Читать книгу Plötzlich Rassist - Benjamin von Thaysens - Страница 6

Оглавление

Kapitel 2 – Wie alles begann

Ich wollte immer sein wie Karl Siebrecht, der Hauptakteur in Hans Falladas Roman Ein Mann will nach oben. Er handelt vom Aufstieg Karl Siebrechts, der nach dem Tod seines Vaters zum Vollwaisen wurde, sein Heimatdorf verließ und nach Berlin zog, um Karriere zu machen. Ich fühlte mich lange in meinem Leben wie Karl Siebrecht. Diese Geschichte von der Rohheit der alten Wirtschaftswelt in der Vor- und Nachkriegszeit Deutschlands, der der Feingeist Karl Siebrecht gegenüberstand und erfolgreich meisterte, faszinierte mich und hatte zudem ein Happy End. Ich beschloss daher, meinen Weg zu gehen – wie Karl Siebrecht.

Ich wollte ein Manager werden, ein richtig guter Manager. Kein selbstgefälliger Schaumschläger und Sprücheklopfer im Maßanzug, wie die, die ich oft Austern schlürfend auf Empfängen sah. Meine Ziele waren viel größer, viel ehrgeiziger: Mein Anspruch war es, die gesamte Klaviatur aus Fachwissen, Führungskompetenz, Empathie und fein klingender Kommunikation zu beherrschen, aufzusteigen und trotzdem bescheiden zu bleiben. Das wollte ich. Ich konnte nur gewinnen, ich kam ja aus einfachen Verhältnissen.

Meine Mutter verließ unsere Familie, als ich 18 Jahre alt war, zwei Jahre nach der Silberhochzeit meiner Eltern. Mein Vater starb ein Jahr, nachdem sie weg war. Meine beiden Brüder und ich lebten uns nach dem Tod des Vaters auseinander. Es gab keinen Streit zwischen uns, wir hatten uns einfach nur nicht mehr viel zu sagen. Jeder kümmerte sich ums sich selbst.

Ich konnte mich also ganz auf meinen Weg konzentrieren, war ehrgeizig und wissbegierig, ungebunden und mobil. Die Reise konnte beginnen.

Zuerst verschlug es mich nach meiner kaufmännischen Ausbildung und Bundeswehrzeit nach Bayern, wo Fachkräfte gesucht wurden. Wo Fachkräfte Mangelware sind und das wirtschaftliche Wachstum scheinbar grenzenlos ist, würden früher oder später Führungskräfte gesucht, urteilte ich. Ich lag richtig, wie sich herausstellte, es war meine erste gute Managerentscheidung.

Ich startete durch und arbeitete oft doppelt so viel wie meine Kollegen. Nicht weil ich es musste, sondern weil es mir Spaß machte. Ich war schier grenzenlos motiviert, hatte Kraft wie ein Gewichtheber und Ausdauer wie ein Triathlet. Wenn Arbeitskollegen nach Hause gingen, arbeitete ich weiter, manchmal die ganze Nacht, analysierte Daten und Fakten und traf darauf basierend präzise Entscheidungen.

Ich absolvierte nebenbei drei Jahre lang eine fachspezifische Weiterbildung zum Logistiker. Direkt im Anschluss, wieder nebenbei, absolvierte ich ein Studium und war fortan Diplomökonom, ein Akademiker. Ich bekomme heute noch Gänsehaut vor Stolz, wenn ich daran denke, wie ich die Diplomurkunde das erste Mal in Händen hielt.

Aber ich wollte noch mehr. Immer hatte ich Karl Siebrecht vor Augen, diesen Wirtschaftsakteur und sprachlichen Feingeist. Ich recherchierte wochenlang, bis ich das richtige für mich fand: ein Sozialkompetenz- und Kommunikationsstudium an einer Fachhochschule. Das war es, was ich suchte, um meine Sprache und mein Verständnis für Menschen weiter zu perfektionieren. Ich meldete mich an, nahm neben dem Selbststudium die Seminare wahr, die einmal im Monat stattfanden, und schloss das Studium nach drei Semestern erfolgreich ab.

