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Entwürfe erschriebenen Lebens: Das autobiographische Projekt

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Also noch einmal: Wer war Goethe? War er „unter allen Schriftstellern der unschreibseligste“, wie er in einem Brief vom 7. Dezember 1808 meinte (WA IV 20, S. 240)? Dieses verblüffende Geständnis zeigt bereits, dass man seine Selbstaussagen nicht unbesehen übernehmen darf und zumindest der Kontext zu berücksichtigen ist (in diesem Fall geht es darum, dass Goethe ab einem bestimmten Zeitpunkt fast nur noch diktierte und kaum noch eigenhändig schrieb). Gleichwohl müssen sich alle Antworten, die bisher von der biographischen und literaturgeschichtlichen Forschung auf die Frage nach seiner Person gegeben wurden – und alle Antworten, die darauf noch jemals gegeben werden können –, mit Goethes eigenen Antwortversuchen auseinandersetzen. Denn er entwarf in seiner Autobiographie ein Modell der Lebensbeschreibung, dem nicht nur Goethe-Biographien, sondern die Biographien unterschiedlichster Persönlichkeiten – häufig unausgesprochen oder sogar unbewusst – folgen oder verpflichtet sind. Im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit (1811) fingiert er eingangs den „Brief eines Freundes“. Anlass ist seine soeben erschienene Werkausgabe im Cotta-Verlag:

Wir haben, teurer Freund, nunmehr die zwölf Teile Ihrer dichterischen Werke beisammen, und finden, indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Vergessene wird durch diese Sammlung wieder angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in Einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu leugnen, daß für die Lebhaftigkeit, womit derselbe seine schriftstellerische Laufbahn begonnen, für die lange Zeit die seit dem verflossen, ein Dutzend Bändchen zu wenig scheinen müssen. Eben so kann man sich bei den einzelnen Arbeiten nicht verhehlen, daß meistens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht, und sowohl äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen darin obwalten. Im Ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhängend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien. (FA I 14, S. 11)

Aus dieser Forderung nach der Einheit des Subjekts und seiner Lebensgeschichte samt deren kontinuierlicher oder zumindest sinnvoll nachvollziehbarer Entwicklung leitete nun Goethe ein für seine Zeit durchaus neuartiges Programm der Lebensbeschreibung, der Autobiographie ab. In der Tradition der Bekenntnisliteratur von Augustin bis Rousseau, aus der die moderne Autobiographie hervorgegangen ist, standen Gewissenserforschung und Rechtfertigung des Subjekts im Vordergrund. Nun aber, bei Goethe, ging es um die Bearbeitung des modernen Problems, dass Lebensverläufe diskontinuierlich werden, man sich in anderen Situationen findet, als man das noch vor kurzem geglaubt hatte, und seine Zukunft kaum noch längerfristig zu planen vermag:

Ich unterzog mich […] sogleich der vorläufigen Arbeit, die größeren und kleineren Dichtwerke meiner zwölf Bände auszuzeichnen und den Jahren nach zu ordnen. Ich suchte mir Zeit und Umstände zu vergegenwärtigen, unter welchen ich sie hervorgebracht. Allein das Geschäft ward bald beschwerlicher, weil ausführliche Anzeigen und Erklärungen nötig wurden, um die Lücken zwischen dem bereits Bekanntgemachten auszufüllen. Denn zuvörderst fehlt alles woran ich mich zuerst geübt, es fehlt manches Angefangene und nicht Vollendete; ja sogar ist die äußere Gestalt manches Vollendeten völlig verschwunden, indem es in der Folge gänzlich umgearbeitet und in eine andere Form gegossen wurde. Außer diesem blieb mir auch noch zu gedenken, wie ich mich in Wissenschaften und andern Künsten bemüht, und was ich in solchen fremd scheinenden Fächern sowohl einzeln als in Verbindung mit Freunden, teils im Stillen geübt, teils öffentlich gemacht.

