Читать книгу Im Licht betrachtet - Bernd Berndsen - Страница 8
Performance für alle
ОглавлениеEs geschah mir im Flughafen Suvarnabhumi. In Bangkok. Dem internationalen, dem neuen Koloss. In einem der langen Gänge vom Gate zur Passkontrolle hastete er keuchend zwischen uns hindurch, überwand behände Familienzusammenballungen und unsicher sich aneinander drängende Touristen, legte sich in die Kurven, drehte dabei die rechte oder die linke Schulter nach vorn, schlängelte sich geschmeidig an allen vorbei, ohne jemanden ernsthaft zu touchieren. Er schien in solchen Slalomläufen trainiert, nahm das „Hey! Hey!“ und „Nono!“ hinter sich in Kauf. In der Schlange vor den Kabinen der Zollbeamten musste er sich eingliedern. Unruhig trat er von dem einen Bein auf das andere, blickte auf die Uhr, tat einen kleinen Ausfallschritt, um an der Reihe vorbei nach vorne zu blicken, schüttelte den Kopf. In der Hand hielt er den Pass, aufgeschlagen.
Fünf Minuten später sah ich ihn wieder – er war angekommen. Ein anderer geworden. Regungslos stand er da, nur die Rechte schob in kurzen Abständen eine Zigarette an den Mund. Dort ließ er etwas sich entwickeln, das dann als ein graues Weißes durch Mund und Nase hervorquoll. Liebevoll verfolgte er, wie es, sich sanft rundend und drehend, entschwebte. Dann richtete er den Blick auf eine unfassbare, unendliche Weite, entspannt dem Augenblick hingegeben. Das dauerte nicht lange. Er kehrte ins Hier und Jetzt zurück, er hob die rechte Hand zum Mund, schloss, um sich von nichts ablenken zu lassen, die Augen und nahm erneut einen tiefen Zug aus der Zigarette.
Ich bemerkte, dass er in einer Gruppe stand von Leuten, die in gleicher Weise kundtaten, dass sie ihr Glück gefunden hatten. Dicht gedrängt alle auf Tuchfühlung. Ansonsten kein Kontakt, kein Wort, kein Nicken, kein Blick.
Und alle, das war das Seltsamste, alle hinter Glas. Ein kleiner Raum, vielleicht 20 Quadratmeter, mit gläsernen Wänden. Sie reichten von den Füßen bis zum Hut. In der einen Ecke ein schmaler Zutritt. Weder Stuhl noch Sessel noch Sofa, nur Stehplätze. Aber das schien die da drinnen nicht zu stören. Sie strahlten eine tiefe, ungetrübte Zufriedenheit aus. Zwanzig oder dreißig mochten das sein, die den gläsernen Kasten bevölkerten. Nicht nur Männer, auch Frauen waren darunter, gar nicht so wenig, etwa zwanzig Prozent, eine Quote, die dem uns Gewohnten entspricht.
Diese Leute präsentierten sich als eine Mischung aus den verschiedensten Ländern, aus allen Kontinenten. Die Gesichter zeigten sich blass hellgrau, kernig braun, freundlich gelb oder bedrohlich dunkel, die Farbe der Haare reichte von nordeuropäischem Weiß oder Rot bis zum exotischen Schwarz. Ich sah Kleider und Kopfbedeckungen aus Arabien, aus Indien und aus unserem lieben Bayern, der Israeli stand neben dem Palästinenser, die ordenbeladene Brust des russischen Offiziers fügte sich neben das aufgeknöpfte Hemd des texanischen Farmers.
Sie blieben alle nicht länger als drei bis fünf Minuten. Aber durch die schmale Öffnung traten immer wieder neue hinein. Es war ein ständiges Kommen und Gehen in ungleichmäßiger Folge. Meistens kamen sie einzeln, aber hin und wieder zwei oder gar drei gemeinsam. Diese Fluktuation bewirkte, dass trotz leichter Schwankungen die Anzahl der Figuren annähernd die gleiche blieb.
