Читать книгу New Order, Joy Division und ich - Bernard Sumner - Страница 12

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An einem Tag im Frühsommer 1976 zeigte uns Terry Mason eine Ausgabe des New Musical Express und begann über eine Band, über die er darin gelesen hatte und die Sex Pistols hieß, zu schwärmen: „Sie prügeln sich ständig und sind andauernd dicht.“ Er ergänzte: „Sie klingen großartig, genau so, wie es uns gefällt.“ Er hatte auch in Erfahrung gebracht, dass sie am 4. Juni in der Lesser Free Trade Hall in Manchester spielen würden – Hooky, Terry, noch ein paar andere und ich wollten uns das nicht entgehen lassen. Es war nicht gerade gut besucht. Ich habe gehört, dass vielleicht 40 Leute da waren. Das Konzert sollte jedenfalls ein Meilenstein in der musikalischen Historie von Manchester werden, aber falls wirklich alle, die später behaupteten, dort gewesen zu sein, es tatsächlich gewesen wären, hätte womöglich sogar das Old-Trafford-Stadion noch zu wenig Fassungsvermögen für den Gig geboten.

Die Pistols befanden sich noch in ihren Anfangstagen. Ihr Durchbruch stand noch bevor und niemand in Manchester hatte wirklich eine Ahnung, wer sie überhaupt waren. Der Name allein klang allerdings schon verheißungsvoll und so drückten wir Malcolm McLaren, der an der Kasse saß, 50 Pence in die Hand und spazierten hinein, ohne wirklich zu wissen, was uns erwarten würde.

Es war ein Ereignis, das in die Geschichte eingehen sollte – nicht nur wegen des Konzerts an sich, sondern auch wegen all der Leute, die im Publikum standen: Mark E. Smith war da, Morrissey ebenso, Tony Wilson und Paul Morley auch. Organisiert hatten den Auftritt Pete Shelley und Howard Devoto von den Buzzcocks. Aber allzu sehr kümmerte es mich nicht, wer sonst noch da war, denn sobald die Band erst losgelegt hatte, war alles andere nebensächlich. Von dem Moment an, als sie auf die Bühne stolzierten, sich ihre Instrumente schnappten und „Did You No Wrong“ vom Stapel ließen, wusste ich, dass das hier anders war. Es war ihre Attitüde, die mich beeindruckte. Ihre Performance strotzte nur so vor lauter Boshaftigkeit. Es war pure Aggression kombiniert mit einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum, die fast schon an Verachtung grenzte. Es war wie nichts, das ich jemals zuvor gesehen hatte – vielleicht erinnerte es vage an Lou Reeds anarchischen Auftritt, mit Santanas Aufruf zur Meditation hatte dies hier allerdings nicht das Geringste gemeinsam. Das hier war etwas Besonderes.

Zum ersten Mal hatte ich bei einem Live-Konzert das Gefühl, mich wirklich mit den Leuten auf der Bühne identifizieren zu können. Wir hatten bereits seit Schulzeiten dieselbe Einstellung, dieses „Scheiß auf die Obrigkeit“, diese grundlegende Ablehnung gegenüber dem, was einem die ganze verdammte Zeit eingetrichtert wurde und wie man sich zu benehmen hätte. In der Schule waren es die Lehrer und nach der Schule war es die Anforderung, einem vorbestimmten Rollenbild in einer Gesellschaft, der ich mich nicht zugehörig fühlte, gerecht werden zu müssen. An jeder Straßenecke schienen ältere Menschen zu stehen, die uns daran erinnern wollten, wie beschissen wir doch seien. Dann kamen die Sex Pistols und gaben uns das Gefühl, dass wir es waren, die richtig lagen. Sie zeigten uns nicht nur das, sondern auch, dass wir überhaupt schon die ganze Zeit lang Recht gehabt hatten. Punk verlieh uns zum ersten Mal eine Stimme – und diese Stimme schrie dort direkt vor mir und aus voller Lunge. Es war eine Rechtfertigung für unsere Haltung und vermittelte uns gleichzeitig, dass wir doch etwas wert waren.

