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AUGUST 71

Sie sind Gauner, ganz schlimme Gauner! Diese Typen gehören eigentlich dorthin, wo Fußball als Bewegungstherapie verordnet wird: ins Gefängnis.

Die „Bild“ am 7. Juni 1971 über die Akteure des Bundesligaskandals

Canellas versucht nachzuweisen, was alle wissen, was aber bislang niemand beweisen konnte. Die Bundesrepublik ist voll von sattsam Bekanntem, doch Unbeweisbarem.

„Der Spiegel“, ebenfalls im Juni 1971 über den Skandal

Wer heute von gegnerischen Fußballklubs Tore kaufen kann, zahlt vielleicht auch für Botschaftertelegramme.

Die „Süddeutsche Zeitung“ am 7. August 1971 über Versuche konservativer Medien, durch Veröffentlichung interner Dokumente die Ostpolitik der Brandt-Regierung zu diskreditieren

Libuda und die Rasselbande

Bundesliga, 1. Spieltag +++ 14. August 1971

Bei schwülwarmem, mancherorts regnerischem Spätsommerwetter wird die neunte Saison der Fußball-Bundesliga angepfiffen. Der Zuschauerzuspruch ist eher mäßig, 26.890 sind es im Schnitt des ersten Spieltags, rund 4.000 weniger als ein Jahr zuvor.

Auch das Hannoveraner Niedersachsenstadion ist nicht ausverkauft, 26.500 sind gekommen, um die Partie gegen Schalke 04 zu sehen. Sie können in der 37. Minute zufrieden applaudieren, als ihre 96er mit 1:0 in Führung gehen. Die Begegnung bleibt vorerst ausgeglichen, besonders aufregend ist sie nicht. Das ändert sich spektakulär – die zweite Halbzeit erlebt die Geburt einer neuen Traumelf. Aber die kommt nicht aus Hannover.

Erst ist es der 21-jährige Klaus Fischer, der kurz nach der Pause ausgleichen kann. Das wird noch als Zufallstreffer hingenommen. Doch von nun an spielen die Schalker immer stärker. Libuda befreit sich von seinen Gegenspielern, im Mittelfeld dominieren seine Kollegen Lütkebohmert und Scheer. Und so passiert, was die „Süddeutsche Zeitung“ einen „Triumph jugendlicher Frische“ nennt: „Die blutjunge Schalker Elf nimmt den Gegner förmlich auseinander“ („Kicker“) beziehungsweise „hat die Hannoveraner regelrecht vorgeführt“ und am Ende „einen geradezu sensationellen 5:1-Sieg“ erzielt, wie die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, die man im Ruhrgebiet nur „WAZ“ nennt, mit lokalpatriotischem Stolz meldet. Erst Sobieray und dann noch dreimal Fischer schießen die Knappen nicht nur zum Kantersieg, sondern gleich an die Tabellenspitze. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesliga, dass die Schalker ganz oben stehen.

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Es ist noch nicht lange her, da galt der einst so erfolgreiche FC Schalke 04 als Dauerabstiegskandidat der neugegründeten Bundesliga. Als der umtriebige Günter Siebert 1967 zum Vereinspräsidenten gewählt wird, dümpelt die Mannschaft am Tabellenende herum und steht vor einem gewaltigen Schuldenberg. Aus der Not heraus bastelt man an einem Team mit jungen Talenten wie Aki Lütkebohmert, Klaus Scheer, Jürgen Sobieray, Rolf Rüssmann oder Klaus Fischer. Zur Saison 1971/72 komplettiert Siebert seine Rasselbande mit den auch anderswo heiß umworbenen Zwillingen Erwin und Helmut Kremers, die bisher für Kickers Offenbach spielten. Sie sind 22 Jahre alt, als sie auf Schalke ankommen. Torhüter Norbert Nigbur und Abwehrrecke Klaus „Tanne“ Fichtel sind nur wenig älter, zählen aber schon zum Schalker Urgestein. Der einzige echte Oldie ist der 31-jährige Heinz van Haaren, der als Leitwolf im Mittelfeld steht.

