Читать книгу Kapital oder Kurve? - Benjamin Hofmann - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL 1
Vorgeschichte
Und am Ende steht der Abstieg
Im Kessel brodelt es, und Christian Gentner hat sein T-Shirt nach oben gezogen. Mit einer wilden Grimasse läuft, ja stürmt der Kapitän des VfB Stuttgart zu den Fans. Sein Tor gegen Mainz 05, schon nach sechs Minuten an diesem 7. Mai 2016, ist eine Adrenalinspritze der Hoffnung. Packen sie doch noch den Klassenerhalt, die Schwaben? Schweiß bricht sich Bahn. Saft der Euphorie. Später mischt sich Angstschweiß darunter. 1:3. Noch ist der VfB nicht sicher abgestiegen, doch der Sprung auf Relegationsrang 16 scheint bei zwei Punkten Rückstand schon zu groß für diese Truppe. Der ans rettende Ufer wäre ein Satz vom Ausmaß einer Raubkatze. Keine zwei Stunden nach dem Stoß der Euphorie sitzt Gentner in den Katakomben der Mercedes-Benz-Arena. Hängende Köpfe. Kevin Großkreutz heult. Im Kessel brodelt es.
Doch diesmal sind es Wut und Trauer. Ein Platzsturm, jedoch keiner in marodierenden Hundertschaften, sondern ein halbwegs gesitteter. Keine Massenprügelei, hauptsächlich emotionale Wortgefechte. Zwar kommen die 40, 50, die da über die Absperrung geklettert sind, nicht wie der diplomatische Dienst daher. Doch sind es wirklich diese „unfassbaren Szenen“, die der Sprecher der ARD-Sportschau später in die Wohnzimmer der Bundesrepublik kommentieren wird? „Was geht in diesen Menschen vor?“, fragt er und nutzt den Begriff Lynchjustiz. Nur eine Facette an diesem Abend, aber mit Blick auf die Wirkmacht von Medien in der Deutung bestimmter Vorkommnisse im Fußball ist die Wortwahl des Kommentators schon von Belang.
Tatsächlich sind einige Schubser gegen Profis im Bewegtbild dokumentiert. Philip Heise erwischt es, auch Daniel Schwaab. Nicht entschuldbar, zudem sind manche Platzstürmer martialisch vermummt. Aber ein Lynchmob? Als ein Chaot Großkreutz an die Wäsche will, verteidigen andere Fans den zu Tode betrübten Weltmeister. Den schlotternden Alexandru Maxim nehmen sie gar in den Arm. Von ungefähr dürfte es nicht kommen, dass der Zorn gegen die Profis gar nicht so feurig scheint.
Die Kicker haben sich mittlerweile in die Kabine verzogen. Vor dem Spielertunnel skandiert eine Busladung Platzstürmer in Richtung Ehrentribüne: „Vorstand raus, Vorstand raus.“ Nach und nach tröpfeln mehr von den Tribünen auf den Rasen. Ein paar machen Selfies, ein paar sind besoffen.
„Wenn ihr in die Kurve geht, kommt die Mannschaft“, klingt die Stimme von Stadionsprecher Holger Laser durch die Boxen. Das Angebot, dass sich die Profis stellen, löst ein gellendes Pfeifkonzert aus. Aber es kommt schließlich doch zur Aussprache mit der Mannschaft, zur Diskussion. Ob sie auch den Niedergang aufarbeiteten, der dem ersten Abstieg des VfB Stuttgart seit 1975 vorausging? Nun, das wäre ein abendfüllendes Thema gewesen. Ein Jahrzehnt lang steuert der Traditionsklub auf diese große Katastrophe zu, die eine Woche nach dem 1:3 gegen Mainz Realität wird. Abstieg in die zweite Liga.
Ein beispielloser Abwärtsstrudel hat die Schwaben nach der Meisterschaft 2007 erfasst. Oder besser: Sie haben sich selbst in diesen Sog gemanagt. Der sie unaufhaltsam in die Tiefe gezogen hat. Vom stolzen Südklub in einer der stärksten Wirtschaftsregionen Deutschlands, die eine günstige Sponsorenlage garantieren sollte, zur grauen Maus, zum Absteiger in nicht einmal einer Dekade. Einer Dekade des Dilettantismus.
Fehlerpuzzle
Das Managementversagen im Schnelldurchlauf. Von der Meisterschaft bis zum Abstieg nennen sich satte neun verschiedene Fußballlehrer Trainer des VfB Stuttgart: Armin Veh, Markus Babbel, Christian Gross, Jens Keller, Bruno Labbadia, Thomas Schneider, Huub Stevens, wieder Veh, dann wieder Stevens, Alexander Zorniger, Jürgen Kramny. Parallel verbrennt der Klub unter anderem die – mit unterschiedlichen Titeln ausgestatteten – Sportchefs Horst Heldt und Fredi Bobic. Bobic, der später aus dem Abstiegskandidaten Eintracht Frankfurt einen Klub formen wird, der in die Phalanx der Top-Sechs einbricht, den DFB-Pokal holt und bis ins Europa-League-Halbfinale stürmt, managt den VfB im Tandem mit Jochen Schneider. Das Urgestein spielt bereits seit den frühen 2000er-Jahren eine Rolle im Klub. Gemeinsam mit Veh, der interimsweise eine Doppelrolle ausfüllt, übernimmt Schneider im Herbst 2014 die sportliche Leitung. Bis der Klub im Januar 2015 die (vermeintlich) große Lösung präsentiert: Robin Dutt. Muss ja ein Guter sein, schließlich hatte ihn der DFB im Sommer 2012 zum Nachfolger von Matthias Sammer auf dem Sportdirektorenposten gekürt.
