Читать книгу New Order, Joy Division und ich - Bernard Sumner - Страница 11

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Ich schloss die Schule 1972 mit meinen O-Levels ab. Im Abschlusszeugnis hatte ich ein Sehr gut in Kunsterziehung. Ich hätte im Anschluss auch gerne irgendetwas mit bildender Kunst gemacht, weil mir das von allem am besten gefiel. Natürlich war ich ein Musikfreak, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen, selbst welche zu machen. Zusätzlich zu meinem Schallplattenspieler hatte mir meine Mutter noch eine E-Gitarre gekauft. Ich weiß gar nicht, warum ich mir eine gewünscht hatte, vermutlich, weil ich den Sound einer Gitarre schon immer geliebt hatte und der nächste logische Schritt einfach darin bestand, sich selbst eine zuzulegen. Infolgedessen unternahm ich ein paar obligatorische Versuche, sie zu spielen. Um ehrlich zu sein, fand ich es einigermaßen sinnlos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deswegen verstaubte das Ding bald in einer Ecke meines Zimmers. Das war Sackgasse Nummer eins.

Nachdem ich mit 16 mit der Schule fertig war, sollte also Kunst die Richtung sein, in die ich gehen wollte. Der Besuch beim Karriereberater an der Salford Grammar School war ein Fehlschlag. Ich suchte ihn auf und erklärte, dass ich etwas mit Kunst machen wolle. Er dachte einen Moment nach und teilte mir dann mit, dass es zwei Jobs für mich geben würde. Der eine wäre bei einem Frisör, beim anderen würde ich die weißen Ränder von Fotos wegschneiden. Und das war Sackgasse Nummer zwei.

Es sah so aus, als würde eine Laufbahn in einem kreativen Beruf nicht zur Debatte stehen. Ich stand nämlich bereits unter Druck vonseiten meiner Mutter, einen Job zu finden, damit ich etwas Geld zum Haushalt beitragen könnte. Nach meinem Schulabschluss hatte ich mich beim Bolton College of Art beworben, da es einen guten Ruf genoss, und war daher absolut begeistert, als mir dort ein Studienplatz angeboten wurde. Als ich jedoch meiner Mutter davon berichtete, war sie nicht gerade enthusiastisch. Bevor ich mich versah, tauchte ein Onkel von Jimmys Seite der Familie auf, um sich mit mir zu unterhalten. Er erklärte mir, dass es sich die Familie nicht leisten könne, mich an eine Kunstschule zu schicken. Ich sollte mir das aus dem Kopf schlagen und mich stattdessen darauf konzentrieren, eine feste Anstellung zu finden. Zwar verstand ich die Situation, weil wir ja in der Tat nicht viel Geld hatten, doch war ich auch ziemlich aufgebracht. Womöglich hatte Mr. Strapps letzten Endes doch Recht gehabt. Und somit war ich am Ende von Sackgasse Nummer drei angelangt.

Meine Mutter kannte ein Mitglied der örtlichen Verwaltung. Er vermittelte mir ein Vorstellungsgespräch im Ratshaus von Salford, welches mir letztlich einen fixen Job einbrachte. Anfangs wusste ich noch nicht, was meine Aufgabe sein würde, aber immerhin war es eine Anstellung – und die gab es in den Mittsiebzigern nicht gerade im Überfluss. Ich kam schließlich in der Finanzabteilung unter. Meine Aufgabe bestand darin, Kommunalsteuerbescheide zu verschicken. Ich faltete den Bescheid, gab ihn in einen Umschlag, feuchtete ihn an und klebte ihn zu. Einen nach dem anderen. Tausende Male pro Woche. Unser Büro befand sich direkt im Rathaus. Es hatte ein Fenster für Anfragen, wo man sich anstellen konnte, um über die Rechnungen, die man zugeschickt bekam, zu jammern. Niemand setzte sich gerne mit ihnen auseinander, weshalb ich es tun musste. Ein weiterer Teil meines Jobs war es, dem Stadtkämmerer am Morgen seinen Kaffee zu bringen. Da gab es eine Kanne mit heißem Kaffee und einen mit heißer Milch. Ich trug beide in sein Büro und schenkte ihm ein.