Günter Siebert hat seine Wunschelf zusammengebastelt, mit einer Reihe hoffnungsvoller Jugendnationalspieler. Ihr Aushängeschild aber heißt Reinhard Libuda. Den Dribbelkünstler hat er schon 1968 von Borussia Dortmund zurückgeholt, wo Libuda kreuzunglücklich war. Er fühlt sich nun einmal als Königsblauer.

Der Bergmannssohn ist in Haverkamp aufgewachsen, einem wenig ansehnlichen Arbeitervorort von Gelsenkirchen im Schatten der Zeche Unser Fritz. Ringsum Äcker, Weiden und viel Platz zum Fußballspielen. Die Klischeekulisse für ein Aufsteigermärchen im Ruhrgebiet.

Der schmächtige Reinhard ist ständig draußen zum Pöhlen, aber er boxt auch gerne im Verein oder turnt an Geräten. So trainiert er sich jene Körperbeherrschung an, die ihm sein trickreiches Flügelspiel ermöglicht. Schon mit elf Jahren, so sagt die Legende, gelingt ihm der Stanley-Matthew-Trick, der ihm auch den Spitznamen Stan einbringt. „Das war das Erste, was mir aufgefallen war, als ich ihn 1955 kennenlernte“, erzählt sein alter Kumpel Karl-Heinz Bechmann. „Das Antäuschen und rechts Vorbeigehen, das war sein Ding.“ Wie sein großes Vorbild aus England bevorzugt auch der junge Reinhard bald den rechten Flügel. Mit 14 Jahren, so heißt es, ist ihm bereits klar, dass er Profi werden will. Mit 18 unterschreibt er bei Schalke, entdeckt hat ihn dessen Jugendtrainer Fritz Thelen. Der ist ein Schwager des großen Ernst Kuzorra und wagt dennoch zu sagen: „Ein größeres Talent als Libuda hat Schalke nicht gesehen.“

Ein anderer Verein als das nahe Schalke wäre für Libuda nicht infrage gekommen, denn er bleibt seiner Herkunft verbunden. Er „distanzierte sich“, schreibt sein Biograf Norbert Kozicki, „durch seine private Lebensplanung von den Verhältnissen im Fußballgeschäft und damit auch von der Mehrheit seiner Mannschaftskameraden, die sich zu Professionals entwickelten. Möppel Libuda suchte nicht den Dialog, um Konflikte im Verein und in der Mannschaft zu erörtern. Nach dem Training fuhr er immer in seinen Haverkamp. Dort fand er seine Freunde, Verständnis und menschliche Wärme. In seiner Welt im Arbeiterdorf Haverkamp fand er das, was ihm beim FC Schalke 04 nur wenige geben konnten.“

Als er dann nach Dortmund geht, so sein Kumpel Bechmann, „war das für ihn Ausland“. Er hat im Sommer 1965 dort angeheuert, notgedrungen, nachdem Schalke 04 sportlich abgestiegen ist. Als seine Königsblauen dann doch drinbleiben, weil der DFB die Bundesliga um zwei Vereine aufstockt, ärgert sich Libuda steinkohlenschwarz. Er spielt in der Roten Erde, aber er fühlt sich weiterhin im vertrauten Haverkamp zu Hause, trotz seiner neuen Dortmunder Wohnung. Später wird er zurückblicken: „Als Profi habe ich mich auch nach großen Spielen lieber zurückgezogen, bin lieber zum Skat in meine Stammkneipe statt zu großen Siegesfeiern gegangen.“

Zum Feiern gibt es Grund genug beim BVB, beispielsweise 1966 den ersten Europapokalsieg eines deutschen Vereins. Drei Jahre hält es Libuda dort aus, geplagt von Heimweh, einem ungeliebten Wehrdienst, Depressionen und Eifersucht um seine Frau Gisela, die er schon seit seiner Schulzeit kennt. Öffentliche Auftritte, beispielsweise im ZDF-„Sportstudio“, sind ihm ein Gräuel; die „Süddeutsche Zeitung“ erlebt ihn dabei so: „Libuda nuschelt herzergreifend Stummelsätze in die eigene Schüchternheit hinein.“ Seine Leistungen auf dem Platz werden schlechter. Als Schalkes Präsident Siebert im Sommer 1968 den Dortmundern 125.000 Mark für Stans Rückkehr auf den Tisch zählt, greifen sie erleichtert zu. Niemand aber ist glücklicher als Libuda.