Um diese Nacht hat sich im Verlauf von über 30 Jahren, die seither vergangen sind, eine eigene Mythologie entwickelt. Rock’n’Roll hatte einst als etwas Rohes und Simples begonnen, aber zur Mitte der Siebzigerjahre war er vorrangig von Angebern geprägt. Bevor die Pistols und andere Punkbands auftauchten, schien Musik ein privater Club zu sein, zu dem in zunehmendem Maße nur mehr Virtuosen Zutritt erhielten. Ein großer Teil der damaligen Musik – wenn auch nicht alles – war abgehobener, selbstverliebter, aufgeblasener Blödsinn. Der Hauptschuldige hieß Prog-Rock – er schien die Musik gelähmt und unter einer dicken Schicht von Konzepten erstickt zu haben.

In den Sixties war ich noch sehr jung und hörte Bands wie die Stones, die Beatles, die Animals, die Kinks und viele andere mehr. Das waren Bands mit großartigen Songs und tollen Gitarrensounds. Für diese Bands war das große Ganze stets wichtiger gewesen als das Individuum, aber gegen Mitte der Siebzigerjahre hatte sich die Musik zu großen Teilen dem Pompösen zugewandt. Raffinesse wurde zum Kult überhöht: Bands wie etwa Emerson, Lake and Palmer und Yes produzierten unüberschaubare Konzeptalben, die so ziemlich das Gegenteil von dem waren, was mir an Musik gefiel. Punk und die Pistols schlugen höhnisch grinsend eine Schneise durch all die aufgeblasene Pompösität. Sie kreuzten genau zur richtigen Zeit auf und hatten die exakt richtige Gesinnung. Als wir da auf dem klebrigen Boden der Lesser Free Trade Hall standen und ein paar Jungs, die ein wenig wie wir selbst wirkten, aber eine wahre Flutwelle von Attitüde entfesselten, zusahen, erhielten wir die Bestätigung, dass wir nicht alleine waren. Es gab noch andere, die so fühlten, wie wir das taten. Ich muss es irgendwie geahnt haben, dass dies nicht bloß einfach ein Konzert wie jedes andere werden würde, denn ich hatte einen Kassettenrekorder bei mir, um es mitzuschneiden. Leider war die Aufnahme, als ich sie zuhause anhörte, völlig verzerrt, was an meinem beschissenen Rekorder gelegen haben könnte – oder daran, dass die Pistols nun mal so klangen. Egal, irgendetwas an dem Erlebnis fand Widerhall bei uns. Ob es nun eine völlig neue Offenbarung war oder einfach eine Saat, die schon zuvor in uns geschlummert hatte, zum Keimen gebracht wurde, lässt sich nur schwer sagen. Allerdings lässt sich nicht von der Hand weisen, dass in diesem Sommer etwas in der Luft lag – wir hatten die Witterung aufgenommen und folgten diesem feurigen, verschwitzten Aroma.

Manchmal habe ich trotzdem das Gefühl, dass die Leute ein bisschen mehr aus diesem Abend machen, als er tatsächlich war. Ich sehe das so: Zu dieser Zeit kam eine Bewegung namens Punk auf, die bei vielen Leuten einen Nerv traf – ganz so, wie das später auch auf Acid House zutreffen sollte. Wir gingen auf Punk-Gigs, weil sie eben gerade stattfanden. Später war es dasselbe mit Acid-House-Events. Es war eine tolle Erfahrung, gar keine Frage, und die Pistols sollten sich ja auch wirklich als einflussreich herausstellen. Der Umstand, dass gewisse Leute an diesem Abend im Publikum waren, die später selbst gewisse Dinge vollbrachten, macht natürlich eine gute Story daraus. Doch ist in späteren Jahren nicht der Bogen in puncto Reichweite dieses Konzerts von Leuten, die gar nicht dabei waren, ein wenig überspannt worden? Für mich war es jetzt nicht so, als hätte ein göttlicher Lichtstrahl direkt aus dem Himmel uns gestreift. Es war zweifellos sehr inspirierend – aber darin liegt ein subtiler Unterschied. Ich glaube, dass der Mythos, der sich um diesen Gig herum entwickelt hat, ein wenig geradegerückt werden muss. Punk war eine interessante, aufregende neue Bewegung, von der nur wenige Leute in Manchester durch die Musikpresse erfahren hatten, weshalb sich eben nur ein bestimmtes Publikum beim Konzert einfand. Ich hatte die Buzzcocks vor den Sex Pistols gesehen. Sie hatten ein paar tolle Lieder und waren ebenfalls einer unserer Einflüsse – und bloß weil um dieses eine Konzert der Pistols so ein Kult entstanden ist, sollte das nicht unerwähnt bleiben.

