Читать книгу New Order, Joy Division und ich - Bernard Sumner - Страница 10

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Auch nachdem wir in die Wohnung auf der anderen Seite des Flusses in Greengate gezogen waren, verbrachte ich die meiste Zeit in der Alfred Street. Sie hatte eine magnetische Anziehungskraft auf mich. Ich besuchte dort ständig meine Großeltern und hing mit meinen Freunden ab. Meine Kindheit war definitiv nicht unglücklich. In vielerlei Hinsicht war es eine schwierige Zeit, vor allem im Vergleich zu anderen, aber ich war auf keinen Fall unglücklich.

Ich liebte es, in Salford aufzuwachsen und fühlte mich mit der dortigen Gemeinschaft eng verbunden. Außerdem hatte ich dort viel Spaß und erlebte fantastische Zeiten. Mein Horizont ging nicht weit über die paar lokalen Straßenzüge hinaus – aber immerhin kannte ich diese dafür in- und auswendig. Mitunter schwangen wir uns auf unsere Motorroller und fuhren in das Mittelgebirge der Pennines, zum Moor oder nach Blackpool. Wir schwänzten die Schule und preschten einfach davon.

Als ich zum ersten Mal am Land war, war das für mich wie eine andere Welt, denn die unsrige bestand aus roten Ziegelsteinen, Schmutz und Staub. Aber auf unseren Rollern mit ihren zwölf Zoll breiten Reifen konnten wir mitten im Winter durch die verschneiten, nebelverhangenen Pennines düsen. Sturzhelme hatten wir keine. Es war vollkommen irre. Dennoch lag darin eine seltsame Art von jugendlicher Unschuld. Wenn man in der Nacht spazieren ging, musste man sich schon gut auskennen. Man musste wissen, wo man sich aufhielt, und darauf achten, nicht zur falschen Zeit der falschen Posse über den Weg zu laufen. Sonst drohte einem eine gehörige Tracht Prügel. Es schlichen sich genügend Psychos in der Gegend herum – Leute, die mit zugespitzten Regenschirmen, Hämmern und mitunter auch Schwertern bewaffnet waren. Man versuchte einfach, diesen Knallköpfen aus dem Weg zu gehen.

Salford war meine Welt. Man machte aus dem, was man hatte, das Beste und darüber hinaus kannte man gar nichts Anderes oder Besseres. Ich hatte null Ahnung, was es sonst noch so gab. Und in gewisser Weise war das auch egal: Ich war fest in meiner Familie verankert, weshalb nie zur Debatte stand, fortzugehen. Es war eine so intensive Phase meines Lebens, dass ich immer noch, mittlerweile 40 Jahre später, davon träume. Dies war eine der glücklichsten Zeiten in meinem Leben, was an meiner Familie, der Gemeinschaft, den Freunden, dem Zugehörigkeitsgefühl und dem wunderbaren Mangel an Verantwortung lag.

Allerdings sollte ich schon bald begreifen, dass nichts für immer ist. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Tages von der Schule nachhause kam und auf dem Tisch eine landesweit erscheinende Londoner Zeitung lag. Aufgeschlagen war eine Seite, die von einem Artikel über „Großbritanniens größten Slum“ dominiert wurde. Ich begann zu lesen. Die Kernaussage war, dass Großbritannien einen der größten und schlimmsten Slums Europas und ein wahres Augengeschwür beheimate. Es handle sich um einen Ort, für den sich die Nation schämen müsse. Als ich weiter las, wurde mir klar, dass diese Schande Großbritanniens Salford sei. Ich dachte mir: „Moment, da lebe ich ja. Ich lebe doch in keinem Slum.“ Ich war ernsthaft gekränkt und außerdem verwirrt, weil, soweit es mich betraf, das hier ein schöner Wohnort war. Offensichtlich herrschten unten im Süden andere Maßstäbe.