Alles dieses wünschte ich nach und nach zu Befriedigung meiner Wohlwollenden einzuschalten; allein diese Bemühungen und Betrachtungen führten mich immer weiter: denn indem ich jener sehr wohl überdachten Forderung zu entsprechen wünschte, und mich bemühte, die innern Regungen, die äußern Einflüsse, die theoretisch und praktisch von mir betretenen Stufen, der Reihe nach darzustellen; so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt gerückt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein. (FA I 14, S. 12–14)

Mit der Verbindung von Chronologie und Analyse sowie der multiperspektivischen Einbettung des Menschen in unterschiedliche Kontexte seiner Umwelt schließt Goethe an zeitgenössische medizinisch-biologische Theorien von einer ,Lebenskraft‘ oder einem ,Bildungstrieb‘ des Organismus an, der sich in der Interaktion von Ich und Umwelt erhalte. Obwohl damit zwar auf dem Stand der anthropologischen Forschung seiner Zeit, aber keineswegs originell, hat Goethe durch die prägnanten Formulierungen und die Wirkungskraft seiner Autobiographie ein Raster geschaffen, das noch für die heutige Biographieschreibung gültig ist, und zwar für die wissenschaftliche und die populäre gleichermaßen. In analoger Weise bietet Goethes Leben, und zwar vor allem in der Form, in der er es selbst in seinem Werk erschrieben hat, eine Blaupause für paradigmatische Lebensverläufe des modernen Menschen. ,Entwürfe eines Lebens‘ – das meint Goethes eigene Entwürfe seines Lebens und die Entwürfe, die Goethes Biographen bisher von seinem Leben zeichneten. Das meint aber auch, dass in Goethes Leben und Werk die Baupläne charakteristischer moderner Lebensverläufe enthalten sind. So wie er selbst in seinen botanischen Forschungen geltend machte, dass im Pflanzenkeim alle Stadien der späteren Pflanzenentwicklung von der Grundform des Blattes über die Blüte zur Frucht bereits enthalten seien. Selbst scheiternde moderne Lebensläufe können dieses Scheitern bei Goethe vorgezeichnet finden, was in der Rezeptionsgeschichte bislang eher verdrängt wurde oder zumindest im Hintergrund blieb und nicht in das populäre Goethebild Eingang fand. ,Goethe‘ ist daher nicht nur ein Sammelbegriff für ein Kollektivwesen, wie er es selbst am Ende seines Lebens auf den Punkt brachte. ,Johann Wolfgang von Goethe‘ ist der Name der effektivsten Biographiemaschine der deutschen Kulturgeschichte, die noch immer produktiv ist und weiter Lebensläufe aus sich generiert – von gewöhnlichen und außergewöhnlichen Menschen, und zwar beiderlei Geschlechts, wenn auch mehr Männern als Frauen.

Bevor er gegen Ende seines Lebens einen musterhaften Lebenslauf konzipierte, richtete sich Goethe selbst an unterschiedlichen historischen und literarischen Mustern und Vorbildern aus. Als zentrale Herausforderung für die Lebensbeschreibung nennt er in seinem autobiographischen Programm neben der Einheit des Ichs die Vermittlung von Subjekt und Geschichte, „Individuum“ und „Jahrhundert“. Dies war für die damalige Zeit eine neuartige, mit der Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins im modernen Sinn im späten 18. Jahrhundert erst auftauchende Herausforderung, der sich Goethe seit der Zeit des sogenannten Sturm und Drang, seit Götz von Berlichingen, gegenübersah. Die Renaissance wurde im 18. Jahrhundert als die Epoche gedeutet, in der das große, geschichtsmächtige, geniale und/oder tragisch an und in seiner Zeit scheiternde Individuum auf der historischen Bühne erschien. Solche Individuen stellte Goethe dann auch nach und nach auf die Bühne des Theaters: Götz von Berlichingen, Faust, Egmont, Tasso. Welche Relevanz die identifikatorische Aneignung großer Renaissance-Gestalten für sein eigenes Leben und für die Lebensbeschreibung überhaupt barg, zeigt schlaglichtartig ein weniger bekanntes Beispiel, Goethes kommentierte Übersetzung der Autobiographie des Florentiner Goldschmieds Benvenuto Cellini (1500–1571) aus dem Jahr 1803. In der Vita des Renaissance-Künstlers zeigten sich wider Erwarten so viele unverständliche und fremdartige Aspekte, dass Goethe sich gehalten sah, diese in einem separaten geschichtlichen „Anhang“ dergestalt hermeneutisch zu erhellen, dass die Wechselwirkungen zwischen „Individuum“ und „Jahrhundert“ sinnfällig wurden, die später die historische Konzeption im Vorwort von Dichtung und Wahrheit begründeten. Die darin greifbare musterhafte Lebenskonzeption charakterisierte der bereits erwähnte Goethe-Biograph Richard M. Meyer wie folgt: Goethe „faßte […] sich hier als die künstlerische Persönlichkeit auf, die gleichsam nur soweit sie produziert, schafft, wirkt, ein wahres Leben hat; die aber freilich auch in der organischen Reihe ihrer künstlerischen Lebensäußerungen ein zweites, höheres, lückenloses Leben führt und hinterläßt. ,Dichtung und Wahrheit‘ ist die Geschichte dieses höheren Lebens, und die Erzählung des eigentlichen Lebenslaufs dient nur als Unterlage.“1