Mit seiner kleinen Familie bezieht er eine Wohnung in der Wittekindstraße, nahe dem Gelsenkirchener Stadtpark. Keine Zechensiedlung, aber alles andere als eine Villengegend. Auf dem Rasen hinter dem Mehrfamilienhaus lässt er Pudel Cherry und den zweijährigen Sohn Matthias-Claudius hinter dem Ball herflitzen. Der Vereinszeitung „Kreisel“ verrät er, dass er sich für schnelle Autos interessiere, nicht aber für Hausarbeit. Und auch nicht für Politik. Sein Hobby sei seine Familie: „Zu Hause fühle ich mich am wohlsten.“ Zuweilen engagiert ihn der örtliche Handel für Werbezwecke, dann heißt es beispielsweise: „Großer Stan-Libuda-Tag bei Foto Hamer“. Libuda lächelt tapfer in die Kameras, aber wohl fühlt er sich nicht dabei.

Auf Schalke stabilisiert er sich sportlich, man feiert ihn, auch weil er, wie eine WDR-Sendung vermutet, „die Träume des Arbeiterpublikums von sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung“ verkörpere. Bundestrainer Helmut Schön holt ihn wieder in die Nationalelf, seine Notizen aber verraten auch Skepsis: „Reinhard Libuda ein Sonderfall: man nannte ihn nicht umsonst ‚Stan‘. Konnte mit glänzenden Körpertäuschungen den Gegner fabelhaft narren. Ließ sich aber als etwas labiler Typ leicht von anderen Dingen beeinflussen und aus dem Gleichgewicht bringen. Brachte über Wochen nie die gleichen Leistungen.“

Libudas Dribbelkünste ebnen der DFB-Elf den Weg zur WM in Mexiko, als er im letzten Qualifikationsspiel seine schottischen Gegenspieler auf dem rechten Flügel schwindelig spielt. In Mexiko zeigt er gegen Bulgarien eine grandiose Partie, die Presse singt Hymnen auf ihn. Doch wirklich konstant spielt er nicht, weder in der Nationalelf noch im Verein. Mal sei er Weltklasse, mal Kreisklasse, heißt es über ihn. Und immer wieder wird in der Presse seine sensible Psyche thematisiert, der „Kicker“ befragt sogar Ehefrau Gisela dazu. Sie antwortet: „Er ist oft sehr mit sich selbst beschäftigt. Reinhard ist vielen Stimmungen unterworfen.“ Etwas raubeiniger urteilt Rudi Gutendorf, auf Schalke zwei Spielzeiten lang Libudas Übungsleiter: „Er braucht keinen Trainer, sondern einen Seelendoktor.“

Libudas Stimmungslagen schwanken zwischen wortkarger Menschenscheu, zurückhaltender Melancholie und aufbrausendem Jähzorn. Sein Gesicht spiegelt die widersprüchlichen Stimmungslagen: die traurigen Augen, der scheue Blick, die freundlichen Grübchen. Ivica Horvat, Schalkes neuer Trainer, scheint als kommunikativer Typ der Richtige, um den Stan zu stabilisieren. „Nur wer Vertrauen spürt als Mensch, dem kannst du Vertrauen schenken als Spieler“, ist sein Leitspruch. Als Libuda beim Einüben von Spielzügen versagt, entscheidet sein Trainer: „Gebt Stan einfach den Ball in den Fuß, der macht den Rest.“ Davon träumt man auf Schalke: Dass Libuda am Ball bleibt und für den ruhmreichen S04 wieder alles möglich macht.