Viele unserer Büroangestellten gingen seit 40 Jahren derselben Beschäftigung nach und langweilten sich zu Tode. Es war tatsächlich wie ein schleichender Tod. Da gab es einen Typen, der nach dem Mittagessen immer auf seinem Schreibtisch einpennte. Eines Tages drehte ein wacher Geist die Uhr auf 5.30 vor. Dann machten wir alle einen Heidenlärm, zogen unsere Mäntel an und taten so, als würden wir uns auf den Heimweg machen. Durch dieses Treiben erwachte der Typ. Er schoss hoch, rannte zur Tür und eilte heimwärts.

Ich hatte noch nicht sehr lange dort gearbeitet, als ein eigenartiger Kauz beim Anfragenfenster aufkreuzte. Er trug altmodische Klamotten im Stile der viktorianischen Epoche, von Kopf bis Fuß in Schwarz. Außerdem war er sternhagelvoll. Alle in der Nähe des Fensters gingen in Deckung. Im Büro gab es da diesen Kerl, der eigentlich in Ordnung war. Er erinnerte mich mit seinem gewachsten Schnauzer an den englischen Komiker und Schauspieler Terry-Thomas und trotz der Langeweile des Jobs strahlte er Tatkraft aus. Nun rief er mich zu sich und flüsterte: „Du wirst dich mit ihm herumschlagen müssen. Das ist der städtische Gerichtsmediziner. Er bringt die Liste von Körpern, die er sich angesehen hat. Wir bezahlen ihn in bar und er gibt alles für Schnaps aus.“ Er lehnte sich halb gegen das Fenster, dieser Gerichtsmediziner, fluchte heftig vor sich hin und schrie: „Hier, ich habe diese Woche sechs Leichen aufgeschnitten. Jetzt will ich mein Geld. Wenn du es mir nicht gibst, bist du der nächste!“ Jeder hatte eine Scheißangst vor dem Kerl, weshalb man mich vorgeschoben hatte. Ich gab ihm seine Kohle und sagte ihm, dass er die Schnauze halten solle – nachdem er hinter sich die Türe zugezogen hätte. Nun ja, immerhin war ich erst sechzehneinhalb.

Ich kann mich zwar nicht mehr an den Namen des Terry-Thomas-Typen erinnern, aber er war ein sehr netter Mann. Er hatte einen VW-Bus, einen dieser coolen alten, und zur Mittagszeit machten sich gelegentlich fünf von uns auf den Weg, um in der Pause in den Bädern von Broughton schwimmen zu gehen. Er war der einzige Kerl in der Arbeit, in dem ein wenig Leben steckte. Er war witzig – tatsächlich glaube ich, dass er es war, der die Uhr damals vorgestellt hatte.

Nachdem ich den Job schließlich hinter mir gelassen hatte, hatte ich mal einen sehr seltsamen Traum von ihm. Darin saß ich wieder im Büro und schaute ihn durch das Empfangsfenster an. Er stand mit dem Rücken zu mir und ich klopfte gegen die Fensterscheibe und rief seinen Namen. Allerdings drehte er sich nicht um. Ich schrie weiter, bis er mich endlich ansah – und alle Venen und Sehnen in seinem Gesicht verliefen auf der Außenseite. Es sah schrecklich aus. Ich wachte auf und wunderte mich über diesen horrenden Albtraum. Kurze Zeit später war ich in einem Nachtclub in Manchester und traf ein paar Typen, die immer noch dort arbeiteten. Sie erzählten mir, dass er bei einem Unfall mit seinem VW-Bus ums Leben gekommen sei. Das waren erschütternde Neuigkeiten, die meinen Traum in einem seltsamen Licht erscheinen ließen.