Es sollte nicht lange dauern, da begann die örtliche Verwaltung, Teile dieses angeblichen Schandflecks auszuradieren. Pläne wurden umgesetzt, um die Leute aus den alten viktorianischen Straßen in neue Wohntürme umzusiedeln. Aus ihrer Perspektive war es billiger, alle in so einem Blockgebäude unterzubringen, als die alten viktorianischen Häuserreihen zu renovieren, sie mit Zentralheizungen und ordentlichen Badezimmern zu versehen, was leicht möglich gewesen wäre, da die meisten Häuser ja über ein drittes Schlafzimmer verfügten. Sie beschlossen allerdings, einfach alles plattzumachen und die Menschen in diese Bienenstöcke aus Beton zu stopfen. Die Architekten scherten sich nicht um die Gemeinschaft – warum hätten sie das auch tun sollen?

Als ob das alles nicht schon beunruhigend genug gewesen wäre, verschlechterte sich darüber hinaus auch noch der allgemeine Gesundheitszustand meiner Familie. Eines Tages erlitt mein Großvater einen Schlaganfall, was ihn sowohl mental als auch körperlich stark in Mitleidenschaft zog. Rückblickend hatte es vielleicht etwas mit seinem Gehirntumor zu tun. War er zuvor noch ein liebenswerter, rücksichtsvoller Mann gewesen, so war er nun mit einem Mal ein wütender Kerl, der die ganze Zeit um sich schrie. Meine Großmutter war blind. Sie hielt sich überwiegend im ersten Stock auf. Großvater schlief nun im Erdgeschoss. Da mein Großvater den Verstand verloren hatte, musste sich Großmutter nun zusätzlich zu ihrer Erblindung auch noch mit ihm herumschlagen. Schrecklich. Es brach einem das Herz und es gab nichts, was ich hätte tun können.

Ich erinnere mich an das Haus in der Alfred Street. Es war der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, wo ich meine glücklichste Zeit verbracht habe – und dann lief plötzlich einfach alles schief. Die Stadtverwaltung übersiedelte die Leute aus der Straße, ganz egal, ob sie damit einverstanden waren, sie verbarrikadierte die Häuser mit Brettern und verwandelte den Straßenzug kontinuierlich in eine trostlose, verlassene Geisterstraße. Die nachbarschaftliche Gemeinschaft wurde über die Region versprengt, nach Swinton und Little Hulton, an Orte, die zuvor nur Namen für uns gewesen waren. Sie wurde auseinandergerissen, ohne dazu befragt worden zu sein. Es gab kein Mitspracherecht, keine Auswahlmöglichkeiten. Wo einst Kinder beim Spielen auf der Straße gelärmt beziehungsweise die Nachbarn sich angeregt unterhalten hatten, herrschte nun Stille. Hie und da konnte man vielleicht ein paar Arbeiter der Stadtverwaltung hören, wie sie Bretter vor die Fenster der nun leerstehenden Häuser nagelten. Binnen Kurzem waren nur mehr drei Häuser in der Straße bewohnt. Die restlichen Gebäude waren dunkel und entseelt, ein Zuhause nur mehr für Geister und Erinnerungen. In einem dieser drei Häuser, in denen immer noch Licht brannte, saßen meine völlig erblindete Großmutter und mein Großvater, der total von Sinnen war. Bis heute habe ich einen wiederkehrenden Traum, in dem die Häuser der Straße mit Brettern verbarrikadiert sind und meiner verzweifelten Großmutter in ihrem Haus Tränen übers Gesicht laufen. Auch heute noch fühle ich mich in diesem Traum völlig hilflos. Ich war damals noch sehr jung und wusste nicht, wie ich helfen hätte können. Meine Großeltern hatten mich de facto aufgezogen und mir mein ganzes Leben nichts außer Liebe entgegengebracht – und hier war ich nun, absolut chancenlos angesichts dieser Flutwelle an Veränderungen und dem Unglück, in dem sie zu versinken drohten. Ich musste mitansehen, wie diese wunderbare, lebendige Gemeinschaft, von der ich gedacht hätte, dass sie für immer bestehen bleibe, vor meinen Augen zerbröckelte. Die Leute verstreuten sich in alle Windrichtungen.