Meiner Meinung nach gelingt es manchen Leuten, einen gewissen Zeitgeist aufzuschnappen, den sie dann als Ventil für ihre eigene Kreativität oder Ausdrucksform zu nutzen wissen. Ich glaube nicht, dass dies bewusst geschieht. Es ist kein erlerntes Verhalten, sondern etwas anderes, eine Art Instinkt. Eine Person kann, um sich Wissen anzueignen, auf unterschiedliche Methoden zurückgreifen. Zur Schule zu gehen, den Lehrern zuzuhören, alles mitzuschreiben, auswendig zu lernen, wäre etwa ein traditionelles Modell. Doch gibt es auch einen anderen Ansatz, der voraussetzt, dass man die Welt beobachtet und seine eigenen Schlüsse, basierend auf den eigenen Erfahrungen, zieht. Dabei absorbierst du die Dinge, die dir richtig erscheinen, und interpretierst sie, filterst sie durch deine eigene Wahrnehmung und lernst, wann und wie du deinen Instinkten vertrauen kannst. Genau so entdeckte und erforschte ich die Musik und suchte mir meine Einflüsse so aus, damit ich schließlich selbst Musik erschaffen konnte.

Punk rückte während des Sommers 1976 ins Zentrum unseres kulturellen Lebens. Uns behagte sein antiautoritärer Aspekt, aber was viele Leute oft vergessen, ist, dass eine der wichtigsten Botschaften von Punk war, sich nicht übermäßig ernst zu nehmen. Klar, kämpft gegen das System, aber habt auch euren Spaß dabei. Ihr seid jung, ihr solltet das Leben genießen, ganz unabhängig von all dem Scheiß, mit dem ihr euch sonst abquälen müsst. Die Musik strotzte nur so vor unglaublicher Energie. Sie war mit nichts, das ich je gehört hatte, vergleichbar. In diesem Alter, wenn man ein Teenager oder in seinen frühen Zwanzigern ist, ist man selbst randvoll mit Energie, und braucht ein Ventil dafür. Punk-Gigs waren dafür perfekt. Man konnte dort einfach durchdrehen. Es war gleichzeitig ein Konzert und eine Party. Es war ähnlich wie mit Acid House – nur ohne Drogen. Nun ja, zumindest anderen Drogen.

Nach einer Kindheit, in der Musik nur eine minimale Rolle gespielt hatte, erhielt ich nun während meiner Flegeljahre einen hochintensiven Crashkurs. Es war, als ob ich mich rasch durch die verschiedenen Gänge eines musikalischen Getriebes nach oben arbeitete – und mit Punk schaltete ich dabei in den fünften. Eine der Nachwirkungen des Pistols-Gigs war, dass ich nun die E-Gitarre, die mir meine Mum Jahre zuvor gekauft hatte, in einem völlig neuen Licht betrachtete. Nachdem ich nun Punk kennengelernt hatte, sollte sie plötzlich mehr sein als ein Staubfänger oder Kleiderhaken. So verschloss ich eines Abends die Türe meines Schlafzimmers, setzte mich aufs Bett, blies den Staub fort, öffnete das Gitarrenbuch, das ich gekauft hatte, und fing an, das Instrument zu erlernen. Der Beginn war nicht gerade vielversprechend: Die ersten paar Seiten des Buches befassten sich damit, wie man die Klampfe stimmte, aber ich wusste nicht, in welche Richtung man die Wirbel drehen musste, um die Saiten hoch oder tief zu stimmen. Ich hatte damals nicht gerade das feinste Gehör, weshalb sich die Geräusche, die ich fabrizierte, wohl ziemlich abscheulich angehört haben müssen. Aber ich klemmte mich dahinter, weil Musik zur wichtigsten Sache in meinem Leben geworden war. Zuerst hatte ich sie mir angehört, dann hatte ich sie käuflich erworben, dann anderen dabei zugesehen, wie sie sie spielten – und nun war ich entschlossen, dasselbe zu tun.