Es war ein echt sonderbarer Arbeitsplatz. Hier arbeiteten Menschen, die von der Autobahn des Lebens abgefahren waren, um sich in dieser friedlichen, unaufgeregten Sackgasse von Existenz niederzulassen und die Jahre bis zur Pensionierung abzustottern. Da gab es diesen Typen in der Abteilung für Stadtplanung – wahrscheinlich war er mitverantwortlich für den Abriss des Hauses meiner Großmutter. Hin und wieder kam er ganz verstohlen zu mir und sagte: „Ich habe da einen Brief, kannst du ihn bitte durch deine Frankiermaschine laufen lassen?“ Wenn ich das dann getan hatte, meinte er: „Guter Junge, hier hast du eine Süßigkeit.“ Das war meine Belohnung. Korruption auf Gemeindeebene, was?

Einmal wurde ich ins Büro des Stellvertreters des Stadtkämmerers gerufen. Er war eigentlich auch okay. Er ließ mich Platz nehmen und fragte: „Bernard, du bist neu in diesem Job, oder? Wie lange bist du schon hier?“ Ich antwortete, dass es vier oder fünf Monate seien – je nachdem, was es eben war. Er hielt kurz inne, sah mich von oben bis unten an, deutete mit dem Kopf in Richtung Wand und sagte: „Siehst du dieses Bild? Weißt du, was das ist?“ Ich verneinte. „Es heißt Whistler’s Mother“, klärte er mich auf. Dann blickte er eine Weile lang auf seine Füße, als ob er ein Problem mit dem hätte, was er als Nächstes zu mir sagen würde: „Es … es geht um die Kleidung, die du trägst.“ Ich trug einen Pulli mit einem schottischen Muster – die waren damals ziemlich angesagt – und darunter ein T-Shirt. „Wie soll ich das ausdrücken?“, sagte er, „du würdest so ja auch nicht auf ein Begräbnis gehen, oder?“ Ich gab ihm Recht, ich würde so gekleidet tatsächlich nicht auf einem Begräbnis erscheinen. Mit einer leicht gequälten Stimme sagte er dann: „Nun, warum kommst du dann so zur Arbeit?“

Der Vergleich mit der Beerdigung war in Bezug auf das Büro ziemlich passend. Ich war mir nicht sicher, ob er diese Analogie sogar bewusst anbrachte, um mir zu vermitteln: „Hey, ich weiß schon, wie der Hase läuft. Aber lass uns hier drinnen so wenig Aufsehen wie möglich erregen.“ Was das Gemälde mit alldem zu tun hatte, weiß ich bis heute nicht.

Es war ein sonderlicher Ort. Als wäre man im Büro aus A Christmas Carol – Die drei Weihnachtsgeister angestellt, besonders dann, wenn der Leichenbeschauer in seinen seltsamen viktorianischen Klamotten vorbeikam und aus dem Mund nach Balsamierflüssigkeit roch. Ich wusste, dass ich hier raus musste. Endgültig reichte es mir schließlich, als man mich ans College schickte, um mich bezüglich Kommunalverwaltung und Zentralregierung weiterzubilden. Es war, als wäre ich wieder an der Schule. Wir lernten über Dinge wie Parlamentsprotokolle und Bürokratie und ich war nicht im Geringsten interessiert. Wie vorherzusehen war, schnitt ich in der Prüfung richtig schlecht ab. „Jetzt geht das schon wieder los“, dachte ich mir und nahm meinen Hut. Letztlich hatte ich es ein Jahr lang versucht. In dieser Zeit habe ich bestimmt eine Viertelmillion dieser Umschläge verschickt. In keinem dürften gute Nachrichten für den Empfänger gesteckt haben.