Auf sein eigenes Leben bezogen, löste Goethe diese Konzeption indes nicht vollständig ein. Die selbst gestellten Aufgaben und die Probleme der modernen Individualität erwiesen sich als zu gravierend, um einfach auf einer höheren Ebene des Werkes aufgelöst zu werden und damit gleichzeitig sein Leben als größtes Kunstwerk zu schaffen, wie es lange Zeit ein Topos der Goethe-Forschung war. In der Chronologie der Ereignisse und der Entstehungsgeschichte der Werke kam Goethe in Dichtung und Wahrheit nicht über die Abreise nach Weimar 1775 hinaus. Über die Gründe wird noch zu reden sein. Hier von einem ,Scheitern‘ Goethes zu sprechen, wäre ein Tabu gewesen, und so wurde das Goethe’sche Biographieprojekt von den Goethe-Biographen fortgeschrieben. Goethe selbst ordnete noch seine letzte Werkausgabe, die „Ausgabe letzter Hand“, gerade nicht entstehungsgeschichtlich, sondern systematisch: nach Gattungen, Themen und Genres. Er verweigerte also dezidiert den genetischen, entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang, den er mit seiner Autobiographie eigentlich herstellen wollte. Alle Gesamtdarstellungen zu Goethes Leben und Werk leiden letztlich an dem fundamentalen Mangel, dieses ,Scheitern‘ – das eben gerade kein persönliches oder künstlerisches Versagen darstellt, sondern von Goethe produktiv gewendet wurde – nicht ernst genommen und für die Biographieschreibung fruchtbar gemacht zu haben. Es wurde so getan, als könne man selbstverständlich Goethe übertrumpfen, nämlich das schreiben, was er selbst aus guten Gründen letztlich doch nicht bzw. nur bis zu einer gewissen Grenze schreiben konnte oder wollte. Das ist natürlich legitim, doch über Alternativen sollte nachgedacht werden.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen wird in diesem Buch eine innovative biographische Darstellungsform entwickelt, die weder der Chronologie von Leben und Werk folgt noch Entwicklung und Kontinuität auflöst oder preisgibt. Damit wird auch der Einsicht Rechnung getragen, dass eine Biographie nicht finalistisch auf den Tod hin erzählt werden soll.2 Dies gilt im Fall Goethes ganz besonders, wie sich abschließend zeigen wird. Die Gliederung verbindet daher Chronologie und Problemorientierung: Nach der Darstellung des autobiographischen Gesamtrahmens und einem expositorischen Panorama des literarischen Krisenmanagements des modernen Lebens werden die Themen in der Reihenfolge behandelt, in der sie in Goethes Lebenslauf und Lebensstationen in den Vordergrund traten. Die einzelnen Werke, die in diesen Kapiteln im Hinblick auf die Lebensentwürfe erschlossen werden, stammen jedoch aus unterschiedlichen Lebensphasen. So entsteht eine mehrfache Perspektivierung: Die erste Ebene bildet das Leben, in dessen Verlauf bestimmte repräsentative Themenkomplexe hervortreten. Nicht Goethes Leben an sich ist repräsentativ, aber sein vielfältiger Problemgehalt. Die konkrete und unterschiedliche Gestaltung von Themen und Problemen wird dann auf der zweiten Ebene in Längs- und Querschnitten durch das Gesamtwerk untersucht. Die dritte Ebene bildet die Rückwirkung dieser literarischen Gestaltungen auf den weiteren Verlauf des Lebens. Die Auswahl der herangezogenen Texte ist durch diese spezifische Optik auf Goethes Lebensentwürfe gesteuert.

Johann Wolfgang von Goethe

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