorstellst“, fiel Jayden mit düsterer Miene bei dem Stichwort „aus dem Meer fischen ein“.

„Im Grunde ist es doch ganz simpel. Sobald ihr Tim mit Hilfe des GPS-Gerätes an Bord gefunden habt, befreit ihr ihn und seilt euch wieder ab. Falls das nicht möglich ist, springt ihr eben und ich nehme euch dann wieder auf. Wenn ihr Glück habt, findet ihr irgendwo eine Rettungsinsel an Deck. Das Motto der Mission lautet: Findet ihn, befreit ihn, bringt ihn her!“

Der hart gesottene Ex-Soldat ballte seine rechte Faust, so als wollte er allerhöchste Entschlossenheit demonstrieren. Als er sah, dass seine Erläuterungen auf keine große Begeisterung stießen, fügte er besänftigend hinzu:

„Keine Angst, ihr werdet schon nicht ersaufen. Ich sagte ja bereits, ihr geht nur von Bord, wenn ich nahe genug bin, ansonsten wartet ihr. Falls ich euch nicht mehr einholen kann, könnt ihr auch versuchen, euch an Bord zu verstecken, bis ihr irgendwo in der Nähe der Küste abspringen könnt. In jedem Fall werde ich euch per GPS orten und zu Hilfe kommen. Noch irgendwelche Fragen, Jungs?“

Sie schwiegen, obwohl eine zentrale Frage nach wie vor unbeantwortet geblieben war: Wie war eigentlich Diamond an Bord des Schiffes gelangt, wenn sie dafür einen derartigen Aufwand treiben mussten?

Plötzlich kam Mo der ganze Plan völlig irrsinnig vor und er verfluchte insgeheim Betty, wegen der er sich auf all das eingelassen hatte. Hatte ihn ihre Schönheit so sehr gereizt, dass seine Vernunft außer Gefecht gesetzt worden war?

Er schnappte sich den kleineren der Gummianzüge und verzog sich in seine Kajüte, um ihn anzuprobieren. Als er bald darauf wieder den Salon betrat, verrieten ihm Mickeys und Jaydens beifällige Blicke, dass er in dem engen Anzug so überzeugend wie ein echter „Froschmann“ aussah. Tatsächlich fügte sich seine nicht gerade große und kräftige, dafür aber bewegliche und schlanke Gestalt sehr passgenau in das Gummi, wodurch es plötzlich so aussah, als ob er der Prädestinierteste von ihnen dafür wäre, des Nachts auf hoher See eine steile Bordwand hochzuklettern. Sein schwarzes, vom Meersalz strähnig gewordenes Haar korrespondierte ideal zu dem Tarnschwarz des Anzugs und in sein schmales und intelligentes Gesicht hatte sich ein harter Zug von unbeugsamer Entschlossenheit gegraben, der ihm bisher noch nicht anzumerken gewesen war. Die Abenteuer, die er in seinem Leben bereits erlebt hatte, waren Mickey und Jayden weitestgehend unbekannt und genau das war auch der Grund, warum sie ihn bisher unterschätzt hatten. Spätestens in diesem Moment hatte er ein weiteres Mal in seinem Leben die Wandlung von dem Kriminologen und Dozenten Dr. Morris in den Detektiv und Ex-Polizisten „Inspector Mo“ vollzogen – eine Wandlung, die eigentlich schon immer Ausdruck eines komplexen Doppellebens gewesen war und sich manchmal nur noch schwer in einer einzigen Persönlichkeit vereinigen ließ.

