Читать книгу 71/72 - Bernd-M. Beyer - Страница 5
ОглавлениеPROLOG
„Die Erde ist ein Ball, aber kein Fußball.“
RICHARD KIRN, Sportjournalist
„Die Welt ist zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt.“
ROR WOLF, Schriftsteller
„Du kommst auf die Welt und die ganze Welt ist beim Fußballspiel, was anderes gab’s nicht. In der Halbzeit wurde geheiratet.“
WOLF WONDRATSCHEK, Schriftsteller
„Fußball ist das einzige Theater ohne festgelegten Ausgang, kennt fremde Schurken und eigene Helden, Sieger und Versager, Schuld und Sühne.“
HELLMUTH KARASEK, Literaturkritiker
(Alle Zitate aus den siebziger Jahren)
6. Juni 1971
Horst-Gregorio Canellas, Präsident der Offenbacher Kickers, hat an seinem 50. Geburtstag zum Gartenfest geladen, doch eine Feier plant er nicht. Besonders fröhlich wäre sie wohl auch nicht ausgefallen, denn keine 24 Stunden zuvor hat sein Verein das letzte Saisonspiel beim 1. FC Köln verloren; zwei Gegentore in den letzten elf Minuten besiegelten die 2:4-Niederlage und damit den Abstieg. Canellas ist nicht gewillt, es dabei bewenden zu lassen.
Der Importkaufmann für Südfrüchte ist ein ehrgeiziger Mann. 1964 hat er das Präsidentenamt der Kickers übernommen, einen sechsstelligen Schuldenbetrag gelöscht und versprochen, jenes Unrecht von 1963 zu tilgen, dem Verein einen Platz in der neuen Bundesliga zu verwehren. Im Stadion sieht man den Präsidenten, nervös an seiner Zigarette ziehend, an der Seite illustrer Trainer wie Rudi Gutendorf oder Zlatko Cajkovski, die er meist nach ein paar Monaten wieder feuert. Kickers Offenbach steigt zwar 1968 in die Bundesliga auf, doch Fuß fassen kann der Verein dort vorerst nicht. Zweimal geht es nach nur einem Jahr Erstklassigkeit wieder abwärts; der Gewinn des DFB-Pokals 1970 bringt nur wenig Trost. Und allmählich glaubt Canellas zu wissen, wie in der Bundesliga gespielt wird: nämlich falsch.
Zum Ende der Saison 1970/71, als sich der Abstiegskampf zuspitzt, werden ihm von Spielern und Funktionären anderer Vereine seltsame Angebote angetragen: Was es den Kickers wert sei, auswärts zu gewinnen, auf Schalke beispielsweise, oder in Köln. Mit Offenbachs Konkurrenten im Abstiegskampf, Arminia Bielefeld, so hört er, habe man schon interessante Deals abgewickelt. Canellas unterrichtet Mitte Mai mehrere DFB-Funktionäre von diesen Vorgängen, doch die zeigen wenig Neigung, den Vorwürfen nachzugehen. Und das, obwohl Gerüchte darüber schon länger existieren. Die „Bild“-Zeitung, immer an Skandalen interessiert, hat Wochen vorher als Erste von „Schiebung am Tabellenende“ geraunt, vorsichtshalber mit einem Fragezeichen dahinter.
Der DFB stellt sich taub, also wird der Vereinspräsident selbst aktiv, und die Ergebnisse der Recherchen will er am 6. Juni auf seiner Gartenparty präsentieren. Die Auswahl der Gäste garantiert, dass die Bombe nicht ungehört hochgeht: Prominente wie Bundestrainer Helmut Schön und Ligasekretär Wilfried Straub sind darunter, ebenso eine größere Anzahl Journalisten.
Vormittags ab elf Uhr trudeln die Gratulanten ein, eine gute Stunde später ruft Canellas sie zusammen und verkündet: „Meine Herren, ich muss Ihnen sagen, dass mein Verein, die Offenbacher Kickers, durch Betrug aus der Bundesliga abgestiegen ist.“ Er gibt einem Mitarbeiter den Wink, auf den Abspielknopf des Tonbandgerätes zu drücken. „Und nun, meine Herren, hören Sie mal.“ Die Herren hören undeutliche Stimmen einiger Telefonmitschnitte. Es geht um zwei entscheidende Partien des vorangegangenen letzten Spieltags, 1. FC Köln gegen Kickers Offenbach und Hertha BSC gegen Arminia Bielefeld. Am einen Ende der Leitung spricht Canellas, am anderen Ende vernimmt man prominente Bundesligaspieler.
