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Christinas Kindheit

Christinas zweites Lebensjahr war geprägt von vielen kleinen gesundheitlichen Rückschlägen und zum Teil heftigen Darmproblemen. Auffallend war, dass es ihr im Winter deutlich schlechter ging als im Sommer – ebenfalls ein Phänomen, das sich erst nach Jahren aufklären sollte. In der kalten Jahreszeit häuften sich jeweils auch später noch die Infekte und andere Herausforderungen massiv.

Zu den jahrelangen Dauertherapien in Christinas Kindheit gesellten sich außerdem regelmäßige medizinische Entwicklungskontrollen. Motorisch lag das Mädchen gegenüber dem üblichen Entwicklungsstand zunächst weit zurück, doch mit 18 Monaten konnte sie endlich vollständig gehen und plauderte wie ein normales Kind. Essen und Trinken aber konnte sie trotz täglicher Bemühungen noch immer nicht selbständig. Sie wurde weiterhin rund um die Uhr mit enorm kleinen Mengen per Sonde versorgt.

Die Situation war für uns insgesamt sehr belastend und ungewiss, also nicht wirklich so, dass man gleich eine zweite Schwangerschaft herbeisehnen würde. Dennoch wollte ich mir nicht vorstellen, dass Christina als Einzelkind aufwachsen würde. Ich verfügte zwar nicht über die Erfahrung einer «normalen» Schwangerschaft, aber ich erhoffte mir eine solche. So wurde ich in dieser Zeit wieder schwanger und erlebte zu meiner großen Freude eine sehr schöne, weitestgehend unkomplizierte zweite Schwangerschaft. Im Hitzesommer 2003 legte ich satte 19kg zu, dennoch fühlte ich mich rundum wohl und joggte sogar noch bis in den sechsten Monat. Es war ein völliger Kontrast zur vorherigen Schwangerschaft, und ich war dankbar für beide Erfahrungen.

Am 28. November 2003 kam unser Sohn Mario zur Welt, rund zweieinhalb Jahre nach den Zwillingen. Damit war unsere kleine Familie komplett.

Allerdings folgte nun wieder eine sehr anstrengende erste Zeit. Ich hatte nachts nicht nur alle zwei Stunden Christina zu sondieren, sondern zusätzlich auch noch Mario zu stillen. So waren wir Eltern jede Nacht am Rotieren. Mario war glücklicherweise ein ungemein zufriedenes Baby und schlief schon bald durch. Christina war meist lange wach, weinte jedoch selten, war stets zufrieden und schien im Rahmen der Umstände insgesamt topfit zu sein. Es war mir ein Rätsel, woher dieses Kind seine Lebensenergie nahm, denn es stand jeden Morgen strahlend am Gitter seines Bettchens, als ob nichts gewesen wäre.

Jede Mutter weiß, wie unleidlich Kleinkinder sein können, wenn sie hungrig sind, nicht genügend geschlafen haben oder gar krank sind. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es erst ist, wenn ein Kind unter konstantem Hungergefühl leidet und fast im Dauerzustand mit gesundheitlichen Rückschlägen zu kämpfen hat. Oft konnte Christina vor lauter Hunger nicht länger als zwei Stunden am Stück schlafen, oder sie litt an plötzlichen Bauchkrämpfen. Ihre herzzerreißenden Schmerzensschreie, die von diesen Bauchkrämpfen ausgelöst wurden und die jahrelang jede Nacht zu vernehmen waren, gingen durch Mark und Bein. Erstaunlich und aus medizinischer Sicht nicht zu erklären war allerdings die Tatsache, dass sie während des Tages niemals klagte oder unleidlich war.

Tagsüber war das Mädchen immer sehr zufrieden und brauchte auch keinen zusätzlichen Schlaf. Sie zeigte weder Ungeduld noch Klagen, weder Jammern noch Quengeln oder irgendeine andere negative Energie. Sie war trotz ihrer höchst herausfordernden Situation meist ruhig und friedvoll, wenngleich ihr die körperlichen Strapazen ins Gesicht geschrieben standen – zeitweise mehr, zeitweise weniger. Ich ahnte damals nicht, dass sie konstant mit sehr lichtvollen höheren Sphären in Verbindung stand. Ihre tiefe innere Zufriedenheit und ihr strahlendes Lachen spendeten mir tagtäglich eine unsagbare Energie. Ja, sie verzauberte die Menschen geradezu. So gelang es auch mir, nicht zu klagen oder gar zu verzweifeln. Mir war durchaus bewusst, das alles noch viel schlimmer hätte sein können. In Zahlen ausgedrückt, hatte Christina lediglich eine Chance von etwa 12%, die Strapazen ihrer extremen Frühgeburt ohne spätere Folgeschäden zu überstehen. Außerdem bekam ich während der Jahre im Kinderspital derart viele wirklich kranke Kinder zu Gesicht, dass ich Christinas Leben ganz einfach als ein großes Geschenk ansah, wenngleich es wohl eher einem Wunder gleichkam.