-

Einige Zeit später hatte sich die Situation dramatisch gewandelt. Ein nervtötender Pieplaut erfüllte unablässig die ganze Kajüte und ließ sich nicht abstellen, solange das Sonargerät eingeschaltet war. Er hatte schon seit Minuten eine gefährliche Nähe zu einem großen, schwimmenden Objekt angezeigt, ohne dass dieses schon zu sehen war. Während sich Jayden durch das Fiepen an das akustische Warnsignal in einem Flugzeug erinnerte fühlte, das den Piloten auf so überlebenswichtige Dinge wie etwa die Gefahr eines Strömungsabrisses durch zu niedrige Geschwindigkeit oder ein kurz vor der Landung noch nicht ausgefahrenes Fahrwerk hinwies, musste Mo in dem engen Bauch der „Star of Atlantis“ eher an ein U-Boot im Krieg denken, das in die gefährliche Nähe eines feindlichen Flottenverbandes geraten war. Der Torpedo, der ein solches U-Boot praktisch in jedem Moment hätte zerreißen können, wäre in ihrem Fall die mehrere Zoll dicke Stahlwand eines mächtigen Dampfers gewesen, die den schlanken Kunststoffrumpf der Yacht so mühelos durchschnitten hätte, wie ein frisch gewetztes Küchenmesser ein Stück weichen Käse. Die Daten, die das Sonar auf den letzten paar hundert Yards geliefert hatte, wiesen unmissverständlich auf ein Riesenschiff hin, dessen Besatzung in der Dunkelheit noch nicht einmal bemerkt hätte, wenn es zu so einem fatalen Seeunfall gekommen wäre.

Bei aller Gefahr hatte die Situation für Mo auch etwas Großes und Erhabenes an sich und so symbolisierte für ihn das laute Warnsignal und die rote Lampe, die in der Navigationsecke ständig nervös aufblinkte, das Zusammenspiel höherer, schicksalhafter Kräfte, die sich trotz ihrer intensiven Vorbereitungen nur sehr bedingt beherrschen ließen.

Mickey, der stramme Ex-Soldat und großmäulige Captain, der immer so hart und cool getan hatte, wirkte inzwischen erschreckend planlos auf sie und lief konfus in der Kajüte hin und her. Als sie sich dem unbekannten Schiff laut Instrumenten auf 400 Yards genähert hatten, fiel ihm erst unter lauten Flüchen wieder ein, dass der Gegenstand, den er lange vergeblich gesucht hatte und der gerade jetzt unerlässlich geworden war, in einem Schrank über der Kochnische lag: Das Fernglas mit integriertem Nachtsichtgerät. Im selben Moment wurde Mo von einer leichten Benommenheit befallen und ihm kam es so vor, als legte sich irgendein dichter, lähmender Schleier über die gesamte See, wofür es keinerlei rationale Erklärung gab. Als er sich von dem Kapitän das kostbare Utensil aushändigen ließ und mit Jayden das Deck betrat, glaubte er, er könnte die unheimliche Aura des fremden Schiffes bereits deutlich spüren, obwohl noch nichts zu sehen und zu hören war. Er lehnte sich über die Reling und ließ solange den Blick über die unruhige See schweifen, bis er in dem typisch grünlichen Schimmer des Nachtsichtgerätes einen riesigen Umriss wahrnahm, den er im ersten Moment einem gigantischen, tief über dem Meer hängenden Wolkengebilde zuschrieb. Erst als er das Gerät schärfer stellte, gingen ihm langsam die Augen auf und er stammelte ehrfürchtig:

„Ich glaube es ja nicht… hast du die Containerreihen gesehen? Das Ding ist nichts Anderes als ein riesiges Frachtschiff…“

Jayden riss ihm das Nachtsichtgerät aus der Hand, und als auch er den gigantischen Schiffsrumpf und die Container sah, schien ihn ein elektrisierender Strom in höchste Anspannung zu versetzen. Mo spürte noch immer die seltsame Benommenheit, die ihn bereits unter Deck befallen hatte, und flüsterte:

„Spürst du es nicht auch, Mann? Irgendetwas geht von diesem Schiff aus, eine merkwürdige Kraft, vielleicht eine Strahlung oder so etwas…“

Sein junger Partner hörte kaum hin und drängte ihn den Niedergang hinunter, um Mickey zu informieren und die Spezialausrüstung an Deck zu zerren. Wenig später hatte Mo bereits die vier schweren Magneten angelegt und sich Jayden das Seil mit einem Karabinerhaken um seine Taille geschnallt.