Ich schrieb zahlreiche Werbeagenturen in Manchester an, weil sie die einzigen potenziellen Arbeitgeber waren, die damals eine Aussicht auf eine künstlerisch-kreative Beschäftigung boten. Ich ging zu ein paar Vorstellungsgesprächen und mir wurden auch zwei Jobs angeboten. In beiden würde ich weniger verdienen als im Rathaus, aber das war nicht wirklich wichtig. Ich wollte nur eine Anstellung, in die ich ein wenig Herzblut fließen lassen könnte.

Der einen Firma sagte ich, dass ich sofort anfangen würde, wohingegen ich der anderen erzählte, dass ich in ein paar Wochen loslegen könne. Ich würde mich bei der ersten Agentur einfach krankmelden und dann im Anschluss entscheiden, welchen der beiden Jobs ich bevorzugte. Ersterer war einfach nur beschissen. Ich machte dort diese schrecklichen Anzeigen, die man aus Zeitungen kennt – „10 % Discount, JETZT!“ umgeben von einem großen Stern. Das war keine Kunst, sondern Müll. Ich hielt es dort gerade mal eine Woche aus.

Der zweite Job war bei Greendow Commercials, einer Agentur, die Fernsehwerbungen produzierte, etwa für die Zeitschrift TV Times. Außerdem bestand eine Verbindung zu Granada Television, denn die meisten der Angestellten hatten dort als Grafiker gearbeitet, sich im Anschluss selbstständig gemacht und waren nun hier gelandet. Die Firma hatte einen eigenen Schneideraum, eine Trickkamera und ein Synchronstudio, weshalb praktisch alles gleich im Haus fertiggestellt werden konnte. Ich war als Laufbursche engagiert und mein Vorgesetzter war ein Typ namens Simon Bosanquet. Sein Onkel war Reginald Bosanquet, ein Nachrichtensprecher. Er war in Ordnung und hatte für Bryan Ferry ein Musikvideo zu „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ gedreht. Darauf war er sehr stolz. Die Leute in dieser Agentur waren eigentlich alle großartig. Mir gefiel es dort sehr. Meine Kollegen waren kreative Leute und es herrschte eine viel bessere Atmosphäre als bei der Arbeit im Rathaus. Ich glaube, dass ich den Job nur wegen meines Motorrollers bekam. Immerhin musste ich als Laufbursche Botendienste erledigen – etwa überall in Manchester Filmrollen ausliefern. Aber ich beschwerte mich sicherlich nicht darüber. Die Leute in der Firma standen auch total auf Musik. Man konnte den ganzen Tag Musik auflegen. Viele – nicht alle – jammerten, wenn ich meine spielte. „Wie kannst du dir nur so einen Scheiß anhören?“, fragten sie dann. Allerdings waren sie auch älter als ich.

Ich hatte noch nicht sehr lange dort gearbeitet, als wir die Hiobsbotschaft erhielten, dass die Firma zusperren würde. Gerry Dow, der oberste Chef, teilte uns mit, dass es ihm leidtäte, sie aber planen würden, etwas Neues zu starten, und sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung setzen würden. Seine beiden Stellvertreter hießen Brian Cosgrove und Mark Hall und sie waren echt gut zu mir. Zu dieser Zeit verdiente ich rund zehn Pfund in der Woche. Sie bezahlten mir netterweise weiterhin acht Pfund in der Woche dafür, dass ich gelegentlich Arbeiten bei ihnen zuhause erledigte – etwa im Garten half und solche Dinge –, bis sie etwas Neues am Start hätten.