Wie erstaunlich sich ein Leben durch seinen eigenen Willen und durch die schöpferische Energie durchsetzen kann, beschrieb Christina Jahre später mit den folgenden Worten: «Biologische Berechnungen können so perfekt sein, dass sie sich gegen die mathematischen Berechnungen stellen. Wenn dein Wille auf den Willen des Lebens ausgerichtet ist, dann erwacht eine Kraft in dir, die so unaufhaltsam und so unanfechtbar ist, dass sich die Kräfte des Universums in Ehrerbietung verneigen. Selbst die widrigsten unter ihnen haben nichts entgegenzusetzen angesichts der klaren Absichten, die das Leben hat. Denn ein Leben kann jedes Multiversum bis auf seinen Kern erschüttern. Jeder Mensch, jedes Wesen hat einen Instinkt für sein Überleben. Schau dir eine Blume an: Ihr Leben ist reine Spontaneität. Wenn ein Leben nur dann entscheiden würde, dass es leben möchte, wenn die Umstände um das Leben herum gut sind, dann wäre das lächerlich. Das wäre etwa so, als würde man nur dann etwas tun, wenn es einem jemand befiehlt, oder als würde man jemanden nur dann lieben, wenn diese Person es von einem verlangt. Ob ein Leben gedeiht, hängt nicht vom äußeren Umstand ab. Leben entsteht genauso auch dort, wo keine guten Lebensumstände sind. Die Natur unterliegt keiner militärischen Befehlskette.»

Während Christinas Weg weiterhin schwierig war, entwickelte Mario sich erfreulicherweise sehr schnell. Er begann mit elf Monaten, auf seinen eigenen zwei Beinchen die Welt zu erkunden, und war insgesamt ein wahrer Wonneproppen. Christina aber hatte nach wie vor mit vielen Herausforderungen zu kämpfen: Magengeschwüre, Darmverschluss, Abszesse in der Speiseröhre aufgrund der Refluxkrankheit, welche mitsamt den Mandeln herausoperiert wurden. Solche Erkrankungen warfen sie in ihrer ohnehin verzögerten Entwicklung immer wieder um Monate zurück.

Anlässlich eines der vielen Aufenthalte in der Kinderklinik begab sich ein unerklärliches Ereignis. Ich verbrachte eine ganze Woche mit Christina in der Klinik und versorgte sie Tag und Nacht. Da sich das Sondieren derart schwierig gestaltete, konnte und wollte ich dies dem Personal nicht zumuten. Eines Abends war ich todmüde und wusste, dass ich nun einfach irgendwo ein paar Stunden Schlaf am Stück benötigte. So instruierte ich die junge Nachtschwester darüber, um welche Uhrzeit, was und wie viel sie zu sondieren hätte. Mehrfach erklärte ich ihr deutlich, dass sie keinen Sondentropf anhängen dürfe, da Christina die übliche Sondennahrung nicht vertrage und große Mengen schon gar nicht. Danach legte ich mich gegen Mitternacht erschöpft in einem ruhigen Nebenraum schlafen.

Dann geschah das Ungewöhnliche: Es war gegen 04:00 Uhr morgens, und es fühlte sich deutlich so an, als ob mich jemand berührt hätte, doch ich sah niemanden im Zimmer. Naheliegend wäre jetzt gewesen, mich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen, aber in mir machte sich das klare Gefühl breit, dass Christina in Gefahr war – ein Empfinden, das ich in dieser Art zuvor noch nie erlebt hatte. Fast panikartig verließ ich den Raum und eilte umgehend in Christinas Zimmer. Was ich nun erlebte, bestätigte mir einmal mehr, dass ich mich auf meinen Instinkt, auf meine innere Führung verlassen kann.