Dass dies für Dutt offenbar nur eine Übergangsstation darstellte, scheint den Handelnden in Stuttgart entgangen zu sein. Kein Jahr später, als Werder Bremen winkt, verlässt Dutt den Verband – wohlgemerkt als Trainer, nicht als Sportchef. Schon zwei Monate vor dem Werben von der Weser sagte er dem „Tagesspiegel“: „Wenn ich die Kollegen von der Tribüne aus am Spielfeldrand sehe, gibt es schon eine gewisse Sehnsucht. Manchmal fehlt mir die frische Luft.“
Das wirft die Frage auf, was Dutt anderthalb Jahre später dazu befähigen soll, ein Schlachtschiff auf Schlagseite wie den VfB wieder auf Kurs zu bringen? Als Sportvorstand, nicht als Trainer. Was möchte Dutt sein? Manager oder Coach? Frische Luft atmet ein Funktionär nicht, eher gefilterte aus Klimaanlagen, wenn es um Vertragsverhandlungen geht. Warum eine solche Person für einen Vorstandsjob verpflichten, die zuvor noch medial mit dieser Rolle gefremdelt hatte und aus einem Direktorenposten im Mai 2013 einem Ruf als Trainer gefolgt war? Zu einem übrigens wenig erfolgreichen Engagement. Werder stellt Dutt bereits im Oktober 2014 frei. Nicht einmal eineinhalb Spielzeiten nach dem großen Tamtam um die Freigabe beim DFB. Es wirkt, als agiere der VfB völlig planlos und engagiere einen Sportvorstand, der selbst nicht so recht weiß, was er möchte. Ab 2018 übrigens arbeitet Dutt wieder als Trainer. Erst beim VfL Bochum, künftig beim Wolfsberger AC in Österreich.
Die hohe Fluktuation auf der Bank und bei den Kaderplanern hinterlässt auch Spuren beim kickenden Personal. Der VfB scheint zum Durchlauferhitzer auf dem Transfermarkt zu mutieren dieser Tage. Zwischen den Saisons 2007/08 und 2015/16 kommen 72 Zugänge von extern nach Schwaben – die vielen Talente aus dem hochgelobten Unterbau sind hier nicht berücksichtigt. Laut dem Branchenportal „transfermarkt.de“ für 98,67 Millionen Euro. Dafür nimmt der Traditionsverein auch 114,55 Millionen Euro ein, 97 Profis verlassen den Klub in diesen neun Spielzeiten. Das sind nun erst einmal nackte Zahlen, mit denen sich wenig anfangen lässt. Der Reiz liegt im Quervergleich.
Dafür bietet sich Borussia Mönchengladbach an. Ebenfalls ein Verein mit großer Historie und traditionsbewusstem Umfeld. Und ein Verein, der in diesem knappen Jahrzehnt eine nahezu exakt gegenläufige Entwicklung durchgemacht hat. Während der VfB vom Meister zum Kellerkind und bis in Liga zwei abstürzte, mauserten sich die Fohlen vom Absteiger (2007/08) zum regelmäßigen Gast im europäischen Wettbewerb bis Mitte der 2010er-Jahre. Also: Hat der Gladbacher Erfolg dieser Tage etwas mit personeller Konstanz zu tun? Nicht auf den ersten Blick.
Im Vergleichszeitraum holt die Elf vom Niederrhein mit 68 Profis nur vier weniger als die vom Neckar. Und: Sie gibt deutlich mehr aus, investiert satte 129,83 Millionen Euro bei Einnahmen von 97,40 Millionen Euro.
Ein Schuh wird aus dieser Statistik, wenn man sie teilt mit der Trendwendensaison 2011/12. Gladbach, im Vorjahr noch Relegationsteilnehmer und Fast-Absteiger, stürmt auf Rang vier, der VfB schwingt sich unter Coach Labbadia zu einem Zwischenhoch auf, landet auf Platz sechs. Augenhöhe. Und Scheideweg.
Denn während die Borussen ab 2012/13 mit Trainer Lucien Favre stabil um Europa mitspielen, findet sich Stuttgart nur noch in den Niederungen des Tableaus wieder. Im Bemessungszeitraum 2012/13 bis 2015/16 holt Gladbach nur noch 24 Profis und gibt 32 ab. Beim VfB lassen sich satte 35 Zugänge konstatieren bei 45 (!) Abgängen. Masse statt Klasse, das lässt sich auch an den Transfersummen ablesen dieser Tage. Wie erwähnt investierten die Stuttgarter in jenen neun Spielzeiten 98,67 Millionen Euro. Auf 2012 bis 2016 entfallen davon nur 56,07 Millionen Euro, also ein wenig mehr als die Hälfte. Gladbach dagegen kann es sich leisten, in jenen vier Saisons satte 92,05 Millionen Euro in seinen Kader zu stecken.
Transferüberschüsse ...
Ja, der VfB erwirtschaftet zwischen 2007 und 2016 einen Transferüberschuss von etwas mehr als 15 Millionen Euro (Gladbach dagegen wirtschaftet alleine auf diesen singulären Posten bezogen defizitär mit einem Minus von über 30 Millionen Euro). Doch zu welchem Preis? Der Fall in die sportliche Bedeutungslosigkeit ist das Resultat. Nicht zuletzt, weil mit Mario Gomez, für 30 Millionen Euro zum FC Bayern, und Sami Khedira, für 14 Millionen Euro zu Real Madrid, zwei zu Stars gereifte Eigengewächse nicht gehalten werden können.