Obwohl Greendow zumachte, war Thames Television aus London daran interessiert, Teile der Einrichtung zu nutzen, was dazu führte, dass Mark und Brian gerade einmal sechs bis acht Monate nach dem Ende von Greendow in Chorlton eine neue Firma – Cosgrove Hall Animation –

gründen konnten. So wurde ich zum Koloristen bei Zeichentrickserien wie Jamie and the Magic Torch. Ich versah die Animationen auf den einzelnen Folien, die zuvor von den Animatoren gezeichnet worden waren, mit Farbe. Das war definitiv ein Aufstieg gegenüber meinem Botenjob, aber der Umstand, dass ich in Bezug auf auf Kunst keine höhere Qualifikation als meine O-Level-Prüfung vorzuweisen hatte, bremste mich ein wenig. Jeder bei Cosgrove Hall Animation hatte eine Kunstschule besucht – außer mir. Deshalb war ich in der Hierarchie immer ganz unten. Ich mochte den Job, aber er war auch sehr eintönig. Da ich außerdem wusste, dass ich über keine wirklichen Aufstiegsmöglichkeiten verfügte, begann ich, mich zu langweilen. Also trug ich mich für Kunstkurse an der Abendschule ein und kam – so wie immer – gleich zur ersten Stunde zu spät. Ich riss die Türe auf und rannte hinein und da saß, inmitten des Raums, eine Frau mittleren Alters, umgeben von Leuten mit ihren Staffeleien. Alle sahen mich an. Ich sah alle an. Sah das Modell an. Sie sah mich an. Und mir blieb der Mund offen. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen. So oder so half mir das nicht wirklich bei meinen Ambitionen in puncto Grafikdesign und Animation, was die Bereiche waren, in denen ich mich fortbilden hätte sollen. Ich erkundigte mich bei der Firma, ob sie mich fürs College freistellen würden, aber sie meinten, dass das nicht drin sei.

So begann meine Ruhelosigkeit zuzunehmen, obwohl ich die Leute, mit denen ich arbeitete, sehr, sehr gern hatte, insbesondere einen Animator namens Graham Garside. Außerdem gab es da noch einen mürrischen alten Typen namens Keith. Man begrüßte ihn und er schaute einen nur an. Antwort gab es keine. Eines Tages sagte er zu mir: „Schau dich nur an, du halbes Hemd. Eines Tages wirst du aufwachen, aufstehen und eine Wampe haben. Merk dir meine Worte!“ Das war so ein entsetzlicher Kommentar, dass er mich schon wieder zum Lachen brachte, aber er sollte Recht behalten: Genau so ist es nämlich gekommen. Wir machten ihm seinen Tee und er mochte ihn richtig stark. Wir nahmen ein widerliches Paar alter Socken, fischten ein paar alte Teebeutel aus dem Abfalleimer, stopften sie in die Socken und sagten: „Hättest du gerne Tee, Keith?“ Dann pressten wir das Sockengebräu in eine Tasse und gaben sie ihm.

Abseits der Arbeit investierte ich meine Zeit – und mein Geld – in Musik und meinen Motorroller. Ansonsten gab es in Salford damals auch nicht sonderlich viel zu tun. Es war eine ziemlich abgeschottete Gemeinschaft und man fuhr nicht oft weg. Ab und zu ging es vielleicht mit ein paar anderen Scooter-Jungs nach Blackpool oder Southport. Als ich 17 war, verschlug es uns sogar einmal bis runter nach Brighton. Die Polizei hielt mich an, weil ich keine Zulassungsplakette hatte. Mein lieber Großvater – Gott hab ihn selig – hatte mir 175 Pfund geliehen, damit ich mir meinen Lambretta-Flitzer hatte kaufen können. Das war damals eine schöne Stange Geld. Ich war richtig stolz auf meinen fahrbaren Untersatz – und auch stolz darauf, dass ich meinem Großvater mit meinem Gehalt sein Geld zurückzahlen konnte. Außerdem hatte er mir auch zehn Pfund gegeben, damit ich mir eine solche Plakette kaufen könne, was ich aber nicht tat. Stattdessen kaufte ich mir eine Schallplatte, nämlich Argos von Wishbone Ash. Ich hatte zwar noch nie von ihnen gehört, aber einfach mal auf gut Glück zugegriffen. Als ich mir die LP zuhause dann anhörte, gefiel sie mir nicht die Bohne, jedoch wollte man mir im Laden, wohin ich die Scheibe zurückgebracht hatte, mein Geld nicht zurückerstatten. So hatte ich das Geld für die Zulassungsplakette für ein Album verbraten, das mir nicht einmal gefiel, und, um alles noch schlimmer zu machen, wurde ich nun auf einem Roller mit L-Platten, die mich als Inhaber eines provisorischen Führerscheins auswiesen, von der Polizei aufgehalten. Außerdem saß noch ein Mädchen bei mir auf dem Sozius. Keine Zulassungsplakette – das hieß auch, dass ich nicht versichert war. So fasste ich eine empfindliche Strafe aus. Ich glaube zwar, dass ich einen Helm trug, aber das war bei dem ganzen Szenario auch schon das einzig Legale und die Gesetzeshüter gaben sich nicht sonderlich nachsichtig.