Die Nachtschwester hatte, entgegen meinen expliziten Anweisungen, einen ganzen Liter Flüssignahrung angehängt! Dies entsprach in etwa der Menge, die Christina üblicherweise über mehrere Tage aufzunehmen vermochte – dann allerdings bloß milliliterweise und in regelmäßigen Abständen über den Tag verteilt. Das Kind lag flach auf dem Rücken in seinem Bettchen, fixiert in einem Anzug, der mit der Matratze verbunden war, so dass sie nicht aufstehen konnte. Christina war hellwach und schaute mich Hilfe suchend mit großen Augen an, weinte aber nicht. Sie rang nach Luft und hustete, und ich vernahm ein glucksendes Geräusch: Die Sondenmilch lief über den Schlauch durch die Bauchdecke direkt in den kleinen Magen. Da ihr Darm keine großen Mengen verarbeiten konnte, lief die gesamte künstliche Nahrung in die umgekehrte Richtung über die Speiseröhre wieder aus ihrem Mund und aus ihrer Nase heraus. Hätte ich sie nicht entdeckt, wäre sie womöglich in dieser Nacht erstickt, ohne dass es jemand bemerkt hätte.

Dieser Vorfall auf der Neonatologie-Station war ein schockierendes Erlebnis für mich. Dennoch lag es mir fern, ein Drama zu veranstalten. Denn ich war dem Pflegepersonal der Intensivstation nebenan noch immer zutiefst dankbar dafür, dass sie sich monatelang derart engagiert für das Überleben der Zwillinge eingesetzt hatten. Mir war klar, dass bei diesem Ereignis eine höhere Macht die Hand im Spiel hatte. Zum Glück hatte ich auf meine innere Stimme gehört.

Im Laufe der kommenden Jahre sollte es immer wieder zu ähnlichen wundersamen Begebenheiten kommen. Viele von ihnen wären womöglich in der Vergessenheit verblieben, wenn ich mich im Zuge des Schreibens dieses Buches nicht darum bemüht hätte, mich an sie zu erinnern.

Als Christina etwa dreieinhalb Jahre alt war, gaben die Ärzte die Hoffnung auf, dass das Mädchen jemals würde normal essen und trinken können. Der einjährige Mario aber wirkte wie ein Zugpferd für seine Schwester. Wenn Christina ihn genüsslich essen sah, versuchte sie, es ihm gleichzutun, doch alle ihre verzweifelten Bemühungen, auch nur ein winziges Teilchen des Essens herunterzuschlucken, scheiterten. Es war offensichtlich: Sie wollte zwar schlucken und essen, aber ihr Körper schien dazu nicht in der Lage zu sein.

Daher waren wir nicht bereit, aufzugeben. Ich war weiterhin der festen Überzeugung, dass dieses Kind, das einen so wachen Geist in sich trug, auch irgendwann würde selbständig essen und trinken können. Mit dieser Hoffnung stand ich allerdings nahezu alleine da. Immer wieder forderte ich die Ärzte auf, Christinas Fall nochmals gründlich abzuklären. Schließlich wurde entschieden, eine umfangreiche interdisziplinäre Abklärung in die Wege zu leiten, mit einem Magen/Darm-Spezialisten, einem Physiotherapeuten, einigen Internisten sowie einer Logopädin und einem Kinderpsychologen. Sie alle erstellten mittels diverser Untersuchungen und zahlreicher Tests ein umfassendes Bild von Christinas Zustand. Zu diesem Zweck wurde sie sowohl zu Hause als auch in der Klinik während Stunden gefilmt, so dass ihr Verhalten von den Spezialisten analysiert und ausgewertet werden konnte.

Aus psychologischer Sicht war auch eine Essblockade infolge eines unverarbeiteten Traumas nicht auszuschließen, denn immerhin hatte Christina in ihrer jüngsten Kindheit massivste mechanische Eingriffe im Mund-Rachen-Raum hinnehmen müssen. Oder vermisste sie etwa ihre Zwillingsschwester? (Ich für meinen Teil hatte niemals den Eindruck, dass sie Elena vermisste. Irgendwie spürte ich das.) Oder lag das Problem gar bei mir? – Nach einigen Sitzungen kam der Psychologe zum Schluss, dass sich weder bei mir noch bei Christina eine entsprechende psychische Problematik finden lasse.

