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Wo das Kleine das Allergrößte ist

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Schon so lange hatten wir darauf gewartet, meine Frau und ich, dass wir das Warten nicht mehr merkten. Kurz nach dem Weihnachtsfest geschah es unerwartet, plötzlich und ohne Vorspiel. Meine Tochter kam mit ihrem Freund, einem langjährigen, herein und verkündete ohne Umschweife, ohne Förmlichkeiten und Feierlichkeiten, dass sie heiraten wollten.

Meine Frau und ich umarmten zuerst uns stumm, dann sie, dann ihn, und als ich sah, dass die Augen meiner Frau sich mit Tränen gefüllt hatten, zog ich nach.

Das Fest hätten sie für den Mai angesetzt. 14 bis 18 Gäste. Nach der Standesamtlichen ein üppiges Essen bei unserem Griechen, Spaziergang an den See, dort im Restaurant an der Brücke Kaffeetrinken, abends hier im Haus fröhliches Beisammensein, vielleicht etwas Musik. Sakko und Krawatte erwünscht. Kirchliche Trauung? Nein, überflüssiger Ballast.

Ich holte die obligatorische Flasche Sekt, wir stießen an auf die Einrichtung der Ehe und auf diese bevorstehende im besonderen.

Im März fragte meine Frau unsere Tochter, ob wir Freunden und Verwandten bei passender Gelegenheit schon mal Andeutungen machen dürften über das Ereignis im Mai. „Natürlich, das müsst ihr“, sagte meine Tochter, „aber Mai ist vorbei.“ „Also schon April?“ fragte ich. „Nein, mitten im Hochsommer, im Juli, wenn die Rosen noch und die Hortensien schon blühen, die Tage warm und lang sind. Aber nicht in diesem Jahr schon, das wäre nicht zu schaffen.“ Sie sah unsere ratlosen Gesichter und erläuterte: Sie hätten alles umgeworfen, das heiße, viel sei ja gar nicht aufgebaut gewesen, aber jetzt planten sie ein Fest, das dem Anlass angemessen sei. „Wir haben das Gerüst, das Gerippe, die Struktur im Kern. Nach dem augenblicklichen Stand kommen 207 Gäste. Wir feiern 5 Tage lang. Standesamtliche hier im alten Rathaus. Kirchliche im gotischen Dom St. Johannis, Weltkulturerbe. Da muss der Bischof mal ran. Sonst streichen wir diesen Programmpunkt. Und anschließend mit offenen Kutschen der große Festzug ins Schloss, bis dahin hoffentlich auch Weltkulturerbe. Da wird gefeiert bis über den Morgen hinaus!“ Meine Frau und ich verdauten schweigend.

Die Details wurden uns in den folgenden Monaten in Fülle mitgeteilt. Vieles ergänzte das schon Vorhandene, manches warf das wieder über den Haufen. Die Kreativität meiner Tochter öffnete ein Arsenal bunter, prächtiger, einmaliger Accessoires, mit denen man eine Agentur für die Gestaltung großer Hochzeitsfeste hätte auftun können. Allein der geeignete Ort für das Jawort: auf der Cheopspyramide, das Heer der Gäste lässig drumherum gruppiert auf den sich türmenden Quadern. Oder die Zeremonie auf den glänzenden Rücken der Quadriga über dem Pariser Platz. Oder im kleinen Sonderzug der DB, streng privatissime, vom Hbf zu einem Sonderhalt auf der Museumsinsel, wo Trauung hoch oben auf dem Pergamonaltar, Gäste darunter auf dem breiten Berg der Stufen lagernd, Nofretete wird als Trauzeugin herübergetragen. Auf dem Rand des gütig grummelnden Ätna, auf der sicheren Insel im Kreis der fauchenden Formel I, in der Halbzeitpause Borussia-Schalke, im Kreis der Kuppel über dem Plenarsaal mit dem zur Sitzung versammelten – diesmal vollzählig! – Parlament.

Schon bald entschloss ich mich, Buch zu führen, und manchmal schlich sich mir die Frage in den Vordergrund: Haben wir unsere eigene Hochzeit verpennt? Aber ich war glücklich, in der ersten Reihe die Geburt zu erleben einer perfekt geplanten Inszenierung eines extravaganten und spektakulären Events, mit dem das Herkömmliche als abgegriffene Standartware eines nüchternen Verwaltungsaktes demaskiert wurde.