Ich war jetzt für alle Aufgaben gewappnet: Aus dem Industriekaufmann wurde ein Logistiker und aus dem Logistiker schließlich ein Ökonom und Kostenexperte, wie diejenigen bezeichnet werden, die in Unternehmen einen besonderen Fokus auf Kostenreduzierung legen. Ich wurde eine Kapazität auf meinem Gebiet, ein Manager, der scheinbar aussichtslose Geschäftsbereiche zum Florieren brachte. Ich stieg vom Projektassistenten zum Seniorberater auf und stemmte schließlich erfolgreich Großprojekte.

Dann folgte der nächste große Schritt in meiner Karriere: Ich bekam einen Anruf von einem Headhunter, der mich im Auftrag eines Unternehmens aus Niedersachsen anwerben wollte. Ich war stolz, meine Leistungen hatten sich herumgesprochen.

Schon eine Woche später saß ich im Zug auf dem Weg zu der Firma, für die mich der Headhunter aufgespürt hatte. Diese Reise entwickelte sich für mich wie eine spannende Expedition ins Paradies: Ich lernte Karsten Otterpohl kennen, eine Begegnung wie ein Lottogewinn – beruflich und intellektuell. Carsten Otterpohl war der Geschäftsführer eines großen mittelständischen Dienstleistungsunternehmens mit 5.000 Beschäftigten. Er zeigte mir in unserem Gespräch eine schlüssige Perspektive auf. Ich überlegte ein paar Tage und nahm sein Angebot dann an. Drei Monate später zog ich von Bayern nach Niedersachsen.

In einer Art Traineeprogramm leitete ich zunächst in einer Stabsfunktion von Carsten Otterpohl das Projektmanagement: eine Aufgabe, die im Kern das Ziel verfolgte, Kostenfaktoren zu ermitteln und zu eliminieren; meine Lieblingsdisziplin. Dieses Gebiet beherrschte ich aus dem Effeff. Ich war nicht nur zielorientiert, ehrgeizig und wissbegierig, sondern auch mutig; kein Projekt schien mir zu groß. Ich arbeitete manchmal drei Tage durch, bis ich die beste Lösung für Carsten Otterpohl parat hatte.

Ich absolvierte während dieser Zeit Führungsseminare auf Kosten des Unternehmens und wurde so vom Rohdiamanten zum Edelstein geschliffen, wie Carsten Otterpohl später meinte.

Nach zwei Jahren erhielt ich eine Beförderung und übernahm eine Position als Bereichsleiter. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag: Ich bezog ein riesiges und komfortabel ausgestattetes Büro auf der sogenannten Teppichetage im obersten Stockwerk, da, wo jeder Karrierist landen möchte; mit einem atemberaubenden Ausblick über die ganze Stadt. Mein erster Firmenwagen glänzte vor dem Haupteingang wie ein frisch polierter Kristall, mein Girokonto füllte sich kräftig. Selbstverständlich erhielt ich eine Assistentin – meine erste persönliche Assistentin! Wow, dachte ich! War ich jetzt am Ziel meiner Träume angelangt?