Nach dem Konzert der Pistols war Hooky nach Manchester gefahren und hatte sich eine Bassgitarre und ein Buch wie meines gekauft, um drauf spielen zu lernen. Ich glaube, er zahlte dafür 35 Pfund, was damals ein schöner Batzen Geld war. Das Problem mit unseren Büchern lag darin, dass sie auf dem 12-Takt-Schema, der Grundlage beinahe aller Blues- und Rock’n’Roll-Kompositionen, aufbauten. Alle Songbeispiele stammten aus den Fünfzigern und waren Schnee von gestern. Dafür fehlte uns das Interesse. Ich konnte mich weder für Blues noch für altbackenen Rock’n’Roll besonders erwärmen – was ich spielen können wollte, war Punk. Komischerweise gab es aber kein Buch, das mir das beibringen hätte können.

Trotzdem ließ ich mich nicht davon abbringen, weiter vor mich hin zu schrammeln. Ich übte bis spät in die Nacht Akkorde, bis sich auf meinen Fingerkuppen Hornhaut bildete, wodurch der Schmerz, den man als Gitarrenanfänger spürt, endlich nachließ. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass man, sobald man erst einmal ein paar simple Dur- und Moll-Akkorde gemeistert hat, im Prinzip schon 90 Prozent von allem spielen konnte. Für den Rest benötigte man noch seine Vorstellungskraft –

und die konnte man definitiv nicht aus Büchern lernen. Hat man erst einmal die grundlegenden Bausteine angehäuft, kann man anfangen, daraus etwas zu bauen. Man muss weder „Rock Around The Clock“ noch „Heartbreak Hotel“ spielen können, um eigene Musik zu machen. Du suchst dir stattdessen einfach ein paar Akkorde zusammen, erstellst ein paar eigene Tonleitern – und ab geht die Post! Alles, was zählt, ist, dass es sich für das eigene Ohr gut anhört.

Musik begann, den Großteil meiner Freizeit für sich in Anspruch zu nehmen. Während Hooky und ich früher bei meiner Großmutter abgehangen hatten, mit Hypnose experimentiert, uns gegenseitig verarscht und über Motorroller und Zündkerzen diskutiert hatten, begannen wir nun im Sommer 1976, jeden Sonntagabend ebendort in der Alfred Street zusammen Musik zu machen. Unsere eigene Musik. Meine Großmutter hatte ein Grammophon, auf dem sie ihre alten Schellacks abspielte, aber in meinen Augen war das nicht bloß ein Grammophon, sondern das, was in ihrem Haushalt einem Gitarrenverstärker am nächsten kam – und so machte ich mich daran, den Apparat in einen solchen zu verwandeln. Ich entfernte die Nadel und lötete stattdessen zwei Klinkenstecker fest, damit Hooky seinen Bass und ich meine Gitarre gleichzeitig über das Soundsystem spielen konnten. Es war vielleicht nicht die tollste Anlage, über die wir da spielten, aber das, was aus dem Lautsprecher kam, hatte ohne Zweifel Ähnlichkeit mit Musik. Es war auch nicht besonders laut, aber Teile von dem Ding glühten, wenn wir reinhauten!

Wir waren alles andere als Virtuosen, aber unsere eigene Musik zu komponieren, während wir gleichzeitig lernten zu spielen, erwies sich als ideale Methode, um unseren eigenen Ansatz und Sound zu entwickeln. Wir hatten keine vorgefertigten Meinungen zu Akkordabfolgen oder Tonleitern, weshalb wir in der Lage waren, so lange einfach herumzuprobieren, bis wir auf etwas stießen, das uns zusagte. Ich sagte etwa: „Oh, der Akkord klingt aber gut an der Stelle. Wie wäre es, wenn du zwar noch länger die Note spielst, ich aber schon auf diesen Akkord umgreife?“ Wir experimentierten einfach herum wie zwei Schulkinder, die erst ihren Weg durchs erste Schuljahr finden müssen. Wir wussten nicht wirklich, was wir da taten, aber letzten Endes und nach viel Herumprobieren brachten wir doch mehr und mehr auf die Reihe.