Die Geschichte mit den (teuer) verkauften Talenten hat Tradition in Bad Cannstatt Von 1992 bis 2014 haben die Schwaben umgerechnet beinahe 100 Millionen Euro mit dem Verkauf von Eigengewächsen eingenommen, hat der „kicker“ errechnet. In dieser Reihe ist Kevin Kuranyis Wechsel zu Schalke 04 der erste Millionentransfer. Der Stürmer spült anno 2005 6,9 Millionen Euro in die Kassen. Die vorherigen Abgänge wie Alexander Strehmel (1994 für 350.000 Euro zu Wattenscheid 09), Marc Kienle (1995 für 400.000 Euro zum MSV Duisburg) oder Jens Keller (2000 für 750.000 Euro zum 1. FC Köln) nehmen sich da fast wie Peanuts aus. Wenngleich es zu bedenken gibt: In den 1990ern war der Transfermarkt ein völlig anderer. Zumindest bis das Bosman-Urteil, die Umgestaltung des Landesmeisterpokals in die UEFA-Champions-League sowie die Ausgründung der Profiklubs in die Deutsche Fußball-Liga und die damit einhergehende Professionalisierung der Vermarktung eine gigantische Monetarisierung in Gang bringen.
Kuranyi folgt 2006 mit Andi Hinkel der nächste Vertreter der „jungen Wilden“, mit denen Felix Magath 2003 sensationell die Vize-Meisterschaft holt. 4 Millionen Euro lässt sich der FC Sevilla den Rechtsverteidiger kosten. Serdar Tasci (2013 für 3,3 Millionen Euro zu Spartak Moskau), Andreas Beck (2008 für 3,3 Millionen Euro zur TSG Hoffenheim), Sebastian Rudy (2010 für 4 Millionen Euro zur TSG Hoffenheim), Bernd Leno (2011 für 8 Millionen Euro zu Bayer Leverkusen) und Julian Schieber (2012 für 5,5 Millionen Euro zu Borussia Dortmund) gehören ebenso in diese Reihe. Exquisite Jugendarbeit zahlt sich aus, genauso hervorragendes Scouting. Frag nach bei Aljaksandr Hleb. Den weißrussischen Tempodribbler lotsen die Stuttgarter 2000 als 19-Jährigen in die Bundesliga, für schlappe 150.000 Euro von BATE Baryssau. Nur fünf Jahre später ist er dem FC Arsenal das 100-Fache wert. 15 Millionen Euro berappen die Gunners für den Mittelfeldmann. Alles prima also, der VfB wirtschaftet prächtig, erzielt Transferüberschüsse, macht aus Junioren Juwele und lässt sich diese Dienste versilbern. Wenn da nur nicht die Sache mit dem Fußball wäre. Schließlich darf man vom mitgliederstärksten Sportverein des Landes Baden-Württemberg schon erwarten, dass er in der Bundesliga eine gute Rolle spielt.
... sind kein Allheilmittel
An der Reinvestition des erwirtschafteten Geldes nämlich hapert es gewaltig. Auszug aus einem „kicker“-Artikel des VfB-Kenners George Moissidis, der den Klub seit über drei Jahrzehnten für das Fachmagazin begleitet: „Einer der krassesten Fälle: der Brasilianer Didi, der 1999 für rund 1,75 Millionen Euro von Portuguesa Sao Paulo kam – mit einem Knieschaden, der in einem Rechtsstreit und der Rückkehr des Stürmers in seine Heimat endete.“ Flops wie Sean Dundee (1999 für 2 Millionen Euro vom FC Liverpool), Centurion (2003 für 2,2 Millionen Euro von Velez Sarsfield), Hakan Yakin (2003 für 2,2 Millionen Euro vom FC Basel), Jesper Grönkjaer (2005 für 3 Millionen Euro von Atletico Madrid), Raphael Schäfer (2007 für 2,3 Millionen Euro vom 1. FC Nürnberg), Ciprian Marica (2007 für 8 Millionen Euro von Schachtjor Donezk), Khalid Boulahrouz (2009 für 5 Millionen Euro vom FC Chelsea), Timo Gebhart (2008 für 3 Millionen Euro von 1860 München), Pavel Pogrebnyak (2009 für 4,8 Millionen Euro von Zenit St. Petersburg) oder Mauro Camoranesi (2010 für 2 Millionen Euro von Juventus Turin) runden das Bild des Missmanagements im sportlichen Bereich ab.
Und selbst in der schwäbischen Königsdisziplin, dem Sparen, greifen die handelnden Personen daneben. Jochen Schneider jubelt im Sommer 2005. Glaubt man dem Manager, hat sein Klub gerade einen „Hochkaräter“ von der AC Milan losgeeist: Jon Dahl Tomasson. Und das für kolportierte 7,5 Millionen Euro, was für einen Offensivmann vom Format des Dänen durchaus als Schnäppchenpreis gelten darf. Immerhin spielte sich Tomasson bei den großen Turnieren zuvor auf die Zettel von Top-Klubs wie eben Milan – vier Tore bei der WM 2002 in Japan und Südkorea, drei Treffer und eine Vorlage bei der EM 2004 in Portugal. Hertha BSC und Benfica Lissabon ziehen im Werben den Kürzeren. Schneider und der damalige Coach Giovanni Trapattoni leisten ganze Überzeugungsarbeit. Nur Tomasson wird im Ländle nie so recht glücklich, im Januar 2007 gar billig an den FC Villarreal verliehen. Die kolportierten 5 Millionen Euro Jahresgehalt lassen den vermeintlichen Coup schnell zum Rohrkrepierer werden. Stellt sich zumindest die Frage, ob es Talente aus der Region so viel schwerer haben im Ringen um Anerkennung – im Fußballbusiness meist gleichzusetzen mit Geld – in Vertragsfragen als vermeintliche Stars von draußen?
Es wäre ein wenig unfair, den Niedergang dieser Jahre alleine auf mangelnde Kompetenz in Scouting und Kaderzusammenstellung zu schieben. Denn das Management erwirtschaftet ja durch Transfers regelmäßig Überschüsse. Meist wird im Fußball eine solche Maßgabe vorgegeben, in der Regel vom Aufsichtsrat – es wäre ja geradezu fahrlässig dumm, Transfererlöse nicht wieder in neue Spieler zu stecken und so die Wahrscheinlichkeit auf sportlichen Erfolg zu verringern. Weil sportlicher Erfolg mittelfristig höhere Mediengeldeinnahmen garantiert, was wiederum die Wiederholung sportlichen Erfolgs wahrscheinlicher macht. Es sei denn, mit Transfererlösen müssen andere Defizite aufgefangen werden. Etwa im Marketing und Sponsoring.