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Eine Randnotiz in den Zeitungen, am Wochenende des ersten Spieltags: Der Leverkusener Turner Hermann Höpfner, Mitglied der deutschen Mannschaft für die nahenden Olympischen Spiele in München, hat sich bei einem Lehrgang die Kopfhaare komplett abscheren lassen. Er will damit gegen einen Beschluss des Internationalen Turnerbundes protestieren. Denn der hat festgelegt, künftig bei Europameisterschaften Turnern mit allzu langen Haaren Punkte abzuziehen. Aus ästhetischen Gründen, wie es heißt.

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Reinhard Libuda dagegen hat es in den vergangenen zwei Jahren wachsen lassen: vom konventionellen Streichholzmaß auf eine ohrenverdeckende Länge. Und an den Backen reichen die Koteletten fast bis zum Kinn. In der Bundesliga gibt es keine Punktabzüge dafür. Libudas neues Outfit wirkt noch milde im Vergleich zu den Mähnen, die einige seiner Mitspieler vorzeigen, allen voran die Kremers-Zwillinge, Aki Lütkebohmert und Teenie-Schwarm Norbert Nigbur. Dessen Haarpracht findet sogar der als liberal bekannte Bundestrainer Schön problematisch: Er könne keinen Torhüter brauchen, dem „die Mütze nicht mehr passt“. Nigbur lässt sich das Haupthaar gehorsam stutzen. Ein paar Zentimeter.

Auf den Mannschaftsfotos jener Saison zählen die Schalker jedenfalls eindeutig zu den wildesten Hardrockern, zusammen mit ihren Nachbarn vom BVB. Weitgehend ohrfrei noch die biederen Stuttgarter und die Bremer mit ihrem gestrengen Trainer „Zapf“ Gebhardt. Denn der glaubt: „Zu lange Haare stören beim Köpfen. Außerdem hören Spieler dann schlecht.“ Auch Wilhelm Neudecker, autoritärer Präsident des FC Bayern, hat erst ein Jahr zuvor dekretiert: „Nacken und Gesicht eines deutschen Fußballers müssen frei bleiben!“ Doch in dieser Frage muss er kapitulieren; auch in München sind Kurzhaarschnitte inzwischen spießige Vergangenheit.

Damit liegen die Kicker im Trend. Mit dem üppigen Haarwuchs haben antiautoritär gestimmte Jugendliche Mitte der sechziger Jahre für verständnisloses Kopfschütteln bei ihren Eltern gesorgt, inzwischen ist die einst rebellische Attitüde zur Modeerscheinung geworden. Doch noch immer verweist sie darauf, dass sich binnen kurzer Zeit vieles verändert hat.

Was vom gesellschaftlichen Umbruch bei vielen Fußballern ankommt, manifestiert sich neben den langen Haaren äußerlich noch in schnellen Autos, engen Hosen und einer großen Klappe. Anders gesagt: Man pflegt einen gesunden Willen zur Individualität sowie einen etwas großmäuligen Hedonismus. Letzteres mag auch damit zusammenhängen, dass die Spieler zur ersten deutschen Fußballergeneration zählen, die am Geldsegen des Profitums ordentlich teilhaben kann. Zumindest die Spitzenspieler verdienen gut und dürfen ihr Gehalt durch Werbung aufbessern. Einer der Ersten ist 1966 Franz Beckenbauer, der für 12.000 Mark Tütensuppen löffelt; „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch.“ Vor der Saison 1971/72 hat der Kaiser erfolgreich um eine Erhöhung seiner Apanage gepokert: „Ich bin mit dem FC Bayern nicht verheiratet. Wenn ich höre, was andere Spieler verdienen, werde ich ja fast mit einem Butterbrot abgespeist.“

Wie dick die Butter auf sein neues Brot geschmiert wird und ob womöglich noch eine Scheibe Wurst obendrauf liegt, wird nicht bekannt. Monatsgagen von bis zu 30.000 Mark, die inzwischen in Spanien von Spitzenspielern verdient werden, gibt es in der Bundesliga noch nicht, auch wenn unter der Hand zuweilen Bargeld fließt, das in keiner Statistik auftaucht. Aki Lütkebohmert jedenfalls muss auf Schalke mit einem Grundgehalt von 1.200 Mark anfangen. Das ist nach dem offiziellen Lizenzspielerstatut sogar schon die oberste Grenze und entspricht ungefähr dem bundesrepublikanischen Durchschnittseinkommen. Bei einem wie Beckenbauer dürfte es deutlich mehr sein, doch allenfalls die Hälfte von dem, was er in Spanien kassieren könnte. Immerhin sind vor einiger Zeit die offiziellen Mindestgehälter der Profis angehoben worden: von 250 auf 400 Mark.