Den entscheidenden Lösungsansatz fand die Logopädin, der aufgefallen war, dass Christina kaum je etwas mit den Händen anfasste und schon gar nicht sich etwas in den Mund steckte, wie das Kleinkinder üblicherweise zu tun pflegen. Daher hatten sich auch die Mundmotorik und der Schluckreflex bisher nicht entwickeln können. Da Christina mein erstes Kind war, war mir dies nicht aufgefallen. Zum einen war ich es ohnehin gewohnt, keine Vergleiche mit anderen Kindern zu ziehen, und zum anderen ließ ihr waches Wahrnehmen ihrer Umgebung nie auf irgendwelche Defizite schließen. Ich hatte nie den Eindruck, dass es ihr an Wissen fehlte, wie sie mit einem Gegenstand oder mit einem anderen Lebewesen umzugehen hatte. Im Gegenteil schien sie jede Situation äußerst gut und intelligent einschätzen zu können und wirkte niemals unsicher, unbeholfen oder tollpatschig. Sie wusste mit jedem Wesen sorgsam umzugehen, einschließlich ihrer selbst, und so war es nie zu irgendwelchen gefährlichen Stürzen, Verbrennungen oder dergleichen gekommen. Generell war ein «Erziehen» bei Christina nicht erforderlich, denn sie lebte ganz aus sich selbst heraus auf wundersame Art und Weise ein völlig stimmiges Leben. Dies alles war außergewöhnlich, aber es fiel mir erst jetzt, nach dieser Analyse, auf.

Auf Anraten der Logopädin begann nun eine jahrelange Arbeit in der Logopädie der Kinderklinik. Christina musste mit dreieinhalb Jahren zunächst lernen, mit den Händen Dinge anzufassen und zu spüren. Dann lernte sie in mühseliger Kleinarbeit, welche Gegenstände sich kalt oder warm, trocken oder feucht, hart oder weich, grob oder fein, schwer oder leicht anfühlten.

Knapp zehn Jahre später fragte mich Christina bezüglich dieser Therapie: «Mama, warum musste ich damals während Jahren zur Logopädie? Ich kann mich noch gut an alles erinnern. Ich wusste immer bereits aus einigen Metern Entfernung, ob die Gegenstände sich kalt oder trocken oder weich anfühlten. Dafür brauchte ich sie nicht mit meinen Händen zu berühren. Ich habe es jeweils am Energiefeld erkannt.» Mit einem Lächeln meinte sie daraufhin, die ganze Therapie sei für sie damals ziemlich unlogisch gewesen.

Dennoch schien sie nicht ungerne zur Logopädie zu gehen und absolvierte während Jahren folgsam ihre wöchentlichen Therapiestunden im Kinderspital. Heute kann ich ihre Aussage verstehen, doch zu jener Zeit wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die kleine Christina über eine erweiterte Wahrnehmung verfügte und Gegenstände und Lebewesen schon aufgrund ihres Energiefeldes erkannte, ohne sie anzufassen.

Im Alter von rund vier Jahren sollte Christina auf Anraten der Augenklinik eine Brille angepasst werden, da eine Erkrankung der Netzhaut (Retinopathie Stad. I) mit beidseitiger Sehschwäche vorlag, die bereits früher diagnostiziert worden war. Doch die ansonsten so folgsame Christina verweigerte jede Brillenanpassung, und das Unterfangen wurde um ein weiteres Jahr aufgeschoben. Als sie fünf Jahre alt war, verzichtete ich jedoch auf weitere Untersuchungen, denn ihre Sehkraft schien sowohl in der Nähe als auch in der Ferne stark genug zu sein.

Einige Jahre später sprach das Mädchen oft von farbigen Strichen und Linien in der Luft und fragte mich, was das sei. Ich konnte diese Fragen nicht einordnen und vermutete eine neuerliche Sehstörung. Doch die Abklärung ergab, dass die Retinopathie und die Sehschwäche überhaupt nicht mehr vorhanden waren. Auch der Augenarzt konnte sich die beschriebenen Symptome nicht erklären, denn augenmedizinisch war alles in bester Ordnung, was für ein solches extremes Frühgebürtchen an ein Wunder grenzt.

So machte ich mir keine weiteren Gedanken mehr darüber. Wie hätte ich ahnen können, dass Christina mit ihrer erweiterten Wahrnehmung sogenannte «Energiesignaturen» sehen konnte, die für meine dreidimensionale Sichtweise schlichtweg nicht vorhanden waren?

