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Auf rauen Wegen zu den Sternen

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Das Brautpaar saß vier Reihen vor mir in der ersten Bank, der Pastor agierte souverän, der Organist fast genauso, die Brautmutter schluchzte diskret in artigen Abständen, es war alles, wie es zu sein hat. Leider ausnahmslos alles, dachte ich. Und da ich die Zeit zum Denken hatte, unterdrückte ich es nicht, sondern machte mir bewusst, dass das Sitzmöbel ein überaus nützliches Produkt menschlicher Kreativität ist, wenn man es den Eigenarten und Bedürfnissen des menschlichen Körpers angepasst hat. Alle Versuche, es umgekehrt zu machen, sind gescheitert. Wo der Körper nicht das ihm Gemäße vorfindet, kommt es stets zu Schmerz und Pein. Betrachtet man aufmerksam die Geschichte der Formen von Stühlen, Sesseln, Sofas, Bänken durch die Jahrhunderte, so führte mein Geist diesen Ansatz fort, fällt auf, dass so manches, ja das meiste geschaffen worden ist unter Umgehung oder gar Missachtung der körperlichen Wünsche. Sogar so mancher Herrscherthron in seiner rechtwinkligen Zuordnung von rundungsfreier Sitzfläche und ebensolcher Rückenlehne lässt erahnen, dass Herrschen eine harte Angelegenheit gewesen sein muss. Besonders die Thronsessel in der Chefetage auf der Iberischen Halbinsel und in den Dependancen Lateinamerikas kümmerten sich nicht um die legitimen Wünsche jener Körperteile, die sich mit dem Möbel zu arrangieren hatten. Die Frage, in welchem Maße der Niedergang der spanischen Weltmacht im 18. Jahrhundert mit misslichen Rücken- und Gefäßmuskelproblemen Philipps II ursächlich in Verbindung stand, harrt noch der wissenschaftlich exakten historisch-orthopädischen Aufarbeitung.

Ich legte eine kurze Denkpause ein, schob meinen rechten Oberschenkel vorsichtig über den linken und nahm den Faden wieder auf. Als ein Beispiel auf anderer sozialer Ebene, dachte ich, bieten sich die engen, kantigen Schulbänke unserer Altvorderen an, die – getreu der Maxime „Für das Leben lernen wir“ – das Ihre dazu beigetragen haben, in lebensnaher Weise darauf vorzubereiten, dass es dem späteren Leben wohl an Freiheit, nicht aber an Härte mangeln werde.

Und mit einem dritten Beispiel veranschaulichte ich mir das Problem: Noch im Kontor der Buddenbrooks zogen es die Buchhalter vor, den Zehnstundenarbeitstag nicht sitzend auf dem Hocker zu bewältigen, sondern stehend zu überstehen. Was ihnen übrigens schon in der Kindheit trotz aller Härte und Konsequenz der Erziehung zugestanden wurde beim Stehen während der Mahlzeiten am elterlichen Tisch.

Heute aber thront die Kanzlerin auf einem ausgetüftelten Bürosessel, verstellbar in Höhe und Neigung und anderem, (ihre Sekretärin dürfte ihr nur um ein Geringes nachstehen), die Schüler nebst –innen räkeln sich auf zum Träumen verleitendem Gestühl, und die Schreiber im Büro stehen ihnen nicht nach – was die Sitzkultur betrifft.

Ganze Kollektive aus den Fachbereichen Architektur, Orthopädie, Design, Tischlerei und Sattlerei widmen ihre Arbeit der kongenialen Entwicklung neuer Erkenntnisse zum Thema Meublement fürs Sitzen und deren sorgfältig präziser Realisierung. So sind in den großen Fußballstadien die kümmerlichen Bänke aus schmalem Brett fürs Hinterteil und schmalerer Latte für den Rücken futuristischen Schalensitzen gewichen, die Lichtspielhäuser brauchen mit ihrer Besesselung nicht die Konkurrenten des Puschenkinos zu fürchten, und da reiht sich wenn auch in einigem Abstand sogar der ICE ein.

Behutsam verschob ich mein Schwergewicht von der einen auf die andere Seite, bevor ich im Geiste formulierte: Nur die Kirche hat einen Sonderweg eingeschlagen, genau gesagt: gar keinen Weg, sondern sie verharrt konsequent im Althergebrachten. Was aber nicht heißt: im Altbewährten. Die Kirchenbank ist, wie sie ist seit Anbeginn der Christenheit. Konsequenter Verzicht auf Armlehnen und Kopfstützen. Das hier und da eingeschnitzte Zierwerk in den seitlichen Begrenzungen am Gang vermag zwar das Auge zu erfreuen, jedoch Steiß und Po den Aufenthalt nicht zu erleichtern. Härte im Material und Reduktion auf das Wesentliche sind hier Markenzeichen. Zwei Bretter in der Zuordnung von genau oder annähernd 90° – unter dem Aspekt der Einfachheit zwar eine bestechende Lösung, aber selbst der schwankende Barhocker oder die rustikale Bank im Biergarten bieten ein Mehr an Kommodität. Wer hier auf die lange Bank geschoben wird, dem dehnt sich die gefühlte Zeit mit schmerzhaft gefühltem Steiß und Rückgrat in zunehmender Tendenz.