Es war beeindruckend, mit welchem Eifer sie von allen Seiten her ihrem Auftritt zustrebten, behände, eilig, hastig, manche hektisch, immer ziel- und pflichtbewusst. Weder abzulenken noch aufzuhalten durch Caféstuben und Zeitungs- und Buchläden, Bars und Parfüms oder die Shops mit riesigen Batterien von Alkoholika aller Arten. Nicht einmal durch schöne Menschen beiderlei Geschlechts war ihr Tempo zu drosseln.
Trotz aller Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild demonstrierten sie mit dieser Art, ihre Bühne zu erobern, dass Wesensgleiches sie verband. Das trat im Bühnenraum noch eindringlicher hervor. Gerade die großen Kontraste im Äußeren ließen das ihnen Gemeinsame sich so eindrucksvoll entfalten. Denn was auch immer sie sonst tun, denken, fühlen mochten, wie kontrastreich sie sich kleideten oder frisierten, hier zeigten sie Einheit, Gleichheit, vielleicht gar Brüderlichkeit. Sie hielten mit angewinkeltem rechten Arm in der Hand zwischen Zeige- und Mittelfinger die Zigarette, führten sie in kurzen Abständen an die Lippen, nahmen Arm, Hand und Zigarette zurück in die Ausgangsstellung, und bald darauf ließen sie die ansehnliche Qualmwolke aus Mund oder Nase oder aus beiden zugleich hervorquellen. Sie starrten irgendwo hin, offenbar ohne etwas wahrzunehmen, und dann wiederholte sich die Sequenz und wiederholte sich. Bis das Requisit verraucht und verbraucht war. Der Akteur lockerte dann seine steife Haltung, nahm Notiz von seiner unmittelbaren Umgebung und schob sich zwischen den Mitspielern hindurch zum Ausgang und verließ zufrieden, gefestigt, gestärkt die Bühne.
Drinnen nahm das Spiel gleichmäßig seinen Fortgang. Und als ich einige weitere Minuten zugeschaut hatte, wurde mir klar, dass nicht nur die Reduzierung der dargebotenen Handlung auf die knappen, synchron geschalteten Bewegungen alle Unterscheidungsmerkmale der Darsteller verblassen ließ. Auch der dicke, zähe Qualm, der wabernd, in zögerndem Kreisen und Schwanken das ganze Kabinett gleichmäßig ausfüllte, dämpfte Farben und Konturen, verschleierte Unterscheidungsmerkmale.
Ich begriff den tieferen Sinn der Darbietung: Der modernen Verherrlichung des Ich, seiner Subjektivität, seinem liberalen Selbstverwirklichungswahn in der eigenen Profilierung, in der Missachtung des anderen, in selbstverliebtem Streben nach Unterscheidung und Absetzung vom Du und Ihr wurde eine klare Absage erteilt.
Eine Absage aber auch dem Aufgehen des Einzelnen im alles verschlingenden Wir ohne Ich und Du. Niemand ist allein, aber nicht jene, das Individuum missachtende, selbstvergessene Hingabe an den großen Chor in der Fußballarena, auf dem Kirchentag, im Popkonzert.
Vielmehr wurde mir vor Augen geführt das friedvolle Nebeneinander von Individuen, die alles genießen, was sie brauchen, aber nichts gewinnen auf Kosten des anderen. Die alles unterlassen, was den anderen verärgern oder beschämen, herabwürdigen oder ins Nachteil setzen könnte.
Und nicht nur diese Idee machte mich glücklich. Ich bewunderte die Mittel, mit denen sie lebendig gemacht wurde. Keine dramatischen Dialoge, keine ermüdenden Monologe, nicht ein einziges Wort. Ein Minimum an Requisiten. Verzicht auf Kostüme und Kulisse, auf spektakuläre Beleuchtungseffekte, auf Balletteinlagen und auf Musik. In symbolhafter Verdichtung eine Reduzierung auf das Wesentliche, das sich gerade darum so eindrucksvoll mitteilen konnte.
Das war ein schöner Tag.
Nur einige Wochen später hatte ich wieder ein beglückendes Erlebnis. Auf einem Bahnhof unserer Republik. Ich wartete geduldig wie die anderen am Gleis 7 auf das Ende der Verspätungszeit meines Zuges und sah weit hinten ein Element der Unruhe. Ein Mann kämpfte sich heran, mal beängstigend dicht an der Bahnsteigkante, mal im Zickzack zwischen den Reisenden und Kofferstapeln hindurch. Als er an mir vorbeikam, sah ich sein von großer Konzentration und Anstrengung verzerrtes Gesicht, mit der Linken schleppte er sein Gepäck, mit der Rechten eine Zigarette. Zwanzig Schritte weiter tauchte er ein in eine Gruppe, über deren Köpfen der Rauch eines kleinen Schwelbrandes waberte.