Ende 2005, mit viereinhalb Jahren, erlitt Christina nochmals einen lebensbedrohlichen Darmverschluss, den ich zunächst unterschätzte, da das Mädchen zwar während Tagen jede Mahlzeit erbrach, jedoch weder weinte noch schrie. Dieses fehlende Schreien war allerdings nichts Ungewöhnliches. Ihre körperliche Schmerzgrenze war seit jeher unglaublich hoch gewesen, wovon ich mich durch ihre ganze Krankengeschichte hindurch immer wieder täuschen ließ. Im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, dass nicht ihr Schmerzverhalten für einen Arzt- oder Spitalbesuch entscheidend war, sondern vielmehr ihr Gesichtsausdruck oder ihr Körper. Auch jetzt wieder sah man zwar ihrem bleichen Gesicht an, dass es ihr miserabel ging, aber sie weinte und klagte nicht. Als jedoch über längere Zeit kein Milliliter ihrer Flüssignahrung mehr durch den Magen weiterkam, fuhr ich mit ihr einmal mehr in die Kinderklinik, wo sich die Diagnose Darmverschluss bestätigte und Abhilfe geschaffen werden konnte.

Dies war glücklicherweise die letzte große gesundheitliche Hürde, die Christina während ihrer Kindheit zu nehmen hatte. In den folgenden Jahren gab es keine nennenswerten Rückschläge mehr.

Nur essen und trinken konnte sie noch nicht. Mittels jahrelanger Logopädie lernte sie allmählich, etwas im Mund zu kontrollieren und milliliterweise zu trinken. Dies war der entscheidende Durchbruch, und tagtäglich übten wir, möglichst fließend in den Alltag integriert, während Stunden. Erfreulicherweise war Mario wirklich ein sehr einfaches Kind mit seinem lebendigen, sonnigen und spontanen Wesen. Er war mit vier Jahren in seiner körperlichen Entwicklung etwa gleich weit wie seine Schwester mit ihren sechseinhalb Jahren. Durch seine Gegenwart und sein Beispiel unterstützte er sie in ihrem Bemühen, endlich essen und trinken zu lernen. Christina lebte zwar noch immer mit der PEG-Sonde am Bauch, aber es war für uns nur noch eine Frage der Zeit und der Geduld, bis sie davon wegkommen würde.

Doch so einfach war es nicht. Laut Aussagen der Ärzte war es höchst unwahrscheinlich, ein PEG-Sondenkind nach so vielen Jahren wieder von der Sonde zu entwöhnen, vor allem, wenn es als Kleinkind nie zu essen und zu trinken gelernt hatte. Deshalb riet man uns auch davon ab, einen stationären Sondenentzug in einer spezialisierten Klinik in Graz zu versuchen. Mit ihren sechs Jahren war Christina bereits zu alt dafür, und es drohte die Gefahr, dass sie traumatisiert zurückkäme. Die einzige Möglichkeit bestand darin, den Sondenentzug zu Hause selbst durchzuführen, und wir entschlossen uns, es zu versuchen.

Die ersten zwei Sondenentwöhnungsversuche mussten wir allerdings bereits nach wenigen Tagen abbrechen, da Christinas Körper es nicht geschafft hatte, ohne künstliche Ernährung allein durch ihren Hunger einen normalen Essreflex auszulösen. Ja, sie vermochte nicht einmal ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Noch immer schien es irgendwie unnatürlich für das Kind zu sein, durch den Mund zu essen oder zu trinken.

Monate später sah ich per «Zufall» einen Filmausschnitt über ein elfjähriges Mädchen in Amerika, welches es entgegen sämtlichen medizinischen Studien geschafft hatte, von ihrer PEG-Sonde wegzukommen. Meine Motivation für einen dritten Entwöhnungsversuch war geweckt.

Dieser dritte Sondenentwöhnungsversuch im Juni 2007, als Christina bereits das erste Kindergartenjahr besuchte, war dann endlich erfolgreich. Wie die beiden Male zuvor, ließ ich Christina tagelang ohne künstliche Ernährung. Dies war für mich genauso hart wie für Christina selbst, denn welche Mutter kann schon mit ansehen, wie ihr Kind hungert, wirklich hungert? Die Ärzte hatten mich angewiesen, den Versuch sofort abzubrechen, falls das Mädchen mehr als 10% ihres Körpergewichtes verlieren würde. Sie lag nachts stundenlang wach, und für ein Händchen voll Essen benötigte sie rund 40 Minuten, da sie unglaublich lange kauen musste und anfänglich nur mit etwas Wasser Nahrung überhaupt schlucken konnte. Sie war somit fast den ganzen Tag über in enorm kleinen Portionen am Essen und am Trinken. Dennoch besuchte sie jeden Tag den Kindergarten.