Carsten Otterpohl verließ drei Jahre später das Unternehmen und wurde CEO in einer Kölner Aktiengesellschaft mit Tochterunternehmen in ganz Deutschland. Ein Jahr später folgte ich ihm. Ich hätte das nicht gemusst, bei mir meldeten sich nämlich oft Headhunter, um mich für andere Unternehmen abzuwerben. Manchmal testete ich meinen Marktwert, indem ich Gespräche mit anderen Unternehmen führte. Ich hätte tatsächlich woanders viel mehr Geld verdienen können als bei Carsten Otterpohl. Es gab aber etwas anderes als Geld, was mich an der Zusammenarbeit mit ihm faszinierte: seine totale Erfolgsorientierung verbunden mit seiner menschlichen, authentischen und ehrlichen Art. Wäre das Unternehmen in Flammen aufgegangen, hätte er jeden einzelnen Mitarbeiter persönlich gerettet. In hitzigen Situationen bewahrte er immer die Ruhe und das strahlte auf das ganze Umfeld aus. Kein Mitarbeiter empfand Druck bei ihm, obwohl er geschäftliche Vorgänge extrem beschleunigte und gehörig aufs Tempo drückte. Er ließ seinen Führungskräften Freiraum für die Umsetzung von Ideen und forderte Kreativität ein. Mangelte es an Kreativität, reizte er sie geschickt an. Er sprach nie über Kollegen und Mitarbeiter, die nicht im Raum waren. Er redete mit den Menschen. Man hörte ihn nie klagen oder sich beschweren. Jeder Mitarbeiter wurde von ihm gleich wertgeschätzt, egal ob Arbeiter an der Maschine oder Bereichsleiter im Maßanzug – er machte keine Unterschiede. Carsten Otterpohl hatte ein Gespür für gute Geschäfte. Er war ausgeglichen und ruhte in sich. Diese Aspekte waren es, die herausragende Ergebnisse produzierten. Ich war nie ein Schleimer, ich biederte mich bei niemandem an, auch nicht bei ihm. Wir waren manchmal unterschiedlicher Auffassung, das durfte man bei ihm sein, er forderte geradezu andere Meinungen und Standpunkte von seinen Führungskräften ein. Ich hatte trotzdem nie das Gefühl, mit ihm zu streiten. Sachliche Diskussionen, harte Fakten und stichhaltige Argumente prägten unseren Diskurs. Diesen Stil mochte ich. So war ich auch – und ganz sicher auch Karl Siebrecht.

Jetzt war ich also wieder bei Carsten Otterpohl und leitete einen Betrieb in Rheinland-Pfalz. Selbstverständlich bekam ich einen größeren Firmenwagen, mehr Gehalt und einen riesigen Kompetenzspielraum, ich war ja jetzt ein Firmenlenker. Ich hatte meine Ziele erreicht und dank meiner Mobilität viele Teile Deutschlands gesehen. Ich kam aus einem kleinen Dorf in Westfalen, zog nach Bayern, weiter nach Niedersachsen und von dort nach Rheinland-Pfalz innerhalb von nur wenigen Jahren.

***

Zwischenzeitlich hatte ich Carola kennengelernt. Sie hatte wie ich das Sozialkompetenz- und Kommunikationsstudium absolviert; wir waren im selben Seminar. Carola ist Berlinerin, aber ohne die berüchtigte freche Schnauze, sie ist eher eine leise Person. – Im Gegensatz zu mir, ich bin mehr der extrovertierte Typ.

Ich erinnere mich noch genau an unser erstes gemeinsames Studienwochenende: Sie saß mir gegenüber, trug ein dunkelblaues langärmliges Sweatshirt, Bluejeans, Sneaker und hatte einen niedlichen Kurzhaarschnitt. Ich mochte sie sofort, ohne sie zu kennen.

Schnell bildete sich unter den Kommilitonen eine Fünfergruppe heraus. Wir verabredeten uns, welches Hotel wir buchten, und trafen uns freitagabends. Carola gehörte dazu. Alle anderen Studierenden reisten samstags morgens direkt vor den Seminaren an. Ich freute mich vorher tagelang auf diese Treffen. Besonders weil Carola dabei war. Wir unterhielten uns an diesen beschwingten Freitagabenden über Sport, Mode, Kunst, Musik … über alles Mögliche, nur nicht über unsere Arbeit. Nicht über die Arbeit zu reden war für mich neu, jedoch überraschend erholsam. Wir aßen gemeinsam zu Abend, tranken zur Verdauung einen Ramazotti, danach Bier, Wasser, Apfelschorle … Carola trank Rotwein, meistens einen tiefroten Merlot. Die Abende verliefen kurzweilig, oft bis weit nach Mitternacht.

Am nächsten Abend, nach den Seminaren, ging der gesamte Kurs mit den Professoren zum Essen. Carola war immer an meiner Seite. Ich achtete darauf, sie in meiner Nähe zu haben, möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Wir unterhielten uns pausenlos, fanden immer interessante Themen, tauschten Standpunkte aus, scherzten miteinander, foppten uns und lachten viel. Wir hatten einen tollen Draht zueinander, so unterschiedlich wir auch waren.