Ich war alarmiert, machte mir mit einer Rücksichtslosigkeit, die ich an mir noch nicht kennengelernt hatte, den Weg frei zu jenem Ort. Tatsächlich, es war genauso wie auf Suvarnabhumi, die Performance auch hier. Nun ja, genauso war es nicht, denn auf die gläserne Ummantelung hatte man verzichtet und statt ihrer ein Rechteck hergestellt aus breiten gelben Streifen. Vielleicht um eine eigene Note zu bringen, vielleicht weil diese Lösung preiswerter war – die Bahn muss ja sparen. Aber das schränkte die Übereinstimmung nicht ein. Auch hier das geschäftige Kommen und entspannte Gehen, das Nebeneinander von ölbeflecktem Blaumann und grauem Nadelstreifen, von Student und Rentner, hier Bild, da FAZ unter den Arm geklemmt. Schulter an Schulter ein Einsinken in ein tiefes Glücksgefühl. Die Versöhnung des Pariser Parfüms einer sichtlich Begüterten mit dem Makrelenduft einer bescheidenen Fischverkäuferin, vermischt zu einer Kreation, die nur hier zu genießen war. Alles äußerlich zusammengehalten durch die gelbe Einfriedigung, innerlich verbunden durch die hingebungsvolle Darstellung eines Beisammenseins der Gleichgesinnten.
Nur Kinder, die durften offenbar nicht mittun. Zumindest noch nicht. Aber was soll’s. Der Andrang der Protagonisten war so groß, dass schon jetzt die Bühne fast zu klein war. Außerdem wären Kinder vielleicht nicht mit dem Ernst bei der Sache, den die Erwachsenen hier an den Tag legten.
Beifall auf offener Szene liegt mir nicht, dennoch ging es diesmal mit mir durch. Ich setzte meinen Koffer ab und klatschte kräftig. Die Umstehenden sahen mich verwundert an, mehrere aus dem Karrée starrten befremdet zu mir herüber, und einer überschritt die gelbe Linie und kam mit großen, energischen Schritten und brennender Zigarette stracks auf mich zu, nahm eine drohende Haltung ein und fragte gereizt, was mir einfalle, ob ich Streit suche. Er sprang heraus aus seiner kontemplativen Rolle und schrie mich an, ob ich eine Tracht Prügel wolle. Ich hob besänftigend die Hände und bat, meine Störung der Veranstaltung zu entschuldigen. Ein uniformierter Bahnbeamter tauchte auf, mein Gegenüber merkte, dass er das brennende Requisit noch in der Hand hielt, und kopfschüttelnd ging er in die Einfriedigung zurück.
Ich schämte mich, dass ich unbeherrscht wie ein arger Kunstbanause dazwischengefahren war. Dann wurde mir an der Reaktion des Mannes bewusst, mit welchem Ernst er sein Spiel betrieben und wie sehr ihm meine Störung zugesetzt hatte. Chapeau, dachte ich erfreut und nickte anerkennend hinüber.
Was für Menschen waren das, die da so einsatzfreudig und gewissenhaft am Werk waren. Welcher kreative und kunstsinnige Kopf hatte dieses Oeuvre ersonnen, wer hatte es in Szene gesetzt. Weltweit! Und völlig uneigennützig. Eintritt frei, keine Blechdose, kein Hut.
Als ich im anfahrenden Zug langsam an ihnen vorbeifuhr, hob keiner von ihnen den Blick zu mir hinauf, so versunken waren sie in ihrem Spiel. Und du, sagte ich mir, du bist nicht dabei, weder hier noch in Bangkok. Ich fasste spontan den Entschluss: Ich habe noch nie geraucht, aber jetzt fange ich an, und dann überschreite ich die gelbe Grenze und trete ein in das Glashaus, und schon bin auch ich ein Lebenskünstler!