Aufseher als Problem
Wer Fragen zu den Kontrolleuren des Stuttgarter Sportmanagements untersucht, muss fürs Erste zurückgehen in die Jahre 2002 und 2010. 2010 wegen Erwin Staudt. 2002 wegen Dieter Hundt. Den Arbeitgeberfunktionär wählen sie im Oktober jenes Jahres an die Spitze ihres Kontrollgremiums. Kein Quartal im Amt, setzt Hundt den Sportmanager Rolf Rüssmann vor die Tür. „Die Zusammenarbeit von Rolf Rüssmann mit dem Vorstand, der Lizenzspielerabteilung und den Sponsoren entwickelte sich zunehmend schlechter. Es gab auch Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat“, sagt der damals 64-Jährige der „Welt“. Speziell mit Finanzvorstand Uli Ruf, einem alten Gewährsmann der Ära Gerhard Mayer-Vorfelder, soll es geknallt haben. Rüssmann, der 2009 an einem Krebsleiden stirbt, sieht sich dagegen als Opfer schwäbischer Seilschaften. Diese Darstellung könne er nicht nachvollziehen, widerspricht Hundt dem geschassten Ex-Profi, der in der Tat viele Dinge an sich riss, wahrscheinlich zu viele. Den sie aber gerne auch klaglos an die Front ließen in zahlreichen Fragen. Eben weil er anders als Ruf und Konsorten nichts mit der Ära MV zu tun hatte. Rein sportlich betrachtet wirkt die Demission aus heutiger Sicht zumindest fragwürdig. Ein nachvollziehbarer Sparkurs wegen des Zusammenbruchs des Kirch-Imperiums, die Verpflichtung von Magath, die Geburt der „jungen Wilden“, Vize-Meisterschaft 2003, die Rüssmann nicht mehr als VfB-Funktionär feiern darf. Manches an diesem Vorgang erinnert an die Trennung von Sportvorstand Jan Schindelmeiser im Jahr 2017, doch dazu später mehr.
Wie kann Rüssmann das mit den Seilschaften also gemeint haben? Hundts Statement legt nahe, dass der Chefkontrolleur am Ende eine Situation „einer gegen alle“ aufgefunden haben muss. Wenig diplomatisch und medial ungeschickt war Rüssmann mit seinem Sparkurs vorgegangen, die Profis erfuhren aus der „Bild“-Zeitung von gestrichenen Prämien und gekürzten Gehältern. Andererseits soll sich Präsident Manfred Haas gerade in Fragen zur belasteten Ära seines Vorgängers MV nicht gerade als motivierter Aufräumer hervorgetan haben. Das überließ er Rüssmann, der zunehmend unpopulärer wurde.
Hundt steigt also fast mit dem größtmöglichen Knall ein, doch die ersten Jahre seiner Ära geben dem Industriellen recht, der gerne Profi-Kicker geworden wäre. Das Talent hätte vielleicht sogar gereicht. Während seines Maschinenbau-Studiums an der Eidgenössischen Hochschule Zürich verdingt er sich als Mittelstürmer beim Schweizer Erstligisten Grasshoppers Zürich. Für überlieferte 200 Schweizer Franken im Monat.
Später wird Hundt mit ganz anderen Beträgen hantieren, ja hantieren müssen. Denn er macht Karriere. Jung steigt er bei AEG in Frankfurt am Main ein. Mitte der 1970er holen ihn die wankenden Allgaier-Werke als Sanierer zurück ins heimische Filstal nach Uhingen. Der Maschinenbauer leistet ganze Arbeit. Unter dem neuen geschäftsführenden Gesellschafter entwickelt sich das Unternehmen zu einem zentralen Zulieferer der Autoindustrie. 2018 schreibt die Gruppe einen Jahresumsatz von knapp 500 Millionen Euro bei fast 1800 Mitarbeitern. Bestens vernetzt ist Hundt nicht nur deshalb, auch weil er ab Ende der 1980er in Arbeitgeberverbänden der Metallbranche das Zepter schwingt. Unternehmerische Expertise, Kontakte, Drähte in Politik und Wirtschaft, speziell zu den Autobauern – das müsste doch auch wirtschaftlich ein Vorteil sein für den VfB, das sollte sich versilbern lassen.
Wie das mit den Sponsoren-Deals aber so läuft im Schwäbischen, zeigt sich 2010. Längst heißt der Präsident Erwin Staudt. Der langjährige IBM-Manager löst im Sommer 2003 Haas an der Vereinsspitze ab. Die sportliche Entwicklung dieser Zeit ist bekannt. Noch ist der VfB wer im deutschen Fußball. Und damit das auch so bleibt, will Staudt die finanziellen Grundlagen bereiten, um nicht mit dem Verkauf der nächsten Talente Löcher stopfen zu müssen. Staudt spricht spätestens 2010, vermutlich bereits früher, mit neuen potenziellen Hauptsponsoren.
Im Dickicht industrieller Interessen
Ein heißes Eisen. Denn da der Energieversorger EnBW das 2005 begonnene, lukrative Engagement – in lokalen Medien ist die Rede von satten 7,5 Millionen Euro pro Saison – vertragsgemäß 2010 auslaufen lässt, droht vielleicht nicht gleich die Horrorvision einer blanken Brust. Aber eben doch ein dicker Rückgang bei den Sponsoringeinnahmen.