Dann herrschte plötzlich völlige Dunkelheit, da Mickey die Kajütenbeleuchtung ausschaltete, nachdem er schon zwei Stunden zuvor die Positionslichter gelöscht hatte. Er steuerte die „Star of Atlantis“ mit halber Kraft in einen Bogen nach Backbord hinein und begann die Entfernung zum Zielobjekt unaufhaltsam zu verringern. Mo beobachtete derweil durch das Nachtsichtgerät die linke, jetzt bloß noch 200 Yards entfernte Flanke des kolossalen Frachters und schätzte, dass er zu der so genannten „Panamax-Klasse“ zählen musste. Dabei handelte es sich um die Sorte von Containerschiffen, die die maximal zulässige Länge von rund 320 Yards und 35 Yards Breite meist voll ausschöpften, aber niemals überschritten, weil der Panamakanal vor seiner jüngsten Erweiterung keine größeren Schiffe zugelassen hatte. Die mächtige Bordwand, die schwarz und drohend in den nächtlichen Himmel aufragte, kam ihm wie ein unüberwindliches Hindernis vor, das nur durch gut trainierte Spezialeinheiten zu bezwingen war. Der Koloss hatte auffällig wenige Positionslampen gesetzt und die kleine Zahl der übrigen Lichter, die inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen waren, ließ auf eine großenteils schlafende Besatzung schließen.

Der nach dem Abflauen des Sturmes stetig geringer gewordene Wellengang und die starke Bewölkung, die so gut wie kein Mond- und Sternenlicht hindurch ließ, ergaben ideale Bedingungen, weshalb es keinen Grund gab, unnötig lange um das Ziel zu kreuzen und den Entergang künstlich zu verzögern. Mickey war inzwischen an Deck gekommen und hatte die Schleife der „Star of Atlantis“ zu Ende gezogen, so dass sie sich bald kaum noch 50 Yards hinter dem Frachter befanden und mit voller Maschinenkraft gegen die hoch aufschäumenden Wellen in dessen Fahrwasser ansteuerten. Als Mo den weißen Schriftzug am Heck entziffern konnte, bekam der Name „Conqueror of the Seas“ in dem milchigen Grün des Nachtsichtgerätes eine besonders bedrohliche Note; die Aura von unheimlicher Erhabenheit, die den gigantischen, schwarzen Rumpf mit seinem wie ein Hochhaus in den Himmel ragenden Decksaufbau umgab, schien das Schwarz des Himmels und der See noch finsterer zu machen und alles in eine Erwartung von Gefahr und Verderb zu tauchen.

Plötzlich startete Mickey eine psychologische Spezialbehandlung, die er sich absichtlich für die letzten Minuten aufgehoben hatte. In dem Moment, als sie sich bereits nahe der Stelle im hinteren Bereich der linken Bordwand befanden, an der sie andocken wollten, brach auf einmal etwas extrem Kämpferisches und Aggressives aus dem Ex-Soldaten hervor. Es konnte nur mit der Erfahrung realer Kriegseinsätze zusammenhängen, die tiefe, untilgbare Spuren in seinem Charakter hinterlassen und ihn für den Rest seiner Tage zu einem harten Hund gemacht hatten.

„ALSO WAS IST JUNGS !?“, brüllte er sie mit äußerster Lautstärke wie ein Drill Instructor an. „Wollt ihr den verfluchten Kahn entern oder nicht? Ihr geht jetzt da rauf und nichts und niemand im ganzen Universum wird euch aufhalten!“

Für Jayden hatte das Geschrei keine Bedeutung, da er ohnehin längst damit beschäftigt war, die ihm zugedachte Aufgabe auszuführen: Er schnallte sich das Nachtsichtgerät auf den Kopf, spannte die Armbrust und wartete einen günstigen Augenblick zwischen zwei Wellen ab, damit ihm ein exakter Abschuss des Enterhakens gelang. Als er den Auslöser betätigte und der Haken vor der etwa 16 Yards hohen Bordwand in den Himmel schoss, war sein lautloser und unsichtbarer Aufprall auf Deck lediglich durch einen leichten Ruck im Seil zu spüren. Bald darauf fing Mickeys martialisches Gebrüll wieder an.