Ein paar Jahre später legte sich auch Peter Hook einen Motorroller zu und wir hingen mit anderen Gleichgesinnten ab. Wir flitzten durch Salford und Umgebung. Der geringste Vorwand genügte der Polizei, um uns anzuhalten. Sie versuchten dann, Informationen über hiesige Kriminelle aus uns herauszuquetschen, aber selbst wenn wir etwas wussten, verpfiffen wir nie wen.

Ungefähr zu dieser Zeit begannen wir, zu Konzerten zu gehen. Die treibende Kraft dahinter war in erster Linie Terry Mason, ein weiterer Freund aus der letzten Bankreihe in der Schule, der sowohl in der Story von Joy Division als auch in jener von New Order eine gewisse Rolle spielen sollte. Terry war wie wir alle ein Sonderling. Er war in Ordnung, ein ziemlich harmloser Charakter und in nichts besonders herausragend. Deshalb versuchten wir stets, ihn auf irgendeine Weise einzubinden, in der Hoffnung, vielleicht auf etwas zu stoßen, in dem er vielleicht doch einigermaßen gut war. Wir versuchten es etwa in den ganz frühen Tagen von Joy Division mit ihm als Schlagzeuger. Seine Mum hatte ihm ein Schlagzeug gekauft, aber leider war es so ziemlich das schlechteste auf dem ganzen Planeten – die Stützen waren so dünn wie Stricknadeln und das Ding bewegte sich von ihm weg, während er darauf spielte. Als er sich da so auf seinem Hocker nach vorn streckte, um die Trommeln zu erreichen, wirkte er mehr wie ein Wasserskifahrer als wie ein Drummer. Es war der Sache natürlich auch nicht besonders zuträglich, dass er ein richtig schlechter Schlagzeuger war – sogar im Kontext einer Punkband. Er hatte überhaupt kein Rhythmusgefühl und machte einfach nur einen fürchterlichen Radau. Terry sah wie eine Mischung aus dem Gestapo-Typen aus Jäger des verlorenen Schatzes und Alan Carr, dem Comedian, aus. Ich hielt ihn für einen witzigen Kerl. Obwohl seine Scherze ziemlich abstoßend waren, musste man einfach lachen. Damals war er jedoch in Bezug auf Konzerte ziemlich gut informiert, hauptsächlich weil er im Gegensatz zu uns die Musikpresse verfolgte. Er merkte sich Shows vor, die wir uns seiner Meinung nach nicht entgehen lassen sollten, und üblicherweise lag er damit goldrichtig.

Mitunter stellten sich die Konzert-Locations als Örtlichkeiten heraus, in die man ohne Studentenausweis nicht eingelassen wurde. Dann durften wir oft auch nicht rein, weil wir für Skinheads gehalten wurden – obwohl wir ja eigentlich Suedeheads waren. Die Studentenvertretung in der Oxford Street wies uns ab, weil wir nicht wie Hippies aussahen. Mit der Zeit frustrierte uns das, weil Bands damals nur an Unis und Colleges auftraten. Anscheinend wurden wir als Abschaum eingestuft und, nun ja, das waren wir wohl auch.