Unverkennbar die Stimme des Kölner Nationaltorhüters Manfred Manglitz, bekannt als Großmaul „Cassius“; Bundestrainer Schön erkennt den Tonfall sofort. Manglitz verlangt für einen Offenbacher Sieg in Köln 100.000 Mark, für sich und fünf Mitspieler. Doch er weiß nicht so recht, wen er in seiner Mannschaft noch einweihen soll. Jupp Kapellmann jedenfalls nicht: „Der ist 20 Jahre, und ich habe nicht gerne in so ’ner Sache so grüne Jungs, die quatschen mir zu viel, verstehen Sie das?“ Den Ersatztorhüter Soskic, der gegen Offenbach eingesetzt wird, auch eher nicht: „Das ist ein Jugoslawe, Sie kennen die Jugoslawen …“ Und den Mannschaftskapitän Wolfgang Overath schon gar nicht: „Der wurde böse.“
Eindeutige Angebote hört man in einem anderen Telefonat von den Hertha-Spielern Bernd Patzke und Tasso Wild, die den Offenbacher Präsidenten offenbar im Bieterwettstreit mit Arminia Bielefeld sehen. Sieg oder Niederlage gegen die Bielefelder, das ist für sie eine Frage des höheren Gebots. „Ich habe einen duften Vorschlag“, sagt Wild. „Weil es Offenbach ist und ohne Kuhhandel hin und her: 140, und die Sache ist für Sie in Ordnung.“ Allerdings wolle man das Geld vorher sehen, also müsse jemand mit einer Tasche voller Banknoten anreisen. „Dann stellt der sich mit irgendeinem Verbindungsmann von mir auf die Stehränge oder sonst w ohin. Ist das Spiel gewonnen, wechselt die Tasche den Mann.“ „Ja“, antwortet Canellas auf dem Band. Und Wild: „In der Tasche ist Geld – und geht leer zurück. Ist das fair?“
Als das Band abgelaufen ist, verlässt Helmut Schön entsetzt das Gartenfest, und die Journalisten eilen an die Telefone. Die meisten sind überzeugt, dass die ganze Wahrheit noch weitaus schlimmer sein wird und der DFB eine rechtzeitige Aufklärung verschlafen hat. Im ARD-Fernsehen empört sich einige Tage später Kommentator Dieter Gütt in Richtung Fußballbund: „Hinter der beflissenen Absicht, die Korruption in den eigenen Reihen auszutreten, verbirgt sich ein Chimborasso an Unfähigkeit, Kriminalität, Geldgier und Anmaßung. Eingeweihte sagen heute: Die Bestechungen liefen schon seit Jahren. Erst jetzt habe sich durch die Selbstenthüllung des Offenbacher Vereinsfürsten die Schleuse geöffnet.“ Gütt wütet: „Auch das Fernsehen wird sich überlegen müssen, ob es solchen kriminellen Unsinn, der sich Fußball nennt, noch weiterhin übertragen soll.“
Der DFB reagiert: Er verklagt den renommierten Journalisten wegen übler Nachrede und verlangt den Widerruf seines „publizistischen Amoklaufs“ (unterliegt später jedoch vor dem Landgericht München in fünf von sechs Klagepunkten). Dunkel droht der Fußballbund damit, die Zusammenarbeit mit der ARD aufzukündigen. Es ist wie so oft: Zunächst wird alles vehement geleugnet und werden die Überbringer der schlechten Nachrichten gegeißelt. In diesem Fall fällt vor allem Canellas die Rolle als dubioser Nestbeschmutzer zu. Ihm schwant schon nach wenigen Tagen, wie die Sache gedreht werden soll: „Nicht die Sünder haben gesündigt, sondern ich, der Präsident des OFC, der die Dinge ans Licht gebracht hat.“
Canellas gräbt weiter und findet neue Indizien. Nach und nach wird das erstaunliche Ausmaß des Skandals bekannt. Die Aufklärungsarbeit liefert in den folgenden Monaten den Blues zum glamourösen Geschehen auf dem Rasen.