Zeitbombe unterm Rasen

Bundesliga, 2. Spieltag +++ 20./21. August 1971

Eine Niederlage und ein Unentschieden haben die „Kicker“-Experten den Youngstern von Schalke 04 für die ersten beiden Spiele prophezeit. Es werden zwei Siege. Beim 2:0 über den MSV Duisburg vor 30.000 euphorischen Zuschauern in der Glückauf-Kampfbahn spielt Stan Libuda groß auf. Dass die Mannschaft nun mit Erwin Kremers endlich einen starken Linksaußen besitzt, entlastet auch den Stan auf dem rechten Flügel. Zwei Sololäufe in der 40. und der 89. Minute schließt Libuda jeweils mit Traumtoren ab, der „Kicker“ verleiht ihm die Bestnote „1“. Beim 2:0 schnappt sich Libuda den Ball an der eigenen Strafraumgrenze, treibt ihn „wie die Windsbraut“ („WAZ“) über das gesamte Spielfeld, lässt ein, zwei Duisburger aussteigen, umspielt den Torhüter und schiebt das Leder ins leere Tor. Der Treffer wird in der ARD-„Sportschau“ zum „Tor des Monats“ gekürt.

Auch am zweiten Spieltag bleibt Schalke 04 also Tabellenführer, und in Gelsenkirchen wachsen die Träume von einer großen Zukunft. Präsident Günter Siebert bekennt nach dem Spiel, er wolle spätestens „in der nächsten Spielzeit eine Mannschaft stehen haben, die Meister werden kann“. Auch für die laufende Saison mag er „eine freudige Überraschung“ nicht ausschließen. Hermann Kerl, Vorsitzender des Schalker Verwaltungsrates, tönt sogar: „Die Tabellenführung geben wir nicht mehr her!“ Die Schalker Bosse lieben starke Sprüche.

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Libuda ist erst der sechste Schütze eines „Tores des Monats“, denn diese Abstimmung hat die ARD-„Sportschau“ im März 1971 neu eingeführt. Die Zuschauer müssen ihre Wahl per Postkarte einsenden. Auch sonst regiert das analoge Zeitalter. Die „Sportschau“ ist kurz – von 17:45 bis 18:30 Uhr, wobei bestenfalls eine halbe Stunde Fußball geboten wird. Meist sieht der Zuschauer nur Ausschnitte aus drei Spielen, mehr erlaubt der DFB nicht. Zudem ist der technische Weg beschwerlich: Vom Stadion werden die belichteten Filme per Motorrad nach Köln in die Filmkopieranstalt des WDR gebracht. Dort wählt ein Redakteur am Schneidetisch die Szenen aus, die gezeigt werden sollen; der Rest des Filmmaterials wandert in den Reißwolf. Aus naheliegenden Gründen beginnt die Berichterstattung recht oft mit einem Heimspiel des 1. FC Köln.

Die Tabellen werden zunächst per Hand gesteckt, dann abgefilmt, und die Moderatoren – darunter Dieter Adler, Ernst Huberty, Hans-Joachim Rauschenbach und Werner Zimmer – sitzen ziemlich steif hinter einem Schreibtisch. Nüchternheit ist Reporterpflicht, emotionale Ausbrüche auch bei Direktübertragungen verpönt. Immerhin gibt’s 1971 bereits Farbe in der Sportschau. Für die Senderechte kassieren die Bundesligisten gemeinsam rund drei Millionen Mark von ARD und ZDF. Die Summe wird brüderlich durch 18 geteilt, der Tabellenplatz spielt keine Rolle , an die Bayern wird kein Pfennig mehr ausgeschüttet als an Rot-Weiß Oberhausen.