Eine Location, die uns reinließ, war die Lesser Free Trade Hall. Einer der ersten Gigs, an die ich mich erinnere, war ein Konzert von Lou Reed, der 1974 dort spielte. Ich war ein großer Fan von ihm und liebte seine Solo-Sachen. Ich war schon auf Transformer, seine Live-LP, Rock and Roll Animal und Berlin gestanden, bevor ich von Velvet Underground gehört hatte. Ich denke, dass es die Tour zu Sally Can’t Dance war, und ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, ihn live sehen zu können. Seine Band kam auf die Bühne und begann mit „Sweet Jane“. Ich dachte mir in diesem Moment, wie toll es erst sein würde, wenn Lou gleich selbst auf die Bühne käme. Dann fing plötzlich dieser Zwerg mit blond gefärbten Haaren zu singen an. Das konnte doch nicht Lou Reed sein? Aber er war es.

Er war total von Sinnen – außer Rand und Band. Er zerschlug ein Mikrophon nach dem anderen. Aber es war ein fantastisches Konzert und das Publikum hatte auch so richtig Bock. Ich glaube, dass das auf eine gewisse Weise mein erster Punk-Gig war, nur wusste ich das da noch nicht. Die Band beendete ihr Set mit einer stürmischen Version von „Goodnight Ladies“ und machte sich dann vom Acker. Jeder erwartete noch eine Zugabe, aber die Bühne blieb leer und das Publikum wurde langsam unruhig. Ich stand neben einem Kerl, der wie ein Klon von Rod Stewart aussah. Er traf und durchschlug mit einer Bierflasche aus fast 500 Metern und unglaublicher Genauigkeit die Basstrommel auf der Bühne. Das war es dann. Pandämonium. Leute stürmten die Bühne und prügelten sich mit Roadies und Sicherheitskräften. Lou Reed sollte nie mehr nach Manchester zurückkehren – und alles nur wegen eines Typen mit zwielichtiger Haarpracht und unfassbarer Wurfgenauigkeit.

Hooky fuhr auf Deep Purple ab. Ich war nicht so überzeugt von ihnen, aber letztlich besorgten wir uns Konzertkarten, um eines ihrer Konzerte zu besuchen. Ich hatte einen schlimmen Zahnabszess und musste erst überredet werden. Es ist nie eine gute Idee, mit einem Zahnabszess auf ein Konzert zu gehen, aber noch schlimmer ist es, wenn eine Band spielt, die einem nichts gibt. Bei einem Song steigerte sich der Sänger in immer noch höhere Tonlagen – es war wohl „Child In Time“ – und mein Zahn pulsierte vor sich hin, als würde seine Stimme mir buchstäblich auf die Nerven gehen. Agonie. Im Publikum befanden sich zudem ziemlich viele Schwachköpfe. Ein nerviges Erlebnis.

Schließlich, als der Keyboarder gerade in einem schier endlosen Prog-Rock-Solo schwelgte und mein Zahn mich umzubringen drohte, kam ich zu dem Schluss, dass es hier echt beschissen und viel zu laut war. Als der Keyboarder inmitten seines nicht enden wollenden Solos schließlich begann, „I Do Like To Be Beside The Seaside“ einzubauen, als sei es eine witzige Randnotiz, konnte ich nicht mehr anders, als mich ordentlich selbst zu bemitleiden. Zuerst dachte ich mir noch, dass er eben einen Gag einbauen hatte wollen. Dann, wieder zehn Minuten später, spielte er noch die Titelmelodie von Coronation Street an. An diesem Punkt dachte ich mir: „Der will uns wohl verarschen, dieses Weichei aus dem Süden – ist bestimmt aus London!“ Es reichte. Ich ging hinaus. Schlussendlich spielten wir vor ein paar Jahren mit Deep Purple in Frankreich. Sie hatten ihre Solos mittlerweile stark eingeschränkt.