***
Der bundesdeutsche Fußball produziert seine bis dahin größte Krise just in dem Moment, da er sich spielerisch in grandiose Höhen aufschwingt. Denn ein historischer Zufall hat es arrangiert, dass die erste echte Profigeneration zugleich auch die talentierteste und die selbstbewussteste ist. Diese Generation ebenso junger wie forscher Individualisten hat das Image des biederen Herberger-Fußballs gründlich entstaubt und revolutioniert. Vorbei die Zeit, da sich solide Handwerker wie Werder Bremen oder Eintracht Braunschweig die Deutsche Meisterschaft ermauern konnten. Protagonisten wie Franz Beckenbauer oder Günter Netzer schaffen auf dem Platz eine neue Spielästhetik, in der manche Intellektuelle den Geist von Freiheit und Rebellion verkörpert sehen, der seit Mitte der sechziger Jahre die Bundesrepublik durchweht. Die alte Garde der Funktionäre und Trainer, die noch im Nationalsozialismus sozialisiert wurde und sich oft entsprechend gibt, scheint zum Ewiggestrigen verbannt. Ein Buch über Netzer, das 1971 erscheint, heißt „Rebell am Ball“, eines über Beckenbauer zur gleichen Zeit „Gentleman am Ball“. Auf den Fußballplätzen und jenseits davon wachsen Träume von einer leichteren, zwangloseren, schöneren Zukunft.
Der Publizist Norbert Seitz findet dies alles symbolträchtig aufgeführt im Dribbling des Reinhard Libuda, mit dem der „Stan“ im Länderspiel gegen Schottland seinen Siegtreffer einleitet und die Nationalelf zur WM-Endrunde 1970 befördert: „Jener magische Slalomlauf wurde zum symbolischen Startsignal des euphorischen Aufbruchs in Bonn wie der Himmelsstürmerei in Mexiko im Jahr darauf. Eine neue Ära hub an, Deutschland sehnte sich nach Abenteuern, verdrängte Utopien wurden wach. Reformvisionen und Ballästhetik bezauberten langsam die Gemüter in einer bis dahin konservativen und defensiven Republik. ‚Mehr Demokratie wagen‘ verhieß spielerischen Offensivfußball.“ Seitz formuliert das im Jahr 1987 in seinem Buch „Bananenrepublik und Gurkentruppe“, wohl wehmütig rückblickend, denn zu diesem Zeitpunkt geht die Kohl’sche Kanzlerschaft in ihr fünftes Jahr und in eine schier unendliche Zukunft. Da sucht man Trost in schwärmerischer Nostalgie. 1971, man erinnert sich, ist die Regierung Willy Brandt gerade erst seit zwei Jahren im Amt und beginnt damit, das muffig-konservative Milieu der Adenauer-Ära mit seinen autoritären Strukturen und seiner bigotten Moral gründlich zu durchlüften.
Getragen, geschoben und kritisch begleitet wird die Brandt-Regierung von einem Mix aus rebellischer Jugend, liberalem Bürgertum und selbstbewussten Gewerkschaften. Vielen von ihnen geht die sozialliberale Reformpolitik nicht weit genug und zu zögerlich an die Ursachen von Krieg und sozialer Ungleichheit. Vor allem in den großen Städten der Bundesrepublik entsteht eine kulturelle und politische Subkultur, die herrschende Normen ignoriert und neue Wege der Selbstverwirklichung sucht. Im Dschungel allzu radikaler Utopien keimen die ersten Versuche, Bürgerwillen außerhalb von Parteien und Parlamenten in eigenen Initiativen zu organisieren.
Die virulenten politischen Debatten erfassen sogar die Nationalspieler. Bundestrainer Helmut Schön berichtet vom Länderspiel gegen Dänemark, Juni 1971: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Nationalmannschaft hatte es im Mannschaftsbus eine Art politischer Diskussion gegeben.“ Die Themen seien „quer durch den politischen Garten“ gegangen, „und natürlich konnte man sich nicht einigen“. Paul Breitner und Berti Vogts bilden die Antipoden in den Debatten, streiten sich beispielsweise heftig um die Einführung der Todesstrafe, die seinerzeit der hochrangige CSU-Politiker Richard Jaeger fordert und sich damit den Spitznamen „Kopf-ab-Jaeger“ verdient.