Wir gingen indes kein Verhältnis ein. Es lief nichts zwischen uns. Nicht mal ein Kuss. Als das Studium endete, tauschten Carola und ich unsere Handynummern aus und schrieben uns von Zeit zu Zeit eine SMS. Nicht oft, vielleicht einmal im Vierteljahr. Wir versicherten uns nur, dass es uns gut ginge. Wir wohnten weit auseinander: sie in Berlin, ich in Bayern.

Das änderte sich, als Carola mich eines Abends anrief. Sie war verzweifelt, weinte und schluchzte wie ein kleines Mädchen, das bei Ikea seine Mutter verloren hatte. Wahnsinn, dachte ich; so kannte ich sie nicht. Trotz ihrer Verzweiflung war sie noch höflich, fragte mich, ob ich Zeit für sie hätte, ihr ein bisschen zuhören könne.

»Natürlich!«, schoss es aus mir heraus.

Sie erzählte mir dann von der schweren Erkrankung ihres Vaters, dass es verdammt ernst sei und er um sein Leben kämpfe. Dass ihre Mutter und sie keine Kraft mehr hätten, jeden Tag das Krankenbett zu hüten. Geschwister hat Carola nicht.

Ich hörte ihr zu, einfach nur geduldig zu. Wir telefonierten stundenlang. Ich erzählte ihr von meinen eigenen Erfahrungen, als mein Vater schwer erkrankte, machte ihr Hoffnung, sprach ihr Mut zu.

In der nächsten Zeit rief ich Carola täglich an, wollte wissen, wie es ihr ging, machte mir Sorgen um sie. Ich interessierte mich dafür, wie es um ihren Vater stand. Von da an riss unser Kontakt nicht mehr ab. Wir schrieben uns täglich SMS, E-Mails und telefonierten abends stundenlang. Wir wurden uns Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat vertrauter, ohne uns nur einmal zu treffen. Ich hatte nie zuvor so ein Vertrauensverhältnis zu einem anderen Menschen aufgebaut. Ich hatte mich immer nur um meine Karriere gekümmert, da war kein Raum für so was. Ich hatte zwar die ganze Zeit eine Partnerin, es war aber nicht so, dass ich mir eine tiefere Beziehung oder sogar Ehe vorstellen konnte. Ich war distanziert, ließ andere nicht an mich heran. Ich baute um mich eine Schutzzone auf, wie die Firewall eines Computers, die Alarm schlägt, wenn sich jemand unbefugt Zutritt verschaffen will. Meine Partnerin sah ich nicht häufig; im Nachhinein frage ich mich, was das eigentlich für eine Beziehung war.

Ich war eindeutig auf der Erfolgsspur: beruflich aufgestiegen wie ein Fahrstuhl direkt vom Keller in die zehnte Etage. Ohne Zwischenstopp. Dazu knallte Carola in mein Leben wie ein riesiges rosarotes Überraschungspaket mit Schleifchen drum. Zudem stand zu jener Zeit gerade mein beruflicher Wechsel von Bayern nach Hannover an. Meine Recherchen ergaben eine Reisedauer von anderthalb Stunden für die Strecke Hannover-Berlin, was fantastisch war. Meine bayerische Partnerin und ich trennten uns. Sie hatte mir ohnehin immer klar gemacht, aus Bayern nicht wegziehen zu wollen, sie war nun mal sehr heimatverbunden. Die Trennung verlief klar und sauber, ohne Groll und Nachtreten. Wir wünschten uns alles Gute, was wirklich von Herzen kam. Mir war dieser Einklang wichtig, denn ich bin nicht der Typ, der andere einfach so sitzen lässt, abhaut, austauscht. Da bin ich wohl durch meine Mutter geprägt, die unsere Familie damals sitzen ließ. Trotz meiner distanzierten Art legte ich immer großen Wert auf Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Kontinuität; privat und beruflich.

Ich zog also nach Hannover und arbeitete mich zunächst intensiv in meine neue Aufgabe ein. Zugleich hielt ich es für sinnvoll, nach der Trennung von meiner Ex-Partnerin etwas abzuwarten, um mich perfekt und ohne Altlasten auf Carola einlassen zu können.