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Fortuna Düsseldorf steht mit einem Bein noch in der guten alten Fußballzeit. Der Traditionsverein hat eine lange Durststrecke in der Zweitklassigkeit hinter sich, mit einigen vergeblichen Aufstiegsversuchen. Zur Saison 1970/71 schließlich fahndet man per Zeitungsanzeige nach einem Retter: „Renommierter Regionalligaverein sucht fähigen Trainer“. Unter den Bewerbern entscheidet man sich für Heinz Lucas, auch wenn der gerade dabei ist, mit Darmstadt 98 aus der Regionalliga Süd abzusteigen. Doch der Neue bewährt sich, bringt der Mannschaft bei, zielstrebiger und schneller zu spielen. In der Aufstiegsrunde überwindet man unter anderem den 1. FC Nürnberg und den FC St. Pauli und schafft (gemeinsam mit dem VfL Bochum) den Eintritt in die Bundesliga.

Dort hält man sich mit finanziellen Abenteuern zurück: Die Spieler, darunter die späteren Nationalkicker Dieter Herzog und Reiner Geye, bleiben weiterhin Halbprofis, gehen also nach dem Training noch einer „regulären“ Beschäftigung nach. Und als Fußballer verdienen sie alle das gleiche Gehalt – Fortuna zahlt einen Einheitslohn. Und zwar denselben wie in der Regionalligasaison zuvor. „Fußball ist ein Mannschaftsspiel“, begründet Trainer Lucas die in der Bundesliga einmalige Maßnahme. „Da ist ein Mann so wichtig wie der andere.“ Auch das Verhältnis zwischen Trainer und Spieler definiert der 51-Jährige erstaunlich: „Die Kriegsgeneration war es gewohnt, dass der Trainer sich des Kasernenhoftons bediente. Heute sind die Spieler anders zu behandeln.“

Schlecht fährt man damit nicht: Zwar geht der Auftakt bei den Bayern 1:3 verloren, eine erwartete Niederlage – schmerzhaft nur für Verteidiger Heiner Baltes, der von seinem Gegenspieler Gerd Müller nach hartem Zweikampf in den Oberschenkel gebissen wird. Doch am zweiten Spieltag gewinnt Fortuna vor 25.000 Zuschauern am Flinger Broich mit 2:0 gegen Hannover 96 und zeigt ein Potenzial für höhere Ziele. (In dieser Saison belegt der Aufsteiger am Ende Tabellenplatz 13 und in den folgenden beiden Spielzeiten jeweils Platz drei.)

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Unter den Rasen der Bundesligastadien ticken Zeitbomben, und nicht wenige Spieler wissen, dass die Schockwellen von Canellas’ Gartenparty auch sie erreichen können.

Inzwischen hat der Kickers-Präsident vor dem DFB-Kontrollausschuss ausgesagt, wie es so zuging bei den Deals. Vor allem die Übergabe von 100.000 Mark an Manfred Manglitz war problematisch, weil der Kölner Keeper das Geld schon vor dem Spiel – und der versprochenen Niederlage – gegen Offenbach haben wollte. Für eine neutrale Zwischenlagerung verfiel man auf die kuriose Idee, einen Tresor mit zwei Schlössern zu suchen. Als man keinen fand, diente Manglitz’ Lebensgefährtin als neutrale Zone.

Über was Canellas noch so plaudert: Oberhausens Präsident Maaßen sei unmittelbar vor einem Spiel zu ihm gekommen und habe im beiderseitigen Interesse eine Punkteteilung angeboten. Oder: Herthas Präsident Holst habe 100.000 Mark ausgelobt, falls Canellas die Transferliste so „arrangiere“, dass die Kremers-Zwillinge auf jeden Fall nach Berlin kämen. Und: Ein Abgesandter von Schalke 04, Schatzmeister Heinz Aldenhoven, habe für die Zwillinge 100.000 Mark geboten, plus einen Offenbacher Sieg im bevorstehenden Spiel gegen Schalke. Laut Canellas habe Aldenhoven zugesichert, „dass wenigstens einige Spieler von Schalke so spielen würden, dass wir gewännen“. Von diesem Angebot, so Canellas, habe er umgehend dem DFB berichtet.