So ging das eine ganze Weile dahin. Wir verbrachten jedes Wochenende damit, fleißig zu üben, bis wir realisierten, dass der nächste logische Schritt wäre, eine Band zu gründen – und so begannen wir, uns nach einem Sänger umzusehen.

Anfangs dachten wir darüber nach, ob es in unserem Bekanntenkreis eventuell geeignete Kandidaten gebe. Wenn wir eine Liste aufgestellt hätten, wäre sie eher kurz gewesen. Ich weiß zwar nicht mehr genau, wer da draufgestanden hätte, aber vor ein paar Monaten lief mir ein alter Freund aus dieser Zeit namens David Wroe über den Weg und sagte: „Ich wäre ja als Sänger bei euch eingestiegen, aber meine Mum ließ mich nicht.“ Ich bin mir sicher, dass wir den einen oder anderen Namen diskutiert haben, aber letztlich gab es keine ernsthaften Anwärter aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Grundsätzlich wollten wir jemanden, der auf dieselbe Szene und Musik wie wir abfuhr, jemanden, der ein netter Kerl und kein Arschloch war. Jemand, mit dem wir gut auskommen konnten.

Letzten Endes schrieben wir unser Anliegen auf ein Blatt Papier und hängten es in die Auslage des alten Plattenladens von Virgin Records in der Lever Street in Manchester. Das schien der richtige Ort zu sein, weil dort alle hingingen, um ihre Punk-Platten zu kaufen. Der Virgin-Laden war auch zu einem der Treffpunkte für Leute in Bands beziehungsweise für Leute, die Bands gründeten (oder es zumindest vorhatten), geworden. Quasi ein Knotenpunkt und Hauptumschlagplatz für Möchtegern-Musiker. In der Wohnung in Greengate hatte ich einen Telefonanschluss und so schrieb ich meine Nummer auf den Zettel, klebte ihn an die Fensterscheibe, ging heim und wartete auf einen Anruf.

Ein paar Leute meldeten sich daraufhin tatsächlich – größtenteils totale Psychos. Ich erinnere mich noch an ein Treffen mit einem dieser Typen, der sich am Telefon noch wie ein einigermaßen aussichtsreicher Kandidat präsentiert hatte und in Didsbury wohnte. Ich nahm Terry mit und als wir an die Haustüre dieses Kerls klopften, erschien vor uns ein Hippie mit praktisch hüftlangen Haaren. Er trug ein massives Paar Schlaghosen und ein Oberteil, das aussah wie ein Kissenbezug, in den er Löcher geschnitten hatte, um seine Arme und seinen Kopf durchstecken zu können. Ich warf einen Blick auf ihn und dachte mir, dass er wohl nicht der richtige Sänger für uns sein würde. Er tat in weiterer Folge wenig, um meinen ersten Eindruck zu entkräften, nein, vielmehr warf er ein paar Kissen auf den Boden und lud uns ein, uns zu ihm zu setzen. Terry und ich warfen uns verstohlene Blicke zu, als er schließlich ankündigte, ein paar seiner Gedichte hervorzukramen und sie uns vorzusingen. Gedichte? Das klang nicht gerade nach dem, was mir vorschwebte. Bevor wir uns jedoch versahen, hatte der Typ ein paar zerknitterte Blätter Papier vor uns auf dem Fußboden ausgebreitet. Dann griff er hinter sich aufs Sofa, um sich eine Balalaika zu schnappen. Umgehend begann er darauf herumzuschlagen und uns seine wehleidig-poetischen Ergüsse vorzusingen. Was die Situation sogar noch unbehaglicher machte, war, dass er uns dabei aus einer Entfernung von nicht einmal einem Meter direkt in die Augen starrte. Ich wagte es nicht, erneut Augenkontakt mit Terry aufzunehmen, aber ich konnte ihn leise kichern hören. Ich tat alles, was in meiner Macht stand, um nicht selbst vor Lachen explodieren zu müssen, als Terry plötzlich schnauben musste. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und wir fingen beide an, uns schlapp zu lachen. Schlussendlich sagten wir zu unserem Gastgeber, dass es uns Leid täte, aber wir eigentlich nur gekommen seien, um ihm mitzuteilen, dass der Job schon vergeben sei, und wir uns dennoch bei ihm bedanken wollten. Anschließend sahen wir zu, dass wir schnell bei der Tür hinauskamen. Auf dem Weg zurück nach Salford krümmten wir uns dann vor lauter Lachen.