Etwa drei Monate danach, Carola und ich standen immer noch im Dauerkontakt, meldete ich meinen Besuch bei ihr in Berlin an. Ich buchte Bahnticket und Hotel direkt am Ku’damm und freute mich tierisch, sie wiederzusehen. Ich hatte ein Kribbeln im Bauch, wie ein kleiner Junge vor der Weihnachtsbescherung! So was kannte ich bis dahin nicht.

Carola holte mich freitagnachmittags vom Bahnhof ab. Seitdem sind wir ein Paar, mittlerweile 14 Jahre, davon drei verheiratet.

Ich möchte keinen Tag mit Carola gegen einen Tag ohne sie eintauschen. Sie ist das Beste, was mir je passiert ist: Meine große Liebe, mein Lebensanker, mein Ruhepol! Man hört sie kaum, wenn sie zu Hause ist und durch die Wohnung schreitet, wie eine Katze auf ihren Samtpfoten. Ich mag das, es verleiht mir Ruhe und Geborgenheit. Sie ist in meiner Nähe. Sie ist immer für mich da, fühle ich tief in mir. Und ich bin für sie da. Ich würde Carola einen Arm von mir transplantieren lassen, wenn sie einen bräuchte, so sehr liebe ich sie!

Als die Standesbeamtin bei unserer Hochzeit den Standardspruch: In guten wie in schlechten Zeiten aufsagte, hatte ich keine Vorstellung davon, was schlechte Zeiten sein könnten. Jetzt weiß ich es! Und verstehe es!

Wir hatten eine wunderschöne Hochzeitsfeier, gediegen, alle waren festlich gekleidet. Später wurde es rauschende Party. Meine ganze Familie war da, meine guten alten Freunde aus der Heimat. Ich erinnere mich jeden Tag voller positiver Emotionen daran.

Wir verbrachten jedes Wochenende miteinander. Sie zeigte mir Berlin, brachte mir Kunst und Kultur näher. Ich entwickelt großes Interesse für die Kunst, Marc Chagall wurde zu meinem Lieblingsmaler. Wir gingen Tanzen, erlebten ausgelassene Abende und besuchten Theatervorstellungen im Schlossparktheater gleich um die Ecke. Durch Carola lernte ich ganz andere Seiten im Leben kennen, die mir bis dahin verborgen geblieben waren.

Aber auch ich brachte Einflüsse in Carolas Leben, die sie vorher nicht kannte. Neben meiner Arbeit war mir Sport wichtig: Wir gingen zum Fußball. Immer wenn mein Lieblingsverein, der HSV in Berlin spielte, machten wir uns auf ins Olympiastadion. Wir besuchten auch die Handballspiele der Füchse Berlin, jubelten, schrien, feuerten an, waren ausgelassen wie tobende kleine Kinder. Wir gingen gemeinsam Joggen. Carola trainierte unter meiner Anleitung Atemtechniken und wurde eine gute Ausdauersportlerin. Sie mag es jetzt, sich auszupowern, wenn sie erschöpft vom Job nach Hause kommt.

Nach ein paar Monaten nahmen wir uns eine gemeinsame Wohnung in Berlin; eine schöne Altbauwohnung mit hohen Wänden und alten Holzdielen, die knarzten. Wir mögen dieses Morbide, es hat in unseren Augen Charme. Ich hatte jetzt richtige Anker im Leben: Carola und unsere gemeinsame Wohnung. Zum ersten Mal verspürte ich ein Gefühl von Angekommensein, von Zuhause. Auch mein Jobwechsel nach Rheinland-Pfalz änderte daran nichts: Berlin blieb unser Lebensmittelpunkt. Wir mussten zwar etwas längere Reisezeiten in Kauf nehmen, ließen uns davon jedoch nicht beeindrucken. Wir empfanden diese Brüche – mal Berlin, mal Worms, wo ich von nun an arbeitete – als Bildungsreisen. Es gab für uns überall etwas Spannendes zu entdecken. Wir waren neugierig. Wir hatten uns. Das war das Wichtigste.