Mit der Garmo AG springt 2010 ein alter Bekannter ein, besser bekannt ist der Mittelständler unter dem Namen Gazi. Der Chef des Stuttgarter Molkereiunternehmens, Eduardo Garcia, pflegt eine enge Freundschaft zu Christoph Daum, dem VfB-Meistermacher von 1992. Dessen Hemdkragen ziert jahrelang das Gazi-Logo. Auf einen Wert von 5 Millionen Euro pro Jahr taxiert die „Stuttgarter Zeitung“ den Grundbetrag des Gazi-Sponsorings ohne etwaige Prämien fürs internationale Geschäft. Ein herber Rückgang also um ein Drittel. Zwar soll auch Turkish Airlines um den Platz auf dem roten Brustring gebuhlt haben. Doch alleine die branchenunüblich kurze Laufzeit von lediglich zwei Jahren legt den Schluss nahe: Gazi könnte in die Bresche gesprungen sein, damit überhaupt ein paar Millionen nach Cannstatt fließen. Insgesamt scheint das eine höchst erstaunliche Konstellation zu sein. Für den Deutschen Meister von 2007, ein Publikumsmagnet in einer starken Wirtschaftsregion, in diesen Tagen noch dem Europapokal deutlich näher als dem Abstiegskampf, interessiert sich neben einer ausländischen Fluglinie lediglich ein mittelständischer Joghurtproduzent? Ohne die Lebensleistung des Gazi-Firmengründers Garcia schmälern zu wollen.
Nun, die Aufklärung erfolgt drei Jahre später. Denn offenbar war Staudt bereits 2010 angemessen umtriebig in der Akquise eines neuen Sponsors. Nur sprach er augenscheinlich mit den falschen potenziellen Partnern, zumindest in den Augen von Hundt und Joachim Schmidt. Schmidt ist Hundts Stellvertreter im Aufsichtsrat und seit den 1970ern in diversen Management-Funktionen bei Daimler-Benz. Und Staudt soll Kontakt zu Porsche gehabt haben, dem schnittigen Sportwagenhersteller aus Stuttgart-Zuffenhausen, nur zehn Kilometer entfernt von der Daimler-Konzernzentrale in Stuttgart-Untertürkheim sitzend. Schmidt kann das kaum gefallen haben. Und Hundt, der ja als Allgaier-Mann nicht ganz frei von Interessenkonflikten ist mit Blick auf die Branche der Automobilhersteller? Ganz wertfrei betrachtet: 2011 setzt Daimler im Konzern 106,5 Milliarden Euro um, Porsche gerade einmal rund ein Zehntel davon mit 10,9 Milliarden Euro.
Drei Jahre nach ebendiesen Gesprächen, im April 2013, werden die „Stuttgarter Nachrichten“ enthüllen: „Statt der Mercedes-Benz-Bank könnte schon seit drei Jahren das Porsche-Logo auf dem Trikot des VfB Stuttgart prangen. Der Sportwagenbauer war bereit, zwischen acht und zehn Millionen Euro jährlich auf den Tisch zu blättern. Der damalige VfB-Vorsitzende Erwin Staudt wurde aber zurückgepfiffen – vom Aufsichtsratsvorsitzenden Dieter Hundt und von seinem Stellvertreter: Joachim Schmidt, Marketing- und Vertriebsleiter bei Mercedes-Benz.“1
Alleine die Überschrift des Artikels – „Schnäppchenpreise: So bremst Mercedes den VfB“ – spricht Bände. Den Recherchen des Blattes zufolge soll Porsche eine Angebotsmappe angefordert haben. Eine Bitte, der Staudt und der VfB-Marketingleiter Jochen Röttgermann nachkamen, ehe Hundt und Schmidt ihr Veto ausgesprochen haben sollen. Gerade vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den Jahren 2008 und 2009 erscheint diese Entscheidung aus Sicht des Daimler-Konzerns nachvollziehbar. Porsche plante damals unter dem Vorstandschef Wendelin Wiedeking, den wesentlich größeren VW-Konzern zu übernehmen. Ein Vorhaben, das krachend scheiterte. Stattdessen verleibte sich der Wolfsburger Autobauer Ende 2009 49,9 Prozent der Porsche AG ein, im August 2012 folgte die Vollübernahme. Was wäre das für eine Schmach für Daimler? Vor den Toren der Zentrale wehten die Fahnen von Porsche und damit indirekt VW? Schließlich sitzen VfB samt Stadion schräg gegenüber in der Mercedesstraße. Dass Hundt und Schmidt insistiert haben sollen, kann kaum verwundern. Nur zahlt den Preis respektive die Differenz des geringeren Hauptsponsorings der VfB, dem Schmidt und Hundt als Aufsichtsräte ebenso verpflichtet sind. Aber Seilschaften? Gibt es nicht.
Das gewichtige Pfund, das Daimler-Vertreter Schmidt damals in die Verhandlungen mit eingebracht haben soll: Mercedes habe sich mit 20 Millionen Euro am Umbau des einstigen Gottlieb-Daimler-Stadions zur reinen Fußball-Arena beteiligt. Im Mai 2009 beginnt dieses 75-Millionen-Euro-Projekt, das auch Bau und Integrierung der Mehrzweckhalle Scharrena umfasst.
Namensrechte zum Schnäppchenpreis
Schmidts Argument mit der 20-Millionen-Euro-Spritze ist natürlich nicht falsch. Doch das ganze Konstrukt ist schon ein wenig komplizierter, wie so häufig bei städtischen Stadien. Als Bauherrin nämlich fungiert die Stadion Neckarpark GmbH & Co. KG. Deren persönlich haftende Gesellschafterin ist die Stadion Neckarpark Verwaltungs-GmbH, nach Aktenlage im Handelsregister eine hundertprozentige Tochter der Landeshauptstadt Stuttgart.