Zwar ist auch in der Bundesliga der Saison 1971/72 erstaunlich oft von „Mannschaftsrevolte“ oder „aufbegehrenden Spielern“ die Rede. Doch zu behaupten, der Geist der 68er habe nun den Fußball erfasst, wäre weit übertrieben, sieht man von Paul Breitner ab, der irgendwann mal unter einem Poster von Mao posiert. Bei seinen Bayern-Kollegen ist er allerdings hauptsächlich von CSU-Fans umgeben. Wenn die aufmucken, dann als Hedonisten, nicht als Revoluzzer. Selbst der angebliche „Rebell Netzer“ gibt im Nachhinein ehrlicherweise zu: „Vieles war nur Pose.“ Beziehungsweise: „Ich hatte keine Ideen von Rebellion.“ Und auch ein kluger Kopf wie Wolfgang Weber, Nationalspieler und Vizeweltmeister, der nebenbei Sport studiert, weiß in der Rückschau zu berichten: „An der Sporthochschule schlugen die Protestwellen nicht so hoch. Die Uni war nicht apolitisch, aber Politik spielte schon eine untergeordnete Rolle. Ich war Fußballer, mit Revolutionen hatte ich nichts am Hut.“ Die Vorstandsetagen der großen Vereine sind ohnehin traditionell konservativ gestimmt. „Bulle“ Weber, der mit der SPD sympathisiert, ist damit schon „für die ein Enfant terrible, ohne dass mir das jemand offen gesagt hätte“.
***
Die Seitz’sche Analogie: „‚Mehr Demokratie wagen‘ verhieß spielerischen Offensivfußball“, scheint ihrerseits recht gewagt, klingt aber einfach zu elegant, um ganz falsch zu sein. Sicher allerdings ist: Die Schönheit des Spiels, das die Akteure in der Saison 1971/72 auf dem Rasen zelebrieren, verliert im Schatten immer neuer Skandalenthüllungen erheblich an Glanz. Der grandiose 101-Tore-Sturmlauf der Bayern – 800.000 Bundesliga-Zuschauern weniger ist er, verglichen mit der Vorsaison, eine Eintrittskarte wert. Der 7:1-Triumph der Gladbacher über Inter Mailand – vom Fernsehen nicht für übertragenswert befunden. Die hoffnungsvolle Schalker Elf, die nur knapp die Meisterschaft verpasst und mit dem DFB-Pokal endlich wieder eine Trophäe nach Gelsenkirchen holt – auseinandergebrochen im Strudel aus Meineiden und Sperren. Der Triumphzug durch die Europameisterschaft, den Helmut Schön seine „Traummonate“ nennt und der heute als ein Höhepunkt deutscher Fußballkunst gefeiert wird – seltsam unterkühlt zur Kenntnis genommen. Erinnern sich Zeitgenossen an den Moment, da Hacki Wimmer mit seinem Tor zum 2:0 das Finale entscheidet? An Feiern danach? Kaum.
Das mag auch daran liegen, dass die Welt brodelt in jener Zeit. In Vietnam fallen mehr Napalmbomben als je zuvor. In Nordirland beginnt mit dem Bloody Sunday eine Eskalation der „Troubles“. Der Nahe Osten brennt. Baader, Meinhof und ihre RAF morden gegen das Morden und schießen sich vergebens ihren Fluchtweg frei. Idole der Rockkultur sterben an einer Überdosis. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre, die Befreiung aus spießbürgerlicher Verkrustung und die Eruption politischer Proteste, all dies erodiert und mutiert, aber es ist noch virulent. Manches wird zum Mainstream, manches radikalisiert sich. Einige Utopien tragen späte Früchte, viele verdorren, und jedem erfüllten Traum steht eine Vielzahl zerbrochener gegenüber. Das Scheitern freiheitssuchender Außenseiter gewinnt eine eigene Ästhetik, ausgedrückt in Kultfilmen wie „Easy Rider“ oder „Zabriskie Point“ sowie in den vielen Che-Guevara-Plakaten, die an den Wänden rebellischer Wohngemeinschaften hängen. Der bei Linken beliebte Western „Il grande silenzio“, dessen deutscher Titel so bescheuert ist, dass er ungenannt bleiben soll, wird von seinem italienischen Regisseur den Politikern Martin Luther King, Che Guevara und Robert Kennedy gewidmet, die nur eines verbindet: Sie wurden ihrer Überzeugung wegen ermordet. Stilecht verblutet auch der stumme Held des Films beim Finale im Schnee, gemeuchelt vom bösen Kinski.