Dieses Erlebnis schien den Ton für die nächsten paar Wochen vorzugeben. Ich erhielt all diese abgefahrenen Anrufe von Durchgeknallten, die etwa so mit mir sprachen: „Du bist also ein Punk? Biste? Du bist ein Punk, oder? Na, dann fick dich ins Knie!“

Und dann waren da noch andere Spinner. Das ging so weit, dass ich schon fast anfing, das Klingeln des Telefons zu verabscheuen.

Eines Abends klingelte es um ungefähr acht Uhr. Ich seufzte und hob ab. „Ja, hallo?“, sagte ich. Eine Stimme am anderen Ende der Leitung meldete sich: „Ich rufe an wegen des Jobs als Sänger, der im Fenster von Virgin angeboten wird.“ Ich verdrehte die Augen und fragte, wer er denn sei. Er sagte, sein Name sei Ian – und sofort dachte ich mir, dass er sich gar nicht so bekloppt anhörte. Nein, dieser Typ hörte sich okay an. Ich wollte wissen, auf was für Musik er denn so stehe, und er meinte, dass er Punk, Iggy and The Stooges, Velvet Underground und solche Sachen mochte. In diesem Moment kam es mir so vor, als würde ich seine Stimme wiedererkennen. Ich sagte, dass wir uns vielleicht schon mal getroffen hätten und dass ich mit diesen Typen – Hooky und Terry – abhänge. Besitze er nicht etwa eine Donkeyjacke mit der Aufschrift „HATE“ am Rücken? „Ja, das tue ich“, sagte er. „Das bin ich.“ Ich sagte ihm, dass wir uns in der Woche zuvor bei einem Gig im Electric Circus getroffen hätten. Er war einer von den zwei Ians – er hatte noch einen Kumpel namens Ian, mit dem er abhing, und gemeinsam nannte man sie originellerweise „die zwei Ians“.

„Klar, stimmt“, sagte er. „Ich bin Ian Curtis.“

„Oh, okay“, sagte ich darauf. „Nun, dann hast du den Job.“

Ich war so was von erleichtert, endlich einen Anruf von jemandem zu bekommen, der kein Spinner oder irrwitziger Hippie war, ganz abgesehen davon, dass dies jemand war, den ich bereits gekannt hatte – das waren auch schon die beiden Kriterien, die ich in Betracht zog, als ich Ian Curtis zusagte.

„Na, gut“, meinte er. „Und was passiert jetzt?“

Wir vereinbarten eine Probe in einem Raum über einem Pub in Weaste, dem Grey Mare, der außerdem als Hauptquartier einer Organisation mit dem Namen Royal Antediluvian Order of Buffaloes fungierte. Das waren so eine Art Freimaurer für Angehörige der Arbeiter- und Mittelklasse. Am einen Ende des Raums stand eine große Truhe mit Büffelhäuten, die sie sich bei ihren Zeremonien umlegten. Trotzdem war es ein ziemlich guter Proberaum – und er wurde sogar noch besser, als sich herausstellte, dass Ian seine eigene Lautsprecheranlage hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch entschieden, Terry – nach seinem gescheiterten Versuch als Drummer – eine Chance als zweiten Gitarristen zu geben. Ich hatte einen Gitarrenverstärker von Zenith erstanden, aber er klang abscheulich. Dieses beschissene Transistor-Ding hatte nämlich einen echt dünnen, sauberen Sound. Schließlich wollte ich Punk spielen. Damit klangen wir aber mehr wie Mark Knopfler. Ich drehte ihn immer mehr auf, aber egal, wie hart ich ihn rannahm, er klang immer noch sauberer und tat einem richtig in den Ohren weh. Unverständlicherweise habe ich mir auf E-Bay gerade noch einmal einen gekauft. Keine Ahnung wieso. Vielleicht aus Nostalgie?