Der VfB, mit einem jährlichen Fixbetrag von etwas mehr als 5 Millionen Euro ohnehin Pächter, schoss 7 Millionen Euro als Einlage in die gemeinsam mit der Stadt gehaltene Stadion Neckarpark GmbH & Co. KG und dazu die weiteren 20 Daimler-Millionen.2 Der Autobauer war zwar bereits Pate des Gottlieb-Daimler-Stadions, das 1933 als Adolf-Hitler-Kampfbahn firmierte und später in Neckarstadion umdeklariert worden war. Rund 10 Millionen D-Mark gab der Konzern für eine Modernisierung im Zuge der Leichtathletik-WM 1993. Angeblich freiwillig. Namensrechte für Stadien, die bisweilen die tollsten Blüten hervorrufen – von der Schauinsland-Reisen-Arena in Duisburg bis zum rewirpower-Stadion in Bochum – sind damals noch gar kein Thema in der Fußball-Bundesliga. Erst später kommt heraus, dass mit dem Zuschuss in den 1990ern die Gottlieb-Daimler-Namensgebung verbunden war, auf unbestimmte Zeit.
Vor dem Hintergrund scheint es geradezu generös, dass der Konzern anno 2008 also weitere 20 Millionen Euro spendiert – und sich hierfür die Namensrechte in Form der Mercedes-Benz-Arena erneut sichert auf 30 Jahre. Was nichts anderes bedeutet als ein Jahressponsoring von gerundeten 666.667 Euro. Das kommt schon in diesen Tagen eher wie ein Trinkgeld daher als marktüblich. Zumal die Summen für diese Form der Werbung rasant wachsen in den 2010er-Jahren. Langfristig gerät der VfB mit diesem Deal sogar ins Hintertreffen: 2020 etwa kassiert der FC Schalke 6,5 Millionen Euro von Veltins für seine Arena, Fortuna Düsseldorf von der Gauselmann-Gruppe 3,75 Millionen Euro. Selbst ein kleiner Klub wie Mainz 05 nimmt deutlich mehr ein, nämlich 2 Millionen Euro – von Autobauer Opel.3
Abhängigkeiten sind kaum von der Hand zu weisen. Der von Staudt angeschobene Umbau zur reinen Fußball-Arena war einerseits alternativlos angesichts der entsprechenden Entwicklung in der Bundesrepublik. Andererseits stellt sich die Frage, wie der Klub die Einlagen anders hätte aufbringen können als mit dem Daimler-Zuschuss? Schmidt macht sich das offenbar zunutze. Statt Porsche kommt Gazi und dann, ab 2012, die Mercedes-Benz-Bank aufs VfB-Dress. Für kolportierte 5 bis 6 Millionen Euro per annum.
Seine Chuzpe, mit Porsche zumindest geredet zu haben, kostet Staudt mutmaßlich das Präsidentenamt. Der Aufsichtsrat schlägt den gebürtigen Leonberger nicht mehr zur Wahl vor. Offiziell heißt es natürlich, dass Staudt, im August 2011 zum Ehrenpräsidenten ernannt, nicht mehr kandidieren möchte. Zugleich öffnet die Nachfolgeregelung ein spannendes Kapitel zur Spezialdemokratie Fußball.
Handverlesen vom Aufsichtsrat nämlich sollte es schon sein, das nächste Vereinsoberhaupt. Die Satzung lässt das nicht nur zu, sie begrüßt das sogar. Laut der damals gültigen Fassung, §15 Absatz 3, wird der Präsident von der Mitgliederversammlung (MV) auf Vorschlag des Aufsichtsrates gewählt. Wenn der vorgeschlagene Kandidat nicht mehrheitsfähig ist, muss binnen drei Monaten eine neue MV her – so ganz nebenbei ein recht teurer Spaß. Verpasst der vorgeschlagene Kandidat auch hier die Mehrheit, bestellt der Aufsichtsrat das neue Kluboberhaupt einfach für vier Jahre. Dabei ist stets von dem Kandidaten die Rede, nicht von den Kandidaten. So sehen Wahlen in gemeinnützigen Vereinen im Fußball Anfang der 2010er-Jahre häufig aus, da ist der VfB kein Einzelfall.
Satzungsfragen sind Machtfragen
Auftritt Helmut Roleder, Meistertorwart von 1984. Die von ihm mitgeführte Opposition um den Bankmanager Björn Seemann und den einstigen VfB-Direktor Thomas Weyhing stellt einen Antrag auf Satzungsänderung. Ziel: Neben dem Kandidaten des Kontrollgremiums sollen auch Kandidaten zur Präsidentenwahl zugelassen werden, „welche die schriftliche Unterstützung von mind. 2 % der Vereinsmitglieder vorweisen können“. Auch das wäre eine hohe Hürde bei einem Traditionsklub. Laut „kicker“-Bundesliga-Sonderheft zur Saison 2011/12 zählt der Verein damals 46.800 Mitglieder. Wer als Volkstribun ans Präsidentenamt will, müsste dann für die Kandidatur mindestens 936 Unterschriften sammeln. Dem Aufsichtsrat bliebe dem Vorschlag gemäß immer noch ein Veto: Wenn einem Bewerber die nötige Qualifikation fehlt oder sich dessen Wahl vereinsschädigend auswirken würde. Die Begründung des Antragsstellers: „Um den Mitgliedern die Möglichkeit zur tatsächlichen ,Wahl‘ eines Kandidaten zu geben, muss es die Möglichkeit für den Aufsichtsrat geben, mehr als einen Kandidaten zuzulassen.“ Klingt zunächst wenig revolutionär, eher basisdemokratisch.
Doch wehe dem, der das VfB-Establishment attackiert. Zumal die hohen Herren längst ihren Kandidaten auserkoren haben: Gerd Mäuser soll es sein. Am 20. Mai 2011 kürt der Aufsichtsrat den ehemaligen Porsche-Marketingvorstand zu seinem Kandidaten. Aus seiner Mitte stammend, wohlgemerkt, schließlich gehört Mäuser dem Kontrollgremium seit 2002 an, wie Hundt. Immerhin: der Schnauzbartträger hat schon etwas anderes gesehen als den Daimler-Stern. Zwar begann seine berufliche Karriere mit einer Kfz-Mechanikerlehre bei Mercedes-Benz, später aber absolvierte er ein Studium zum Diplom-Kaufmann, ehe es ihn zu BMW und später Porsche zog.