Im Fußball sind es Borussia Mönchengladbach und Schalke 04, die in jener Zeit für die Ästhetik des Scheiterns stehen. Schalke aus eigener Schuld, Gladbach eher unbegründet. Populär werden sie als geniale Teams, denen die letzten Weihen versagt bleiben. Einer Jugend, die zu großen Teilen der westdeutschen Leistungsgesellschaft und ihrem „Establishment“ kritisch gegenübersteht, ist allzu viel Erfolg suspekt, auch im Fußball. Die beiden Gladbacher Meisterschaften 1970 und 1971 werden durch das Scheitern im Europapokal erst veredelt. Das 7:1 gegen Inter wird zum Mythos, weil es vergebens ist. Die Schalker 72er-Elf erringt Heldenstatus als ein niemals eingelöstes Versprechen. Stan Libuda wird als Künstler verehrt, dem das Attribut „tragisch“ anhaftet. Und der blonde Heros Günter Netzer, so formuliert es der Sportjournalist Ulfert Schröder, „schien auf der Suche zu sein nach einem Glück, das irgendwo in der Ferne lag und das ihn nie erreichte“.
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Die Saison 1971/72 ist fußballhistorisch eine außerordentliche, im Guten wie im Schlechten. Dass es damals kaum so wahrgenommen wird, liegt vor allem an dem ereignisreichen gesellschaftlichen Umfeld und dem intensiven politischen Diskurs darum, der niemanden im Land kalt lässt. Dann schrumpft der Fußball doch recht schnell, vielleicht nicht zur Nebensache, aber doch auf seine eigentliche Bedeutung: mehr als ein Spiel, jedoch gewiss nicht wichtiger als Leben und Tod. Noch existieren keine Privatsender und keine DFL, die des Kommerzes wegen die Kickerei in absurde Bedeutungshöhen jazzen. Und noch gibt es keinen ARD-„Brennpunkt“, wenn beim FC Bayern ein neuer Trainer sein Amt antritt.
Es ist verlockend, die Saison 1971/72 ganz konkret im zeitlichen Kontext mit nicht-sportlichen Ereignissen und Entwicklungen zu schildern – und damit in gewisser Weise zu relativieren. Dabei zeigt sich: Eine Reihe bemerkenswerter Begebenheiten tangieren nicht einfach nur die zehn Monate dieser Saison, sondern sie entwickeln sich genau in diesem Zeitraum und kulminieren schließlich nahezu zeitgleich im Frühsommer 1972. Fußballerisch erleben wir den legendären Tanz von Helmut Schöns Künstlerensemble auf dem europäischen Parkett, ebenso den Schalker Sturmlauf gegen die sich anbahnende Dominanz des FC Bayern bis hin zum dramatischen Finale im neuen Olympiastadion. Im scharfen Kontrast dazu werden wir Zeugen immer neuer Enthüllungen, die nach und nach die Dimensionen des Bestechungsskandals offenlegen. Politisch sehen wir, wie der parlamentarische Putschversuch der Unionsfraktion gegen die sozialliberale Reformpolitik in Hinterzimmern eingefädelt wird und schließlich scheitert. Und wir betrachten eine historische und leider blutige Farce: wie die erste Generation der RAF gegen das „imperialistische Schweinesystem“ in die Schlacht zieht, die ganze Republik in Atem hält und kläglich endet. Schon die zeitliche Koinzidenz dieser Ereignisse macht aus der Saison 1971/72 ein vielschichtiges Drama, in dessen Wiedergabe es nicht nur um Fußball gehen sollte.
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Kurz nach dem Ende der Saison verbinden sich Sport und politisches Zeitgeschehen auf besonders tragische Weise. Die Olympischen Sommerspiele in München haben begonnen, man schreibt ihren elften Tag. Im Morgengrauen stürmen palästinensische Terroristen das olympische Dorf, nehmen israelische Sportler als Geiseln. Elf der Israelis werden sterben.
Am Abend dieses fürchterlichen Unglückstages soll im Olympiastadion die DFB-Olympiaauswahl gegen Ungarn spielen, mit Uli Hoeneß und Ottmar Hitzfeld im Sturm. Eine Viertelstunde vor Anpfiff wird die Begegnung abgesagt. 80.000 Zuschauer machen sich still und erschüttert auf den Rückweg.