Ians Verstärkeranlage war ebenso Mist. Es klang schrecklich und verzerrt, aber dafür waren die Lautsprecher in Ordnung. Wir organisierten einen neuen Verstärker für den Gesang und Terry übernahm Ians alten für seine Gitarre. Allerdings spielte er absichtlich leise, damit man ihn nicht hören konnte.

Der nächste Schritt bestand darin, einen Drummer zu finden, um die klassische Punk-Besetzung – Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug – zu vervollkommnen. Wie sich bald herausstellte, meldete sich auch diesmal eine Reihe von Knallköpfen, Wahnsinnigen und Arschlöchern. Es zeigte sich, dass Drummer in dieser Hinsicht sogar noch schlimmer sind als Sänger, und wir probierten es mit ziemlich vielen aus. Ein paar waren ganz gute Schlagzeuger, aber dafür totale Nervensägen. Ich erinnere mich da an einen Typen, der zu denken schien, dass er uns vorspielen ließ – ob wir denn gut genug für ihn wären. Wieder ein anderer, ein angehender Sportlehrer, schien eigentlich ganz vielversprechend zu sein, aber irgendwie hatten wir dennoch das Gefühl, dass er nicht dazupassen würde. Blöd war nur, dass wir ihm schon zugesagt hatten. Hooky und ich fuhren also nach Middleton, um uns mit ihm zu treffen und die Sache zu klären. Als wir auf dem Weg zu ihm waren – wir fühlten uns einigermaßen schlecht deswegen –, besorgten wir eine Schachtel Pralinen, quasi als Trost. Wir kamen schließlich beim College, wo er studierte, an, spazierten hinein und fanden ihn vor, wie er gerade mit seinen Mitstudenten herumalberte – sie verdroschen sich gegenseitig mit nassen Handtüchern, das Übliche eben.

Wir riefen ihn zu uns, setzten uns hin und sagten ihm, dass wir schlechte Nachrichten für ihn hätten. Da wir nicht die Eier hatten, ihm zu erklären, warum wir ihn nicht wollten, teilten wir ihm mit, dass wir die Band überhaupt bleiben lassen würden. Wir entschuldigten uns dafür, dass wir falsche Erwartungen in ihm geweckt hätten, und überreichten ihm die doppellagige Box mit Pralinen als Zeichen unserer Anerkennung. Er war – gelinde gesagt – ein wenig perplex, aber damals schien es uns die richtige Geste zu sein. Wir waren eigentlich ziemlich nette Leute, weshalb wir uns auch schlecht wegen der Sache fühlten, besonders weil wir zuvor noch nie jemanden gefeuert hatten.