Und es dauert nicht lange, da arbeiten sich diverse Granden an den Oppositionellen ab. Die Leiter der einzelnen Klubabteilungen preisen Mäuser in Rundbriefen, Roleder und Co. werden da schon mal als Populisten bezeichnet. Der in der Szene bestens bekannte Ludwigsburger Rechtsanwalt Christoph Schickhardt wirbt, dass er keine demokratischere Satzung in der Bundesliga kenne als die des VfB, und stellt anheim, dass eine Satzungsänderung die Lizenzvergabe durch die DFL gefährde.4
Dieses Argument trägt auch die Klubführung vor in der erweiterten Fassung der Tagesordnung zur MV 2011: „Der Änderungsantrag widerspricht den zwingenden Lizenzierungsvorschriften der DFL (§4 Ziffer 9 Lizenzierungsordnung), die nur die Abstimmung über einen Präsidentschaftskandidaten erlauben. () Eine Abweichung von den Lizenzierungsvorschriften kann zu erheblichen Sanktionen, bis hin zum Lizenzentzug, führen.“ Also wandert der Antrag nicht auf die Tagesordnung der MV 2011.
In der Tat heißt es in einer im Dezember 2012 gültigen Fassung der DFL-Lizenzierungsordnung unter §4, Punkt 9: „Für einen Verein gilt zusätzlich, dass er in seiner Satzung sicherstellt oder sich hierzu verpflichtet, dass die Mitgliederversammlung den Vorsitzenden und gegebenenfalls auch die übrigen Mitglieder des Vorstandes wählt, nachdem zuvor ein Wahlausschuss den Vorsitzenden bzw. die Mitglieder des Vorstandes vorgeschlagen hat, oder ein von der Mitgliederversammlung in seiner Mehrheit gewähltes Vereinsorgan den Vorsitzenden und auch gegebenenfalls die übrigen Mitglieder des Vorstandes bestellt.“ Es ist also stets nur von einem Vorsitzenden die Rede, das ist wahr. Doch wie die VfB-Führung daraus zu schließen, dass „nur die Abstimmung über einen Präsidentschaftskandidaten“ erlaubt sei, ist ein starkes Stück. Renommierte Vereinsrechtler halten diesen Schluss für abenteuerlich. Und selbst wenn er zulässig wäre: Dieser Aufschrei wäre gewaltig gewesen. Der VfB ändert seine Satzung, lässt mehrere Präsidentschaftskandidaten zu – und wird hierfür mit dem Zwangsabstieg bestraft? Einer derartigen Angriffsfläche für die Zulassung demokratischer Grundregeln hätte sich die DFL kaum ausgesetzt.
Die Propaganda verfehlt ihre Wirkung nicht. Mit einer 75-Prozent-Mehrheit könnte die Opposition das dem Aufsichtsrat vorbehaltene Recht, einen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren, kippen, scheitert jedoch. Dennoch watschen die Mitglieder Hundt und Mäuser ab. Ja, der Aufsichtsrat erhält seinen Wunschkandidaten im Präsidentenamt, allerdings sprechen 58,7 Prozent an Zustimmung ohne Gegenkandidaten auch Bände. Ein Abberufungsantrag gegen Hundt erreicht sogar eine knappe Mehrheit von 50,7 Prozent – dass der Arbeitgebervertreter nicht zurücktreten muss, liegt auch hier an der extrem hohen Hürde einer dafür nötigen Dreiviertel-Mehrheit. 100 Tage später wird Mäuser spannende Sachen sagen in einem Interview. Zum Beispiel: „Eine Hauptversammlung ist eine basisdemokratische Angelegenheit. Alle Entscheidungsgewalt geht von den Mitgliedern aus, wie es so schön heißt.“5
Die Tücken des Erfolgs
Alles in Butter also beim VfB? Stimmungstechnisch, sportlich, finanziell? Mitnichten. In jenem Gespräch mit der „Stuttgarter Zeitung“ bestätigt Mäuser, dass Christian Träsch nach Wolfsburg verkauft werden musste und finanzieller Druck herrschte. Er erklärt die Schieflage so: „Wir sind in die Champions-League-Falle getappt. 2007 holen wir den Titel, sind für die Champions League qualifiziert. Dann kommt der Jungprofi XY und sagt, dass er jetzt Nationalspieler ist und mehr als 1,9 Millionen Euro verdienen möchte. Er will 4,3 im nächsten Jahr, 5,4 im übernächsten und 6,3 Millionen Euro im überübernächsten. Diese Zahlen sind nicht erfunden.“ Das mag vielleicht sogar so sein, doch angesichts spektakulärer Fehlinvestitionen wie Pavel Pogrebnyak oder schon vor dem Titel Danijel Ljuboja stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, eigenen Talenten den ein oder anderen Euro mehr zu bezahlen – gerade mit Blick auf den Faktor Vereinsidentifikation.
In dieser politisch-strukturell instabilen Lage beruhigt sich das Fahrwasser für Management und Trainer immer nur situativ. Der Klub wirkt getrieben von Machtkämpfen, Gremienpolitik, Einzelinteressen. Christian Gross startet als Coach stark im Dezember 2009, führt den zwischendurch abstiegsbedrohten Klub auf Rang sechs. Doch der Schweizer verstrickt sich in Grabenkämpfe, auch mit den Kontrolleuren. Nach seiner Demission und einem Intermezzo mit Jens Keller hält sich Bruno Labbadia beinahe drei Jahre im Sattel, fast schon eine Ewigkeit. Doch dem Darmstädter und Fredi Bobic als Sportchef werfen die Ansprüche von Fans und Umfeld immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Die landläufige Meinung: Der VfB müsste Dritter sein, nicht 13. Auch der Ex-Stürmer muss gehen, im September 2014.