„WEN IMMER IHR DA OBEN ANTREFFEN WERDET, JUNGS, REISST IHNEN MÄCHTIG DEN ARSCH AUF!

Ihr seid Maschinen, versteht ihr? Keine weichen, ängstlichen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern gut geölte Kriegsmaschinen, die niemand aufhalten kann! Keine Gefühle, keine Schwäche, nur ein gnadenloses Programm, das genau nach Plan abläuft! Ihr werdet da wie ein Kampfroboter rauf gehen und wer sich eurer Maschinenkraft in den Weg stellt, wird rücksichtslos niedergemacht! Ihr werdet jetzt den alten Tim Diamond da raus holen! Ich spüre, dass er in Schwierigkeiten steckt und dringend unsere Hilfe braucht! Und falls irgendetwas nicht nach Plan verläuft, dann wird die Maschine eben neu programmiert und auf ein neues Ziel eingestellt! Kalt, schnell und flexibel muss die ideale Kampfmaschine sein! Zur Not sprengt ihr das ganze verfluchte…“

Er verstummte plötzlich, da sich Jayden in diesem Moment dazu entschlossen hatte, dem dummen Gebrüll nicht länger zuzuhören und sich lieber sofort die wenigen verbleibenden Yards zum Frachter hinüber zu schwingen. Sie beobachteten gebannt, wie er sich nach dem Absprung mit den Füßen an der Bordwand abfederte, nacheinander die beiden Magneten an die Stahlwand heftete und sich mit ihrer Hilfe langsam nach oben zog.

Kurz darauf schlug auch Mo knapp über der Wasserlinie mit seinen Füßen an die Bordwand an und schaffte es ohne Probleme, die Magnete in Stellung zu bringen. Die Energie, die im ersten Moment von dem riesigen, völlig ruhig im Wasser liegenden Rumpf des Schiffsgiganten auf ihn übersprang, löste nach dem stürmischen Abend auf der kleinen Segelyacht ein völlig unerwartetes, paradoxes Gefühl von Sicherheit in ihm aus. Mickey fing bald wieder an herumzuschreien, aber sie hörten ihn schon fast nicht mehr, da die Yacht mittlerweile ein ganzes Stück abgetrieben war. Zuletzt klang es fast so, als wäre ihr trinkfreudiger Captain verrückt geworden und als wäre es nun sein Schicksal, allein und ohne Ziel im Dunkel auf dem Ozean herumzutreiben und vielleicht nie wieder Land zu sehen. So hohl sich sein martialisches Gebrüll auch angehört hatte, so sehr musste sich Mo nun eingestehen, wie wirkungsvoll es war: Ein Teil von ihm hatte sich tatsächlich in eine „Maschine“ verwandelt, in ein exakt ablaufendes Uhrwerk, dessen vorherrschende Kraft nicht von Angst, sondern von kalter Entschlossenheit getrieben war. Das sanfte, durch die Schiffsmaschine verursachte Vibrieren des Rumpfes, das sich durch die Magneten direkt auf seine Hände übertrug, wirkte auf seltsame Weise beruhigend auf ihn und spornte ihn an, sich zügig und geschmeidig nach oben zu ziehen. Die sich an dieser Stelle nicht nach außen wölbende, sondern genau senkrecht aufragende Schiffswand machte den Aufstieg leichter, als er erwartet hatte. Es dauerte nicht lange, bis er das Blinken einer Taschenlampe in der Dunkelheit sah und wusste, dass Jayden das Deck erreicht hatte. Wenig später streckte ihm sein Partner seine helfenden Hände aus der Dunkelheit entgegen und hievte ihn über ein breites Stahlgeländer an Bord des Superfrachters.