Nun hatten wir aber immer noch keinen Drummer, eine Situation, die rasch zur Zwangslage wurde, als uns schließlich unser erster Gig – als Vorgruppe der Buzzcocks am 29. Mai 1977 im Electric Circus – angeboten wurde. Wir hatten uns mit ihnen angefreundet und wandten uns an sie, wenn wir Rat brauchten. Immerhin hatten wir keine Ahnung in Bezug auf Verstärker, Gitarren und all die anderen Dinge, über die man Bescheid wissen sollte, wenn man in einer Band spielte. Manchmal fuhren wir mit ihnen auch in Terrys Auto durch die Gegend. Das war eine echte Scheißkarre, ein Vauxhall Viva. Die Sitze waren nicht verstellbar, es gab keine Zentralverriegelung, keine Getränkehalter. Eines Tages saßen also die Buzzcocks auf der Rückbank, Terry hinterm Steuer und ich war Beifahrer. Im Türfach bewahrte Terry jede Menge Schleifpapier auf. Der Wagen war nämlich seine Bastelkarre, die er gerade auf Vordermann bringen wollte. Sogar während er damit herumfuhr. Jedes Mal, wenn wir bei einer Ampel anhielten, kurbelte er das Fenster runter, schnappte sich eine Lage Schleifpapier, lehnte sich hinaus und begann die Karosserie abzuschmirgeln. Die Rostlaube war so im Eimer, dass der Motor bei jeder zweiten Ampel absoff. Der einzige Weg, das Auto wieder in Gang zu bekommen, war, mit einem Gummischlauch Benzin aus dem Tank anzusaugen, während gleichzeitig jemand die Zündung betätigte. Dann musste man den Treibstoff in den Vergaser blasen. Gott, wie uns die Buzzcocks hochleben ließen, wann immer solche Sachen passierten. Sie nannten Terry „Benzinsauger“, aber Terry nannte Pete Shelley ja auch „Abgelaufene-Butter-Atem“. Keiner von beiden wusste jedoch über seinen jeweiligen Spitznamen Bescheid. Die Buzzcocks konnten aber selbst auch ziemlich schräg drauf sein. Einmal zog Pete Shelley dieses abartige, schuppenförmige Ding, das an ein altes Cornflake erinnerte, aus seiner Geldtasche hervor und hielt es mir unter die Nase. Ich fragte ihn: „Was zum Geier ist das denn?“ Er antwortete: „Ich fiel unlängst hin und schürfte mir den Ellbogen auf. Das ist der Schorf.“ Egal, Richard Boon, ihr Manager, unterstützte uns sehr und hatte uns diesen Gig im Electric Circus verschafft, worüber wir sehr aufgeregt waren. Leider hatten wir eben zu diesem Zeitpunkt weder einen Namen noch einen Drummer. Nachdem sie uns schon geholfen hatten, unseren ersten Gig an Land zu ziehen, versuchten die Buzzcocks nun auch, uns mit dem Namen unserer Band behilflich zu sein, und auch uns selbst waren schon ein paar eingefallen, die wir nun diskutierten. Hooky etwa hatte The Out of Town Torpedoes vorgeschlagen. Auch The Slaves of Venus stand als Name im Raum. Stellt euch nur vor, wir hätten uns für einen davon entschieden.

Wir brauchten aber dringend einen Namen. Richard Boon schlug uns daraufhin Stiff Kittens vor, was uns anfänglich gut gefiel, weil es ein brauchbarer Punk-Name war. Aber wir waren uns unsicher, wie lange so ein Name gut klingen würde. Außerdem, wenn ich ehrlich bin, trug auch der Umstand, dass er von außen kam, dazu bei, dass wir uns letztendlich dagegen entschieden. Der Name, den wir uns selbst ausdachten und mit dem wir alle einverstanden waren, lautete schließlich Warsaw. Wir fanden nämlich, dass unsere Musik eine kühle, strenge Atmosphäre ausstrahlte – und die Stadt Warschau, auf Englich Warsaw, schien uns ein kühler, strenger Ort zu sein. Natürlich war noch nie jemand von uns je dort gewesen. Und so wurde Warsaw der Name, der nicht mehr sein sollte als ein Platzhalter. Fürs Erste musste das jedenfalls reichen.

Damals beabsichtigten wir noch nicht, unmittelbar einen bleibenden, tiefschürfenden Eindruck auf die Welt zu machen, sondern einfach nur, unseren ersten Gig zu spielen, Live-Erfahrung zu sammeln und herauszufinden, wie es sich anfühlte, vor einem Publikum aufzutreten. Es wäre einfach nur unser erster Schritt, ein unspektakulärer erster Schritt auf dem Weg, der uns bevorstand. Außerdem stellte sich heraus, dass es bereits eine Band namens Warsaw Pakt gab, weshalb wir ohnehin bald mal unseren Namen würden ändern müssen, aber fürs Erste waren wir jetzt Warsaw. Ich weiß aber noch, dass diese Entscheidung zu spät fiel, um auf den Konzertplakaten noch berücksichtigt zu werden, denn da wurden wir als Stiff Kittens angekündigt.

Und so machten wir uns startklar und heuerten kurz vor dem Gig einen Schlagzeuger namens Tony Tabac an. Wir waren bereit für unser erstes Konzert. Nun ja, mehr oder weniger zumindest.

New Order, Joy Division und ich

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