„Ich habe den Eindruck, dem VfB hat zuletzt ein Plan gefehlt, eine Philosophie, in der sich die Fans, die Sponsoren und auch mögliche Investoren hätten wiederfinden können. Deswegen hat der Mannschaft, die zwar über durchaus gute Einzelspieler verfügt, auch die nötige Struktur gefehlt“, wird Dieter Hoeneß, in den 1970ern Torjäger und den 1990ern Manager in Bad Cannstatt, wenig später dem „kicker“ sagen.
Andauernde Vollrotation
Woran könnte diese Inkonstanz wohl liegen? Vielleicht auch daran, dass der einst vom Aufsichtsrat durchgedrückte Mäuser bereits seit 2013 wieder Geschichte ist? Das Personalkarussell, frei nach Ottmar Hitzfeld in einer andauernden Vollrotation, zieht sich wie ein roter Faden durch das Jahrzehnt des Niedergangs. Bereits im Frühjahr ist in lokalen Medien von einer aussichtlosen Lage für Mäuser die Rede, der sich nie von Hundt freigeschwommen habe – wen wundert es angesichts der Umstände seiner Wahl? Im April 2013 kündigt Mäuser an, zum 3. Juni 2013 zurückzutreten, nicht ohne sich in einer persönlichen Erklärung als Opfer der Umstände und speziell der Berichterstattung darzustellen.
Auch Hundt legt sein Amt im Juni nieder, wenngleich der Klub auch ohne ihn in sportlichen Fragen weiter irrlichtert. Mit dem Eigengewächs Thomas Schneider auf der Trainerbank soll nach Labbadia alles besser werden. Man hofft auf eine Wiedergeburt der „jungen Wilden“. Schon im März 2014 ist Schneider passé. „Es wäre der richtige Weg gewesen“, glaubt Hoeneß. „Leider hat die Verantwortlichen der Mut wieder verlassen. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Trainer mehr zu stärken. Philosophie birgt Risiken, ohne sie kann aber wenig wachsen. Das wäre eine Chance gewesen, wieder zu einer eigenen Identität zu finden.“
Unter Stevens gelingt gerade so der Klassenerhalt 2014. Nachfolger Veh scheitert grandios, wieder muss der alte Stevens den VfB retten. Doch danach tut sich eine neue Chance auf, vielleicht die größte der vergangenen Jahre. Sie ist 1,90 Meter groß, schlaksig und in Diskussionen hartnäckig bis anstrengend. Aber fußballerisch höchst erfolgreich, bis hin zum Champions-League-Triumph 2021 mit dem FC Chelsea. Diese Chance heißt Thomas Tuchel. Und wer wären die Verantwortlichen beim VfB, hätten sie sie nicht in traumwandlerischem Dilettantismus vergeigt wie weiland Dieters Bruder Uli seinen Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad?
Verpasste Chance
Ans Licht kommt der Sachverhalt aber erst auf der Mitgliederversammlung im Oktober 2015, und zwar durch den Blogger Christian Prechtl. In einer bemerkenswerten Rede rechnet Prechtl mit den Verantwortlichen ab, speziell den Daimler-Vertretern Wilfried Porth und Schmidt. Letztgenanntem unterstellt er, Tuchel auf beispiellose Art und Weise abgesagt zu haben. Der in der Branche als eigenwillig geltende, aber für seine Fähigkeiten höchst anerkannte Coach hatte wenige Monate zuvor unter medialem Getöse vorzeitig sein Amt bei Mainz 05 geräumt, um ein Sabbatjahr einzulegen. Angeblich, so der Vorwurf, habe Schmidt dem späteren DFB-Pokalsieger-Trainer von Borussia Dortmund per SMS abgesagt, weil der zu viele Kompetenzen gefordert habe. Die Version des Daimler-Mannes liest sich in der medialen Darstellung ein wenig anders: Tuchel habe sich im Frühjahr 2015 noch nicht festlegen wollen. Der dringende Handlungsbedarf habe ihn dann zur Absage gezwungen, die SMS sei lediglich zu dem Zweck gesendet worden, ein Telefonat zu vereinbaren, um dies mitzuteilen.6
Unabhängig davon, welcher Version man nun Glauben schenken mag: Das Resultat ist, dass nicht Tuchel kommt. Sportvorstand Dutt verpflichtet zur Saison 2015/16 den Trainer Zorniger, der schon im November 2015 wieder gehen muss. Nachfolger Kramny kann den Abstieg im Sommer 2016 trotz eines Zwischenhochs nicht mehr verhindern. Es gibt Menschen, die behaupten, dass das Duo Dutt/Zorniger der letzte sportliche Nagel in den VfB-Sarg war. Schmidt jedenfalls tritt nach der hitzigen MV zurück, auch weil die Mitglieder dem Kontrollgremium die Entlastung verweigern.
Bernd Wahler lobt diesen konsequenten Schritt Schmidts. Bernd wer? Ja, der ehemalige Sportartikel-Manager folgt als Präsident auf Mäuser. Ein gemütlicher Typ. Dabei zeichnet sich immer mehr ab: Der VfB braucht frisches Geld. Eine Ausgliederung samt Anteilsverkauf könnte Millionen in die Kassen spülen – doch nach dem sportlichen Niedergang der Vorjahre, chaotischen Verwerfungen auf der Führungsetage, verhinderter Mitgliederdemokratie ist das Vertrauen auf Niveau null. Um den Boden zu bereiten für die notwendige 75-Prozent-Mehrheit bräuchte es eine stringent durchgezogene Ausgliederungskampagne, mit Propaganda, PR-Tricks, auch harten Diskussionen. Der nette Herr Wahler ist dafür nicht der Richtige. Doch die hohen Herren haben da schon jemanden im Auge.