Justiz und DFB sehen sich genötigt, nun regelrechte Ermittlungen aufzunehmen; bei den Fußballern liegt die Angelegenheit beim Vorsitzenden des Kontrollausschusses, Hans Kindermann. Allerdings müht sich der DFB, die Sache klein zu halten, und lässt verlauten: „Es gibt keine Affäre Bundesliga, es gibt nur eine Affäre in der Bundesliga.“ Rudolf Gramlich, Vorsitzender des DFB-Bundesligaausschusses, verspricht: „Das mit dem Canellas biege ich schon gerade. In ein paar Wochen spricht kein Mensch mehr über den Fall.“ Gramlich war im Mai von Canellas gebeten worden, den letzten Spieltag der Saison auszusetzen, weil einige Spiele vorab verschoben seien. Der DFB-Mann hatte abgelehnt.

Die beschuldigten Sünder wiederum geben sich phantasievoll. Manglitz behauptet, er sei nur zum Schein auf die unlauteren Angebote eingegangen, und kündigt Beweise an, „die den Canellas-Vorwurf wie eine Seifenblase platzen lassen werden“. Und: „Der kann was erleben.“ Die Herthaner Patzke und Wild haben sich die Erklärung ausgedacht, sie hätten Canellas nur veräppeln wollen. Oberhausens Präsident Peter Maaßen spricht von „ausgemachten Gemeinheiten“ und kündigt eine Klage an: „wegen Rufmord“. Und der Schalker Vorstand will ebenfalls gegen Canellas klagen, falls der sich nicht für seine Vorwürfe entschuldige.

Was von solchen Dementis zu halten ist, weiß Richard Kirn, graue Eminenz der deutschen Sportjournalistik, der seit mehr als 40 Jahren über den deutschen Fußball schreibt: „Wir haben es ja x-mal bei Verhandlungen vor Sportgerichten erlebt, dass Männer, die sich schämen würden, ihrer Sekretärin einen Bleistift zu stehlen, mit kalter Stirn ableugneten, was gar nicht abzuleugnen war. Wer einmal ein wenig ins Vereinsleben hineingerochen hat, weiß, dass ein richtiger Fanatiker imstande ist, für seinen Verein Häuser anzuzünden, wenn der Verein die Versicherungssumme braucht.“

Für viele Fußballfans ist dagegen Canellas der Sündenbock. Im „Kicker“ schreibt ein Leser: „Vielleicht wäre unsere Fußballwelt noch in Ordnung, gäbe es nicht ‚die Canellas‘, die den Stars Angebote machen.“ Im eigenen Verein, bei den Offenbacher Kickers, wird er zum Rücktritt gedrängt. „Der Verein will Frieden mit dem DFB schließen“, meldet die „WAZ“.

„Kicker“-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann dagegen bricht eine kleine Lanze für Canellas: „Es wäre zwar das Bequemste, nicht aber das in dieser Situation Angebrachte, auf ihn mit Fingern zu zeigen und ihn zum allein schuldigen Buhmann zu machen.“ Das wäre es tatsächlich. Immerhin hat Canellas bereits vor dem letzten Spieltag mindestens drei DFB-Offiziellen von seinen Ermittlungen berichtet: neben Gramlich noch dem DFB-Ligareferenten Wilfried Straub sowie dem DFB-Generalsekretär Hans Paßlack. Doch seine Tonbänder mochte damals niemand anhören. Straub beschied ihm: „Ich kann doch nicht jede Biertischunterhaltung ernst nehmen.“ Und Paßlack brummelte: „Alles nur vage Vermutungen.“ Auch Canellas’ Forderung, den DFB-Ermittler Kindermann einzuschalten, will zunächst niemand nachkommen. Das geschieht erst, nachdem er im Alleingang an die Öffentlichkeit gegangen ist. Als Flankenschutz hat sich Canellas die Unterstützung der mächtigen „Bild“-Zeitung gesichert: Er lässt deren Redakteur exklusiv die gesamten 13 Stunden Bandaufzeichnungen von Schmiergeldverhandlungen abhören. Nun fordert das Blatt balkendick: „Weg mit solchen Gaunereien“.