Santana in der Hardrock Hall in Stretford war ein weiteres denkwürdiges Konzert. Es fand im November 1972 statt und ich hatte noch nie zuvor so einen großen amerikanischen Act live gesehen. Ich liebte den Sound von Carlos Santanas Gitarre und hatte eine große Schwäche für seinen Spielstil, weshalb ich mich schon sehr auf diese Show gefreut hatte. Aber zu dieser Zeit war er schon in seiner jazzigen, metaphysischen Phase angelangt. Sein Album Caravanserai war gerade erst veröffentlicht worden. Er kam auf die Bühne und sprach: „Ich möchte gerne mit ein paar Augenblicken der Meditation beginnen.“ Meditation. Ausgerechnet in Stretford, südlich von Manchester. Er faltete seine Hände, senkte sein Haupt und stand einfach nur stumm da. Das kam selbstverständlich beim lokalen Publikum, das schon ein paar Pints Bier intus hatte, nicht sonderlich gut an. „Komm verdammt noch mal in die Gänge“ war noch der höflichste Zwischenruf, der die meditative Stille durchbrach.

Das Buxton Festival in den Hügeln von Derbyshire war auch so ein Event, das in Erinnerung blieb. Hooky, ich und ein paar andere Motorroller-Enthusiasten trafen vor Ort nämlich auf eine Horde Hells Angels. Wir waren uns sicher, in der Tinte zu stecken – schließlich war hier ein Haufen Kurzhaariger auf einer offensichtlichen Langhaarigen-Veranstaltung. Allerdings verlief dann alles reibungslos. Family spielten gerade, als wir eintrudelten, und ich war echt beeindruckt von ihnen, weil sie so wirkten, als ob sie völlig zugedröhnt wären. Ich dachte mir: „Das ist der absolute Hammer, die scheißen einfach drauf.“ Wishbone Ash – diese Architekten meines Dilemmas mit der Zulassungsplakette – standen auch auf dem Programm. Sie wurden sogar zu Headlinern befördert, weil Curved Air sich geweigert hatten auf die Bühne zu gehen, da es ihnen schlicht und ergreifend zu kalt war. Das Album, das mir nicht gefallen hatte, Argos, hatte sich als großer Erfolg für Wishbone Ash erwiesen, weshalb ich beschlossen hatte, ihnen noch eine Chance zu geben. Jedoch konnten sie mich auch diesmal nicht überzeugen.

Von dieser Nacht ist mir am meisten der spektakuläre Meteoritenschauer in Erinnerung geblieben. Da draußen in den Hügeln gab es keine Lichtverschmutzung und so hatten wir vielleicht den besten Ausblick im ganzen Land. Wir standen unter einem mit Sternen überflutetem Nachthimmel, über den ununterbrochen kleine Lichtflecken huschten und umgehend wieder verschwanden. Über das Soundsystem lief die Titelmelodie von Doctor Who, was das ganze Szenario ein bisschen schrullig wirken ließ. Ich war trotzdem schwer beeindruckt. Ich saß da, starrte mit offenem Mund nach oben und war komplett verzaubert. Vielleicht hört sich das ja ein wenig naiv an, aber ich war zuvor noch nie bei einem Festival gewesen, geschweige denn hatte ich jemals einen Meteoritenschauer miterlebt. Ich fand es einfach nur fantastisch.

Trotz all dieser kosmischen Feuerwerke, schlecht durchdachten Massenmeditations-Workshops und präzisen Flaschenwürfe gab es jedoch ein Konzerterlebnis, das alle anderen in den Schatten stellte. Es handelte sich um eine Show, die wahrscheinlich intensiver analysiert und verklärt wurde als irgendein anderes Konzert in der Musikgeschichte. Viele behaupten, dass dieser Auftritt in weiterer Folge alles veränderte.

Und ich war mit dabei.

New Order, Joy Division und ich

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