Ich versuchte, die Beine zu strecken, die Füße unter meinen Vordermann zu schieben, stieß aber da unten mit dem Schienbein auf Kantiges, presste die Lippen aufeinander, und mir fiel ein: Auf rauen Wegen zu den Sternen. Ad aspera ad astra. Das hatte mich die Schule über die alten Römer gelehrt. Und ich dachte verbittert: Ich bin ein Feigling wie die anderen auch. Das gesamte echte Kirchenvolk nebst allen, die nur durch Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Weihnachten oder durch Konzerte in die Kirchen gelockt oder gezerrt werden, nimmt ohne Murren, Klagen und Protest das Übel auf sich. Und das nimmt Wunder, denn immerhin kommt der Kirchsitzer mit nichts aus dem weiten Bereich der kirchlichen Welt so hautnah, so lange, so spürbar in Kontakt wie mit dem Holz, auf dem er sitzt und gegen das er sich lehnt. Dem er sich mühselig und beladen anvertraut und das ihn schroff und hart abweist, herzlos und ohn Erbarmen. Könnte sich beim Bankgeprüften da nicht mit der Zeit, vielleicht ungewollt und ohne böse Absicht, die Frage hervorwagen: Wollen die hier mich eigentlich? Wenn Fußballclubs und Kinos, sogar Schulen mit einladendem Gestühl um die Gunst ihrer Besucher werben, warum die Kirchen nicht? Haben sie der Besucher genug? Mit Verlaub: mitnichten!

Als ich gestern bei meinem Bruder schon mal über den mühsamen Einstieg in die Hochzeitsfeier klagte, sagte er lapidar: „Beschwer Dich beim Pastor.“ Beschwerden beim Pastor? Vielleicht gar mit Unterschriften der gesamten Gemeinde? Sinnlos, denn der muss da ja nicht sitzen. Er ist privilegiert, alle Phasen seiner Amtshandlung im Stand zelebrieren zu dürfen. Und von der Kanzel mitleidlos herunterzublicken auf die Leiden der hier unten, wie sie mühsam das Körpergewicht von der einen Pobacke auf die andere verlagern. Wer hoch oben thront, ist von der Basis viel zu weit entfernt, um ihren Kummer erfassen zu können.

Ich wollte und will der Kirche nicht unterstellen – zumal nicht als Gast in ihrem Hause, auf ihrer Bank! – sie verstehe sich als Auslaufmodell, für das sich Renovierungen nicht mehr lohnen oder dem Veränderungen nicht mehr helfen. Aber wenn sie sich weiterhin der Moderne verschließt – wohlgemerkt: was das Sitzen betrifft! – wird sie es sich bald gefallen lassen müssen, als Sitzenbleiber tituliert zu werden.

Angestachelt vom aggressiven Holz, spann ich den Faden weiter: Wie alles muss auch der Misstand seine Ursache haben. Wohlan: Wäre es möglich, man wolle den Besuchern nachdrücklich einprägen (in des Wortes doppelter Bedeutung), dass der Aufenthalt in dieser Welt und gerade an diesem Ort nicht gedacht ist, sich weltlichen Freuden hinzugeben, die dem Körper schmeicheln? Dass die Gedanken sich vom harten Hier und Jetzt lösen und auf den Weg machen sollen hinauf zu den Sternen und darüber hinaus? Ad aspera ad astra?

Dann waren sie fertig, da vorn, und das Brautpaar bog gemessenen Schrittes in den Mittelgang ein. Um unserer Ehrerbietung Ausdruck zu verleihen, vor allem aber, um Haupt und Glieder vorsichtig in die Senkrechte zu recken, erhoben wir uns alle, mühsam und schwerfällig, in gehöriger Feierlichkeit, was hier eine Sehne, da ein Gelenk dezent, aber doch vernehmbar zu knacken animierte. Ich sah mich gezwungen, wie meine Vorderfrau und wie auch der Herr an ihrer Seite, einige Sekunden in leicht gekrümmter Haltung zu verharren. Sodann begannen unsere Beine, sich tastend zu bewegen, als trauten sie noch nicht dem Glück der Rückkehr in die wiedergewonnene Freiheit der Alltagsnormalität. Und dann, Gesäß und Steiß unauffällig reibend, mit gekrümmten Knien und platt aufgesetzten Füßen, taten wir vorsichtig die ersten kleinen Schritte zum Ausgang hin.

Vor dem Café auf der anderen Straßenseite saß man behaglich und entspannt auf den dicken Kissen der Korbstuhlsessel, trank, plauderte, las, ließ es sich wohlergehen. In diesem Augenblick verstand ich und entschuldigte den auf dem platten Lande über Jahrhunderte und in manchem Dorf noch heute gepflegten und zum Ritus sublimierten Brauch, dass die Männer am Sonntagvormittag nach Verlassen der Kirche noch unter Glockengeläut schnurstracks über den Dorfplatz ins Wirtshaus streben. Nun ja, dachte ich da, immerhin können sich unsere Kirchen mit ihrer individuellen Art der Bestuhlung sicher sein, dass niemand hineingeht, der, von shopping oder sightseeing erschöpft, für eine kleine Weile zur Entspannung und Erholung malträtierter Füße und meuternder Wirbelsäule nichts anderes als eine Sitzgelegenheit sucht. Wer kommt, hat der Würde des Hauses angemessene Absichten. Es sei denn, ein Lehrer demonstriert seiner ungläubig staunenden Klasse, welchen Stühlen und Bänken die Vorfahren allüberall ausgeliefert waren. Ein modernes Museum, weil es nicht nur zeigt, sondern unmittelbar am lebendigen Objekt erleben lässt, wie’s einmal war.

Womit ich um des Himmels Willen nicht gedacht haben wollte noch will, dass die ganze Kirche ein Museum sei.

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