Auf dem menschenleeren, nur schwach beleuchteten Achterdeck stapelten sich die Container dicht an dicht in die Höhe, und von dem zentralen Decksaufbau - einem riesigen, weißen Kubus mit acht Stockwerken, der sich etwa 40 Yards weiter vorne befand - ging nicht das geringste Zeichen aus, dass ihre Ankunft bemerkt worden wäre. Sie schleppten die Ausrüstung in einen der schmalen Gänge, die in regelmäßigen Abständen zwischen den Containerreihen verliefen, und fanden den Enterhaken hinter einem am Boden verlaufenden Rohr. Das GPS-Gerät schien aus irgendeinem Grund leicht gestört zu sein, da sich die Anzeige des kleinen Bildschirms immer wieder etwas verzerrte. Die Distanz zum Ortungschip wurde mit genau 201,225 Yards angezeigt, was deutlich bewies, dass sich Tim Diamond tatsächlich an Bord der „Conqueror of the Seas“ befinden und irgendwo weit entfernt auf dem vorderen Teil des Schiffes aufhalten musste.

Nachdem sie es geschafft hatten, sich an dem zum Teil beleuchteten, achtstöckigen Decksaufbau vorbeizuschleichen, tauchten sie wieder in den Schutz der Dunkelheit ein und verschwanden zwischen den Containern des Vorderdecks. Sie schlüpften unter den Tragegerüsten der Containertürme hindurch, bis sie nach etwa hundert Yards eine bedeutende Entdeckung machten: Auf einer freien Fläche stand eine riesige Satellitenschüssel, die sich hinter jeweils einer Containerreihe an ihrer rechten und linken Seite nach außen hin verbarg. Plötzlich war Mo in der Lage, sich die Beklemmungsgefühle, die er bereits an Bord der Yacht gespürt hatte, plausibel zu erklären. Es musste sich um Elektrosmog handeln, da sie in der unmittelbaren Nähe der Schüssel eine spürbare Verstärkung erfuhren. Sie schossen eine lange Reihe von Fotos mit einer Digitalkamera und ahnten dabei längst, dass die Aufnahmen in nicht allzu langer Zeit in einer Mappe mit dem Aufdruck „Top Secret“ auf den Schreibtischen aller führenden Geheimdienstfunktionäre in Washington landen würden.

Sie setzten ihren Weg fort und nach der letzten Containerreihe breitete sich vor ihnen die spitz zulaufende Bugfläche aus, auf der sich Ankerwinden, Seile und zwei auf Schienen laufende Lastkräne befanden. Sie entdeckten mit Hilfe des Nachtsichtgerätes einen zentralen Deckaufbau mit einer unverschlossenen Tür, die sie in einen unbeleuchteten Schacht gelangen ließ. Eine Eisentreppe führte tiefer und tiefer in den Schiffsbauch wie in den Schlund eines sie bei lebendigem Leibe verschlingenden Seeungeheuers hinab und verstärkte mit jeder Stufe seltsame Ahnungen und Ängste. Am Fuß der Treppe stand in einer dunklen Ecke eine Leiter, die zu einem Stahlpodest mit einem dahinter liegenden Durchgang führte, und auf der gegenüberliegenden Seite war eine schottenartige Tür mit einem großen Eisenrad zu sehen.

Es war Mo, der begann das Rad so vorsichtig im Zeitlupentempo aufzudrehen, als hätte er Angst, die Dämonen der Unterwelt durch zu laute Geräusche zu wecken; in dem leisen Quietschen des Metalls lag ein solch verheißungsvoller Ton, dass sie bereits etwas von der großen Überraschung ahnten, die sie hinter der Tür erwartete. Der Durchgang, der sich vor ihnen auftat, war mit Getränkekisten und Müllsäcken voll gestellt und wurde durch den schmalen Lichtstreifen einer spaltbreit offen stehenden Tür erhellt. Das laute Summen, das plötzlich zu vernehmen war, erinnerte an einen Hochspannungstransformator in einem Umspannwerk.