***

Fünf Jahre später verließ Carsten Otterpohl das Unternehmen. Unserer Aktiengesellschaft, der er vorstand, wurde von einem internationalen Finanzkonzern übernommen; eine feindliche Übernahme, wie es in der Wirtschaft heißt. Carsten Otterpohl stemmte sich zunächst energisch der Übernahme entgegen, war am Ende jedoch gegen die Finanzkraft der Gegenseite machtlos. Er verließ das Unternehmen umgehend, ging mit Anfang sechzig in den Ruhestand und nahm verschiedene Aufsichtsratsposten an. Er ließ es fortan ruhiger angehen. Aus seiner Sicht verständlich, aber ich fand es schade, er war schließlich eine grandiose Führungspersönlichkeit und hatte einen tadellosen Ruf in der Branche. Wir sahen uns nun nicht mehr täglich, sondern nur noch höchstens vierteljährlich zu Managementmeetings. Einzelgespräche zwischen uns gab es fast nicht mehr, nur vereinzelnde Telefonate. Ich war, seit ich die Position in Worms angenommen hatte, mein eigener Herr, musste lediglich ihm Bericht erstatten beziehungsweise seine Assistenten, ähnlich wie ich früher einer von ihm war. Direkten Kontakt hatten wir also nicht mehr viel, was von ihm gewollt und gefördert wurde. Ich war mit dieser Situation zufrieden, konnte endlich völlig frei agieren, was schon immer mein Ziel war.

Der Konzern wurde dann ausgedünnt, von den neuen Inhabern filetiert und zerschlagen. Mein Unternehmen hielt sich lange im Konzern, denn ich produzierte sehr gute Ergebnisse und brachte den Investoren reichlich Ertrag ein – bis ich nach drei weiteren Jahren merkte, dass es mir nun genauso erging wie vielen Kollegen, die längst das Unternehmen verlassen hatten: Jetzt war ich an der Reihe, mein Unternehmen stand zum Verkauf. Der Grund erschloss sich mir nicht, zumindest nicht aus Unternehmersicht; aus Sicht eines Finanzhais hingegen schon: Die Kuh bringt mehr ein, solange sie fett ist.

Carola und ich tauschten uns aus und suchten nach Lösungen. Diese Situation bot die beste Gelegenheit, gemeinsame Wege zu gehen und das Reisen einzustellen, fanden wir. Es war Zeit, unser Nomadenleben zu beenden und eine Zukunftslösung zu kreieren, die es uns ermöglichte, jeden Tag miteinander zu verbringen. Die gemeinsamen Wochenenden und Urlaube in Lissabon, am Gardasee, auf Sizilien, Sardinien oder den tollen Nordseeinseln Amrum und Langeoog waren zwar immer super, aber auf Dauer zu wenig für uns. Wir diskutierten uns die Köpfe heiß, bis wir nach etlichen Wochen des Suchens und Abwägens eine Marschroute vereinbarten, wo es für uns hingehen sollte: Die erste Priorität war Berlin, dort war unser Lebensmittelpunkt. Die zweite Priorität war Meer oder Berge, Hamburg oder Bayern. Hamburg ist eine wunderbare Stadt, die mochten wir beide, in Bayern wiederum könnte ich an alte Zeiten anknüpfen, hatte noch viele Bekannte in der Region. Zudem lebt Carolas Onkel dort, zu dem sie einen tollen Draht hat. Carola war Grundschullehrerin und würde aufgrund des landesweiten Lehrermangels problemlos eine Stelle finden, wie wir herausgefunden hatten. Ich streute zu der Zeit diskret meinen beruflichen Abkehrwillen im Markt, legte Fährten zu Headhuntern und wartete geduldig, bis sich etwas tat. Eile hatten wir nicht, ich war vertraglich langfristig an meinen Arbeitgeber gebunden.