Nach zehn Tagen drohte auch dieser dritte Versuch zu scheitern. Nun war meine eigene Schmerzgrenze überschritten. Christina war vor lauter Hunger die ganze Nacht lang wach gelegen und war am Morgen, als sie in den Kindergarten gehen sollte, völlig dehydriert. Ich wusste: Wenn ich sie jetzt hinschicke, wird mich mit Sicherheit umgehend die Kindergärtnerin anrufen und mir besorgt mitteilen, dass Christina bleich und entkräftet in irgendeiner Ecke sitze. Mittlerweile kannte ich ihre Zustände. So warf ich alle guten Vorsätze wieder über Bord und entschloss mich, ihr vor dem Kindergarten doch wieder zwei oder drei Spritzen mit Flüssignahrung zu sondieren.

Das wäre wohl nicht nur das Ende dieses dritten Sondenentwöhnungsversuchs gewesen, sondern zugleich auch das Ende aller unserer Hoffnungen, dass Christina jemals würde normal essen und trinken können. Sollten die Ärzte also doch Recht behalten? War alles nur mein Wunschdenken gewesen?

In diesem Moment war mir bewusst, dass ich keinen weiteren Versuch unternehmen würde. Denn sowohl für Christina als auch für mich stellte diese Prozedur jedes Mal einen enormen Kraftakt dar. Christina würde wohl oder übel für den Rest ihres Lebens mit dieser Bauchsonde leben und irgendwann lernen müssen, sich mit Spritze und Schlauch die Nahrung selbst zu sondieren.

Doch dann kam es zu einem neuerlichen wundersamen Moment. Es war der Morgen des 13. Juni 2007, bemerkenswerterweise exakt der Morgen des sechsten Todestages von Elena, woran ich in dem Moment jedoch nicht gedacht hatte. Gerade als ich enttäuscht und ein wenig widerwillig die Spritze an den Sondenschlauch ansetzte, um damit den Entwöhnungsversuch definitiv abzubrechen, ergriff die Sechsjährige das Wort. Als ob Christina meine traurigen Gedanken gelesen hätte, wandte sie sich mit klarer, bestimmter Stimme an mich: «Du musst mir nichts sondieren, Mama!»

Mein «Aber …» kam ziemlich schnell.

Doch Christina sprach ruhig und mit Nachdruck weiter: «Nein, Mama, du musst mir nichts sondieren. Du wirst mir überhaupt nie mehr etwas sondieren müssen.»

Die Aussage war klar und deutlich, und ein sonderbarer Ernst lag in ihrer Stimme. Die ganze Situation war höchst seltsam. Wie konnte eine Sechsjährige derart weitreichende und entscheidende Worte in den Raum stellen, noch dazu in einem ausgehungerten, schwachen Zustand, in welchem wohl jedes andere Kind nur noch trotzen, schreien und toben würde? Eine solche klare Aussage nach jahrelanger mühsamer Ernährung über einen Schlauch – wie konnte das möglich sein?

Da mich Christina weder je angelogen noch jemals eine Situation falsch eingeschätzt hatte, glaubte ich ihr auch in diesem Moment und ließ sie wie gewünscht ohne Nahrung die rund 150 Meter bis zu jenem Platz laufen, wo der Schulbus sie abholte und in den Kindergarten brachte. Manch Außenstehender hätte wohl angemahnt, dass dieses Verhalten völlig verantwortungslos sei, doch irgendwie vertraute ich meiner kleinen Tochter.

Christina sollte Recht behalten. Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass dieser 13. Juni 2007 nicht nur Elenas sechster Todestag war, sondern auch der Tag, an dem Christinas Seele endlich vollständig in ihrem Körper ankam. So jedenfalls erklärte Christina es mir Jahre später selber.

Die PEG-Sonde blieb anschließend noch für weitere drei Monate in Christinas Bauchdecke, bis sichergestellt war, dass es zu keinem Rückfall mehr kommen würde. Dann endlich konnte sie entfernt werden. Es dauerte danach zwar noch einige Jahre, bis das Mädchen jegliche Nahrungskonsistenz problemlos essen konnte, doch im Alter von etwa zehn Jahren hatte sich alles normalisiert, und seitdem legt sie ein sehr genüssliches, natürliches Essverhalten an den Tag. Heute deutet nur noch eine Narbe in Magenhöhe – wie ein zweiter Bauchnabel – auf diese schwierigen Umstände in Christinas ersten Lebensjahren hin.


September 2007: Mit 6½ Jahren wird Christina von ihrer PEG-Sonde befreit. Mario ist zu diesem Zeitpunkt knapp 4 Jahre alt, und beide sind gleich groß und in ihrer körperlichen Entwicklung etwa gleich weit.

Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren

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