Als Mo durch den Türspalt spähte, erstarrte sein ganzes Wesen zu einem einzigen Erstaunen. Er blickte direkt in einen riesigen Raum hinein, der sich schier endlos durch den Schiffsrumpf zog und von Neonröhren taghell erleuchtet wurde; die unzähligen, etwa 3 Yards hohen und breiten sowie 6 Yards langen Apparate, die sich durch dicke Kabelstränge verbunden in nicht enden wollender Zahl auf Stahlpaletten aneinander reihten, sahen wie die einzelnen Untereinheiten eines Mega-Computers aus. Ihnen wurde ohne große Worte sofort klar, was für eine unglaubliche Entdeckung sie hier, mitten auf hoher See, hunderte Meilen vor der Küste außerhalb der amerikanischen Hoheitsgewässer, gemacht hatten: Es handelte sich zweifellos um ein gigantisches Computerlabor, das in dem normalerweise mit Fracht gefüllten Schiffsbauch ein perfektes Versteck gefunden hatte. Die Bestandteile dieses Labors stammten wahrscheinlich aus den Containern, die sich oben auf Deck befanden, und konnten jederzeit wieder in diese verladen werden.

Ich weiß noch nicht genau, was es ist, aber ich weiß, dass es nichts Gutes ist…“, stammelte Jayden mit einer solchen Ehrfurcht vor sich hin, als hätte er nicht nur einen Megacomputer, sondern ein lebendiges Wesen vor sich, eine Monsterkrake etwa, die im Halbschlaf vor sich hindöste und jederzeit durch ein zu lautes Wort geweckt und zu gefährlicher Aktivität angestachelt werden konnte. Der Zusammenhang zwischen ihrer Entdeckung und den Internetstörungen schien unausgesprochen auf der Hand zu liegen, genauso wie kein Zweifel daran bestand, dass das Computermonster mit Hilfe der Schüssel auf Deck mit einem Satelliten in Verbindung stand und der tiefere Grund für den Elektrosmog war.

Als plötzlich auf dem breiten Mittelgang zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen auf einem kleinen Elektrowägelchen aus den Tiefen des Schiffbauches herangefahren kamen, zogen sie schnell die Tür wieder zu. Sie beobachteten durch einen winzigen Spalt, wie der Wagen in die kleineren Nebengänge zwischen den Apparaten abbog, dabei hin und wieder über einen der am Boden verlaufenden Kabelbäume hüpfte und manchmal stehen blieb, damit Fahrer und Beifahrer absteigen und irgendwelche Daten auf den Displays der Apparate ablesen konnten. Es handelte sich anscheinend um eine harmlose Routinekontrollfahrt, die für sie jedoch plötzlich gefährlich wurde, als der Elektrowagen in kaum 10 Yards Entfernung stehen blieb und eine der beiden Gestalten auf die Tür zukam.

Rückzug!“, stieß Jayden sofort geistesgegenwärtig hervor und packte Mo, um ihn zurück zu der ersten Tür zu ziehen und den Durchgang so schnell wie möglich zu verlassen. Sie schafften es nicht mehr, die Tür mit dem Stahlrad zu verschließen, und drückten sie mit den Händen zu, während sie mit den Pistolen im Anschlag an den Wänden lehnten. Sie hörten das Klirren von Flaschen aus einer der Getränkekisten und warteten mit höchster Anspannung ab, bis die Geräusche wieder verstummten.

Als sie sich nach einigen Minuten zurück in den Gang wagten und erneut durch den Türspalt sahen, war der Elektrowagen verschwunden. Dafür gab es auf dem breiten Mittelgang eine neue Entdeckung zu machen: Ein zylinderförmiger Roboter mit drehbarem Kopf und Greifarmen steuerte einige der Computer an, um etwas in eine Öffnung einzuschieben, was wie eine große Festplatte aussah. Mo ließ den Auslöser der Kamera nicht mehr los und hatte in wenigen Minuten mehr als hundert Aufnahmen gemacht. Doch schon bald fühlten sie sich gezwungen wieder den Rückzug anzutreten, da die Zeit bis zum Morgengrauen unaufhaltsam schwand.