Ich muss gestehen, dass ich anfangs Ängste empfand, schien es doch, als wachse etwas zur Lawine, die uns alle überrollen und verschlingen würde, und meine Frau vertraute sich mir an, ihr werde von zwei Befürchtungen die Vorfreude verdorben. Würden die Beiden sich in finanzielle Ausgaben stürzen, die sie für den Rest ihres Lebens zu Schuldnern machten? Und wenn die Eheschließung noch über ein Jahr warten müsste, sei doch die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass unser ersehnter und schon jetzt geliebter Enkel ein unehelicher werden könnte. Ich konnte sie beruhigen, denn für das finanzielle galt, beide waren Unternehmensberater. Und für das Baby: Die Beiden waren mit den Vorbereitungen so ausgefüllt, dass sie für nichts Anderes Zeit hätten.

Aber auch mich ließ das alles nicht kalt. Ich träumte drei- oder viermal – darüber führte ich kein Buch – den gleichen Traum. Ich sitze in einem prächtigen, schwach erleuchteten Konzertsaal, ich als einziger mitten im Parterre. In den Händen Stift und Tafel, die in wohl 20 gleich große Felder unterteilt ist, in deren linker oberer Ecke eine Nummer steht. Trompeten schmettern eine Ouvertüre wagnerschen Kalibers, von einem engen Lichtstrahl eingefangen, tänzelt ein allerliebster pausbäckiger Engel mit goldenen Locken auf die Bühne, hebt eine Tafel mit einer 1 über den Kopf und verschwindet flugs hinter dem Vorhang. Und da gleitet ein lebendes Bild herein. Hoch oben auf dem Scheitelpunkt einer prächtigen Brücke das ausnehmend glückliche Paar, links und rechts auf den Stufen freudig gestimmte Menschen, fast ausgelassen, alle in festlich-feiner Kleidung. Unter ihnen ein schier unentwirrbarer Gondelwust. Die Gondolieri rufen ihr Vivat hinauf, so voller Inbrunst, dass sie fast den Vivaldi des Kammerorchesters am Fuß der Brücke ersticken.

Mit einer lässigen Handbewegung bedeute ich dem Spektakel den Abgang, und sofort gleitet alles davon. Der Engel schwebt mit der 2 vorüber, gleich darauf kommt und so weiter und so fort. Schließlich der Kleine mit der goldenen Aufschrift Fines Operis, einige Herren in dunklen Anzügen schreiten herbei, ordnen sich zu einem Halbkreis, blicken zu mir herüber, mir wird klar, ich soll die Entscheidung geben, das Urteil fällen – der Schweiß bricht aus, die Luft wird knapp, gerade noch gelingt mir durch den Saal zu schreien:„Ich kann es nicht!“, meine Frau wischt mir den Schweiß von Stirn und Wangen, hat sich über mich gebeugt, fragt mich liebevoll: „Was kannst du nicht?“

Ich wollte mich mit der passiven Rolle des Zuschauers und bloßen Registrators nicht begnügen und bot meinem künftigen Schwiegersohn an, das Fotografieren zu übernehmen. Er klopfte mir auf die Schulter, nickte anerkennend und lobte mich, aber es sei ihnen schon gelungen, in ihren Bekanntenkreisen drei Kameramänner aufzutreiben und einen Fotojournalisten. Die würden das gesamte Geschehen vom Anfang bis zum Ende filmen und fotografieren und sofort nach dem Ende des Festes noch in der Nacht das gesamte Material sichten, schneiden und zusammenfügen und mit Musik garnieren. Aber wenn ich schon tätig werden wolle, ich könnte mir ja mein Outfit vornehmen. Ich wisse ja, die Kleiderordnung verlange Smoking und Zylinder. Ich gebe zu, dass ich aufatmete und gerade noch verhindern konnte, mich zu bedanken.

Im Hutgeschäft sagte ich freundlich: „Ich möchte einen Zylinder.“

Der Verkäufer sah mich ratlos an und fragte: „Einen was?“

„Einen Zylinder.“

Er grinste: „Mein Herr, man befindet sich hier in einem Geschäft für Kopfbedeckungen und nicht in einem Kostümverleih.“

Ich verließ ohne Gruß das Geschäft und bediente mich im Internet.

Den Smoking bekam ich ohne blöde Bemerkungen in einem Salon für gehobene Herrenkleidung. Die Preise entsprachen dem Attribut. Einige Tage später sah ich in der Lokalpresse das Angebot dunkler Anzug, Weste, zwei Hosen, dezent gemustertes Hemd und ebensolche Krawatte für 159,99 €. Für einige Wochen hatte ich den Spaß an meinem Smoking verloren.