Ich war tatsächlich davon ausgegangen, dass alle auf ewig dort leben würden, mitsamt der Bonfire Nights, den Pinks, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen, den alten Frauen, die in ihren Stühlen die Sonnenstrahlen genossen, sowie meinem Großvater, der zwei Mal am Tag im Hof hinterm Haus seine Lungen auffüllte. All dies war in kürzester Zeit in einer auf dem Klassensystem beruhenden Säuberungsaktion, die zwar auf guten Absichten beruhte, jedoch keinen Bezug zur Realität hatte, ausgelöscht worden.

Schließlich wurde mein Großvater in einem Heim untergebracht, was aber auch ein Segen war. Allerdings sollte er nur mehr sechs Monate leben. Und so lebte meine Großmutter allein mit einer ihrer Schwestern in der nunmehr desolaten Straße, wo nur noch zwei weitere Häuser bewohnt waren. Schlussendlich zog sie in ein betreutes Wohnprojekt in Swinton, was sie hasste. Sie wollte nicht aus dem Haus ausziehen, in dem sie beinahe 50 Jahre gewohnt hatte und das für sie nach wie vor derselbe Zufluchtsort war wie in der Zeit, bevor sie ihr Augenlicht verloren hatte.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich sie gegen Ende hin im alten Haus in der Alfred Street besuchte. Da liefen Mäuse herum und sie bekam das gar nicht mit, weil sie sie nicht sehen konnte. Wir hatten nie Mäuse gehabt, da sie in puncto Sauberkeit sehr penibel war. Es war einfach entsetzlich, ein Bild, das zusammenfasste, was mit unserer Gemeinschaft als Ganzes geschehen war. Sobald die letzten Bewohner umgezogen waren und all die Historie, die Menschen, die Familien und ihre Eigenheime, der Stolz und die Würde – einfach alles – verschwunden waren, übernahmen die Mäuse das Kommando.

Ich war gerade einmal 18 Jahre alt und alles, was ich gekannt hatte, war vernichtet worden. Dies miterleben zu müssen, hatte große psychologische Auswirkungen auf mich. Es machte mich emotional ein wenig härter. Anders hätte ich mit der Situation nicht umgehen können. Ich stelle mir das ein wenig so vor, als wäre man ein Arzt – die müssen sich auch ein dickes Fell zulegen, weil sie so viele schreckliche Dinge sehen und den Menschen oft schlimme Nachrichten mitteilen müssen. Bekommt man das nicht auf die Reihe, wird man untergehen. Dieser Entscheidung musste auch ich mich stellen, während ich dabei zusehen musste, wie unsere Welt zerbröselte.

Alles war verschwunden. Sogar die Schule war abgerissen worden. Es war fast so, als würde jemand alles daran setzen, meine Erinnerungen auszulöschen. Alles Greifbare, all die Dinge, die man berühren, fühlen, sogar riechen konnte – sie waren weg und würden nie mehr zurückkommen.

Mein Übergang ins Erwachsenenalter war nicht gerade sanft. Ich wurde aus der Kindheit gerissen, noch bevor ich dazu bereit war. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Plötzlich war alles so unglaublich ernst und ich musste schnell erwachsen werden. Es war wohl kein Zufall, dass ich mich noch mehr in die Musik vertiefte. Was sich zu jener Zeit abspielte, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Musik, die ich machen sollte. Ich denke, dass man den Untergang einer Gemeinde und das Ende meiner Adoleszenz in meinen Beiträgen zur Musik von Joy Division deutlich heraushören kann.

New Order, Joy Division und ich

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