Nach ihrer Rückkehr in den großen Schacht mit der Treppe wurde sofort klar, dass die Leiter zu dem Stahlpodest, die ihnen bereits zuvor aufgefallen war, der einzig mögliche Weg zu ihrem Ziel war. Das GPS-Gerät zeigte nur noch eine Entfernung von 16 Yards zu Diamond an, und der Wert verringerte sich sofort, als sie begannen die Leiter hinaufzusteigen. Auf dem Podest wartete eine verrostete Stahltür auf sie, hinter der ein stockfinsterer Gang in die letzten begehbaren Winkel des Bugs hineinführte. Die kleinen Bugkammern, die rechts und links abzweigten, waren mit Abfallsäcken gefüllt und beherbergten zahlreiche Ratten, von denen einige durch die Lichtkegel ihrer Taschenlampen fiepend und quiekend aufgescheucht wurden. Auf einmal war es, als wären sie wirklich in eine Art Unterwelt hinab gestiegen und hätten Diamond am denkbar unmöglichsten Ort der Welt aufgespürt, um seine Seele wider Erwarten noch einmal zu den Lebenden zurückzurufen. Als sie am Ende des Ganges in die letzte Bugkammer hineinleuchteten, regte sich in Mos Herz etwas, was er in Bezug auf Tim Diamond niemals für möglich gehalten hätte. Der Moment, in dem er seinen alten Rivalen aus dieser unmöglichen Lage befreite, hätte einer seiner größten Triumphe werden können, aber statt einem Triumphgefühl konnte er jetzt nur Schmerz und Mitleid empfinden. Es schien eine unsägliche Ironie des Schicksals zu sein, dass es ausgerechnet ihm gelungen war, den alten Draufgänger Diamond, der ihm nie viel zugetraut hatte und ihn wegen seiner auf Intellekt und Intuition beruhenden Arbeitsweise immer verspottet hatte, in dieser Hölle aufzuspüren und aus ihr zu befreien.

Diamond lag auf einem Haufen Müllsäcke wie auf einem Totenbett und unter seinem zerfetzten Pullover waren überall kleine Wunden und Blutspuren zu sehen. Die fette Ratte, die eben noch an seiner mit klebrigen Abfallresten beschmutzen Jeans geschnüffelt hatte, verzog sich bei ihrem Kommen schnell und mit ihr einige Kleinere, die offenbar nur darauf warteten, dass das letzte Leben aus dem bereits wie tot herumliegenden Menschenkörper wich.

Jayden prüfte sofort den Puls der Halsschlagader und Mo benetzte das Gesicht des Halbtoten mit Wasser aus einer Plastikflasche. Die Reaktion darauf stellte sich nur sehr verzögert ein und bestand aus einem leisen Röcheln, das so klang, als hätten sie Diamonds Geist, der sich in irgendeinem undefinierbaren Zustand zwischen Leben und Tod befand, aus einer weiten Ferne wieder in die Gegenwart zurück geholt. Als er schließlich seine Augen aufschlug, vergrößerten sich beim Anblick von Mos Gesicht entsetzt seine Pupillen und er ließ seinen Kopf mit dumpfem Stöhnen auf den Müllsack zurücksinken. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die beiden unheimlichen Froschmänner in den schwarzen Gummianzügen, deren kleine LED-Taschenlampen den finsteren Ort in ein unwirkliches Licht tauchten, nicht etwa zu den Helfern des Fährmannes zählten, der im Hades dafür zuständig war, die Seelen der Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt zu setzen, sondern zwei Abkömmlinge der diesseitigen Welt waren, die in den Abgrund hinunter gestiegen waren, um ihn zu retten.

Er fing an unverständliches Zeug vor sich hinzubrabbeln, und sie machten sich daran, ihn von seinem zerfetzen und bluttriefenden Pullover zu befreien. Erst dabei bemerkten sie das ganze Ausmaß seiner Verletzungen, die wie Folterspuren aussahen.

„Die Wunden sind noch frisch. Man hat sie ihm bestimmt erst vor kurzem zugefügt. Wahrscheinlich hat man ihn für einen Agenten gehalten und wollte um jeden Preis aus ihm herausbekommen, ob man in Washington bereits irgendetwas über das Schiff weiß“, vermutete Mo mit einem bestürzten Flüstern. Kurz darauf wurde eine rostige Schraube, die er in einer der vielen Wunden fand, zu dem eindeutigen Beweis für grausame Folter, weshalb er eine Reihe wilder Flüche ausstieß.