In Berlin tat sich zu unserem Ärger für mich nichts. Hier ruhte der See so still wie ein kleiner Dorftümpel. Angeboten aus Hamburg mangelte es in meinen Augen an Attraktivität. In Bayern ging hingegen für mich die Post ab – schon wieder. Sollte sich etwa an meiner Einschätzung bezüglich guten Personals aus meiner Durchstartzeit nichts geändert haben? Es war so, definitiv! Das Feedback war überwältigend und wir beschlossen, nach Bayern zu ziehen. Carola jodelte fortan immer so niedlich schräg wie eine krächzende Krähe. Ich versprach ihr eigentlich mehr scherzhaft, ihr einen Jodelkurs und ein Dirndl zu finanzieren, sobald sie nachkäme. Sie willigte ein und war fest entschlossen, einen Jodelkurs zu absolvieren – oder veralberte sie mich nur? Ich weiß es bis heute nicht. Sie war jedenfalls voller positiver Emotionen. Wir hatten echt Spaß an der Sache und mächtige Vorfreude auf unsere gemeinsame Zeit. Carola machte eine Liste mit Orten, Wanderwegen, Museen, Konzerthallen, Städten, Restaurants und Kneipen, die »wir uns sofort anschauen müssen«, wie sie euphorisch einforderte. Ich musste lachen und freute mich über ihre Begeisterung. Ich mag es, wenn sie unsere Aktivitäten plant und voll darin aufgeht.

Ich entschloss mich aus gutem Grund, ein Familienunternehmen in Augsburg, mit Niederlassungen in München und Nürnberg zu wählen. Wir suchten für uns eine tragfähige, vor allem langfristige Lösung und diese erschien uns in einem Familienunternehmen, das laut dem Inhaber Karl Huber auf der Erfolgsspur war, am besten erreichbar. Karl Huber vermittelte mir den Eindruck eines bodenständigen Unternehmers. Mein Nomadenleben musste beendet werden, das war beschlossene Sache.

Ich wurde Abteilungsleiter in einem Handelsunternehmen. Mein Kompetenzspielraum reduzierte sich zwar im Gegensatz zu meinen Vorunternehmen, aber das war andererseits für mich nicht mehr so bedeutend, weil ich endlich mit Carola ein gemeinsames Familienleben führen konnte: Im Job einen Schritt zurück, mit Carola einen Schritt vor, so war es das Beste, fand ich. Das Gehalt stimmte, der Firmenwagen auch.

Das Unternehmen befand sich nordwestlich von Augsburg in einem kleinen Dorf; es gab immerhin einen Bahnhof. Aus meinem Büro blickte ich auf eine saftige grüne Wiese mit Kühen. »Auch schön und so inspirierend«, sagte ich mir am ersten Tag. Ein derartiger Ausblick war mir neu.

Ich bezog ein komfortables Apartment in der Augsburger Innenstadt mit genügend Raum für Carola und mich. Ich brauchte nur meine Kleidung in den Schrank hängen, das Bett beziehen und mein Waschzeug im Bad platzieren. Es war voll ausgestattet und genau richtig für einen Wochenendheimfahrer, der nicht in einen Zweitwohnsitz investieren wollte. In Augsburg gab es eine Vielzahl dieser Apartments, hier brummte die Wirtschaft. Internationale Fach- und Führungskräfte wurden von Arbeitgebern wie Kuka auf Zeit angeworben und die suchten alle eine kleine Wohnung. – Wer will schon gerne für längere Zeit im Hotel wohnen?

Carola und ich beschlossen, eine Einarbeitungsphase von einem Jahr abzuwarten, bevor sie nachkommen würde. Mit dem ICE dauerte die Fahrt von Augsburg nach Berlin viereinhalb Stunden, das war noch okay. Wir wechselten uns ab: Ich reiste Freitagsmittags nach Berlin, Carola kam meistens schon donnerstags nach Augsburg. Die Stadt gefiel ihr auf Anhieb, besonders die schönen kleinen verwinkelten Gässchen in der Altstadt. Es gab Museen und Ausstellungen, ein tolles Theater, schicke Restaurants, urige Gasthöfe, volle Biergärten. Um die Ecke unseres Apartments war eine schöne Joggingstrecke, das Umland erkundeten wir mit Fahrrädern.

Ich kannte Augsburg aus meiner früheren Bayernzeit und musste mich nicht groß eingewöhnen. Carola schon; sie wunderte sich, wenn die Menschen sie grüßten; die bayerischen Schwaben dort sind sehr freundlich, im Gegensatz zu den rotzigen Berlinern.

Dass diese Entscheidung meinen Untergang einleitete, ahnten weder Carola noch ich. Es fing doch alles so vielversprechend an …

Plötzlich Rassist

Подняться наверх