Ein Element der geplanten Vorführung gefiel mir am besten. Einmal gab ich zu bedenken:„Und wenn es dann regnet? Oder gießt? Dann fallen die Abendkleider, Blumenbouquets, Zylinder, Schimmel und Kutschen einfach ins Wasser? Das ist Spiel mit dem Risiko als der besondere Kick?“

Meine Tochter wurde richtig böse. „Für wie blöd hältst du uns! Noch nie was von Silberjodit gehört? Mannomann, wenn gefährliche Wolken auftauchen, werden sie mit Silberjodit behandelt, und dann verhalten sie sich gesittet.“

„Nässen überhaupt nicht?“

„Kein Tropfen.“

„Kennst du etwa jemanden, der das schon einmal versucht hat?“

„Natürlich!“, sie wurde ungeduldig. „Bei der Olympiade in Peking 2008 die Eröffnungsfeier. Kein Regentropfen hat da was kaputtgemacht.“

„Eine letzte Frage …“

„Ja, los doch!“

„Also: Wie teuer ist … oder wie preiswert ist so ein Einsatz?“

„Mit einer fünfstelligen Summe müssen wir rechnen.“

Ich zog mir einen Stuhl heran.

„Aber für die Gäste ist das doch ein ganz besonderes Erlebnis. Nicht nur, dass sie trocken bleiben. Auch dabei zu sein, wenn es gemacht wird, zu sehen, wie es gemacht wird, ist doch aufregend!“

Ja, sie hatte Recht. Neben Frau Holle im Sessel sitzen und erleben, wie sie Wetter produziert. Live! Ich malte mir aus, wie am Horizont eine dunkelblau, violett geballte Wolkenmasse sich heraufschob, unheimlich lautlos oder auch mit donnernder Ouvertüre im Tiefflug über uns heranglitt – das Brautpaar, meine Frau und ich waren fast damit überfordert, hin- und her zu springen, um die hysterisch aufspringenden Gäste in die Gartensessel zurückzudrücken. Ein erhebendes Gefühl, dass ein paar Meter weiter oben einige militärisch ausgediente Kampfjets, eine Mirage, eine Phantom, eine MIG, in Tuchfühlung über das Brodeln der Wolkendecke kurvten, und durch die geöffneten Luken schaufelten starke Männer in Kampfanzügen der deutschen Luftwaffe dieses hellglänzende Silberzeug in die dunkelblaue Watte unter ihnen, wo es lautlos versank und in geheimnisvoller Weise seine Aufgabe erfüllte.

Und ich stand unten, lächelnd, locker, souverän. Ja, das sind die unseren da oben. Ich blickte in die Runde der kopfschüttelnden, ungläubig und ratlos, ja, dümmlich und blöde lächelnden Gesichter. Ich lauschte noch, als das Gewitterdonnern in der Ferne abzog und das Geheul der Maschinen schwächer wurde, während sie in elegantem, weitem Bogen abdrehten.

Von nun an hatte sich meine erwartungsvolle Vorfreude zur Hochspannung gesteigert. Wir hatten noch 7 Monate, bis der große Tag aus dem Ei schlüpfen sollte. Ich wünschte mir so sehr, es möge ein Tag mit dauerhaftem Landregen oder mit einer breiten Gewitterfront werden. Das war so spannend! Diese Hochzeit hatte einen neuen Akzent bekommen.

Am 1. Aprilsonntag trat meine Tochter mit forschem Schritt ins Haus, zog meine Frau und mich in die Sessel, ließ sich aufs Sofa fallen und verkündete, die Entscheidung sei gefallen. Endgültig. Die Hochzeit solle ja ein besonderes Ereignis werden. Abseits des Trends, es sei halt Mode in dieser Zeit, ein aufwendiges, kostspieliges, abenteuerliches Event von atemberaubenden Dimensionen aufzutürmen. „Was wir machen, hat in den vergangenen 10 Jahren niemand gemacht und wird uns in den nächsten 10 Jahren niemand nachmachen. Also: 12 Gäste, Standesamt am frühen Nachmittag, Spaziergang an den See, nach halber Strecke Kaffeetrinken im Café an der Brücke. Abendessen bei uns: Klare Suppe, Schweinebauch mit Rotkohl und Kartoffelklößen, Eis mit geschlagener Sahne. Ausklang: zwei alte Videofilme aus dem Familienfundus. Plaudern. So wird’s gemacht, bitte keine Widerrede. Und ihr könnt mir glauben: Das wird Aufsehen erregen, damit kommen wir groß raus. Ich bin ich.“

Ich unterließ die Frage, ob wenigstens die silbersprühenden Flieger zum Einsatz kämen und, ach ja, mein Smoking. Aber für ihn fiel mir sofort eine glänzende Lösung ein. Meine Frau hatte im Herbst gesagt, es sei peinlich, wenn die Nachbarn sähen, wie ich bei der Gartenarbeit meine alten Anzüge auftragen würde. Das sollte schon ab morgen sich ändern. Zumindest im Vorgarten. Wenn es nicht regnet.

Im Licht betrachtet

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