Jayden entledigte sich seines Gummianzuges und sie zwangen Diamonds massigen Körper zum Schutz seiner offenen Wunden mühsam in ihn hinein. Gerade als sie es geschafft hatten, den Reißverschluss über seinem stattlichen Bauch zu verschließen, begann er wieder irgendein unverständliches Zeug zu faseln.

Niemand kann sie noch aufhalten… niemand… die Bots… die Bots werden die Welt übernehmen…“, murmelte er immer wieder wie in einem Fiebertraum vor sich hin, bis er schließlich durch das Wasser, das Mo ihm vorsichtig in den Mund träufelte, verstummte und zu husten begann.

„Die Bots werden die Welt übernehmen?“, wiederholte Jayden. „Was zum Teufel meint er bloß damit!?“

„Na, die Roboter nehme ich an. Wer weiß, was er wirklich meint, aber vielleicht ist es nicht bloß Gefasel und macht irgendwie Sinn. Wenn wir Glück haben, überlebt er und kann es uns später erklären!“

Nachdem sie Mickey per Funk über alles informiert hatten, quälten sie sich zu dritt durch den schmalen, müllübersäten Gang zurück zu der Leiter und ließen Diamond langsam hinunter gleiten. Nach dem höllischen Gestank in den Bugkammern hauchte die frische Luft, die von oben durch den Treppenschacht herein zog, dem halb Bewusstlosen etwas mehr Leben ein. Er wog beim Erreichen der ersten, nach oben auf Deck führenden Treppenstufe bereits nicht mehr so schwer und schien mit jeder Stufe ein wenig mehr zu begreifen, wie sehr es für ihn ums nackte Überleben ging. Dennoch zog sich der Aufstieg aus der „Unter-“ in die „Oberwelt“ scheinbar endlos hin und strapazierte ihre Kräfte und Nerven so sehr, dass sie kurz vor ihrem Ziel erschöpft auf einem Treppenabsatz niedersanken.

Plötzlich hatte Mo hatte ein leises Brummen im Ohr, das sich immer mehr verstärkte. Als es irgendwann so laut und deutlich geworden war, dass es über seine wahre Ursache keinen Zweifel mehr gab, sprang er auf und rannte das letzte Stück der Treppe hinauf. Beim Öffnen der Eisentür schlug ihm ein lautes Dröhnen entgegen und nicht weit entfernt vor ihm blinkten Lichter im Nachthimmel auf, die von irgendeinem Flugobjekt stammten. Durch das Nachtsichtgerät konnte er die Umrisse eines großen Transporthubschraubers erkennen, der zwei beleuchtete Haken an Stahlseilen hinunterließ, um einen Container abzutransportieren.

Da am Horizont bereits ein erster, fahler Schimmer des Morgengrauens zu erkennen war, beeilte er sich zu den Anderen zurückzukehren. Sie verloren keine Zeit, den halb bewusstlosen Diamond wieder auf die Beine zu stellen und das letzte Stück der Treppe hoch zu schleppen. Oben angekommen war von dem Helikopter nichts mehr zu sehen und das ganze Deck tat sich in beruhigender Dunkelheit und Stille vor ihnen auf. Es wirkte fast, als hätte ihnen das Schicksal extra eine kurze Gnadenfrist vor dem Morgengrauen gewährt, um die letzten Maßnahmen für den erfolgreichen Abschluss der „Operation Bermuda“ einzuleiten.

Sie sonderten erneut einen Funkspruch an Mickey ab und holten die Seile, die sie zusammen mit den Magneten auf dem Achterdeck versteckt hatten. 30 Minuten später seilten sie einen kleinen, weißen Container mit einer Rettungsinsel an der Bordwand ab, den sie neben einem Rettungsboot gefunden hatten. Diamond, dem sie einen Rettungsring übergestülpt hatten, folgte an einem weiteren Seil und schließlich glitten auch sie langsam in die Tiefe hinab. Danach blieb alles Weitere nur noch ihrem trinkfreudigen Captain überlassen, der sich bereits mit voller Maschinenkraft näherte…

Mo Morris und der Supervirus

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