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Noch im Juni 1971 ergehen die ersten Urteile. Manglitz und Wild werden auf Lebenszeit, Patzke auf zehn Jahre gesperrt. Außerdem muss Manglitz eine Geldstrafe von 25.000 Mark zahlen; die Bundesligakarriere des Kölners, zu diesem Zeitpunkt mit 256 Einsätzen Rekordhalter, ist damit zu Ende. Bei allen Spielern sieht es das DFB-Sportgericht als bewiesen an, dass sie sich bestechen ließen. Nur wenn die versprochenen Spielmanipulationen fehlschlugen (beispielsweise verlor Köln dann doch nicht gegen Offenbach), floss in einigen Fällen kein Geld.

Doch auch Kickers Offenbach wird im Schnellverfahren bestraft. Präsident Canellas darf auf Lebenszeit kein Amt im Fußball mehr ausüben, zwei seiner Vorstandsmitglieder auf drei Jahre. Das DFB-Gericht kommt zu dem Schluss, von Canellas sei „ein Gebäude der Vielseitigkeit aufgezogen worden, das es erlauben sollte, nach allen Richtungen hin offen zu bleiben, und zwar je nach Erfolg oder Misserfolg der eigenen Handlungen und dem Ausgang der Bundesligaspiele des letzten Spieltags am 5.6.1971.“ Was ziemlich weltfremd erscheint, denn Canellas hat so viele Personen in seine Aktionen eingeweiht, beispielsweise auch Nationalspieler Wolfgang Overath, dass sie nachträglich kaum unentdeckt geblieben wären.

Die Sanktionen gegen Offenbach werden in der Öffentlichkeit teilweise scharf kritisiert. Der „Kicker“ spricht von einem „Standgericht“ und moniert, das Verhalten der DFB-Verantwortlichen sei nicht hinterfragt worden: Von Canellas informiert, forderten sie von ihm weitere Beweise, statt selbst aktiv zu werden. „Ich brauche nicht die Leiche zur Polizei zu bringen, um einen Mord zu melden“, kommentiert „Kicker“-Redakteur Wolfgang Rothenburg. In der „Süddeutschen Zeitung“ spricht Ernst Müller-Meiningen jr. von „unzureichenden Statuten“, „unzulänglicher Gerichtsbarkeit“, „unbedarften Funktionären“, kurzum von einem „geradezu kriminellen Dilettantismus“. ARD-Sportmoderator Hans-Joachim Rauschenbach hält die Erklärungen des DFB für „so glaubwürdig wie die Behauptung, dass Arsen nützlicher für Kinder sei als Eiscreme“. Und Richard Kirn schimpft: „Für ganz und gar unmöglich halte ich die Verurteilung Horst Canellas’, die ist schon beinahe grober Unfug. Der DFB konnte nie über seinen Schatten springen.“

Chefermittler Hans Kindermann wiederum klagt, dass „man jetzt instinktlos auch über uns herfällt, die die mehr als traurige Pflicht haben, den ganzen Dreck wegzukehren“. Seine Untersuchungen gehen weiter und erfassen in den folgenden Wochen immer mehr Spieler und Vereine. Bald ist die Sache so verästelt, dass die „Bild“ ihren überforderten Lesern über drei Ausgaben ein „Lexikon des schmutzigen Fußballs“ bietet, damit sie den Überblick behalten. In Stuttgart beispielsweise gesteht VfB-Spieler Hans Arnold, er habe für eine 0:1-Niederlage 45.000 Mark von Arminia Bielefeld erhalten und mit zwei weiteren Kollegen geteilt. Seine Geschichte verkauft er gleich exklusiv an das Boulevardblatt: „So wurde ich bestochen“. Kurzzeitig geraten auch die Bayern in Verdacht; MSV-Torhüter Volker Danner behauptet, die Münchner hätten ihm 12.000 Mark für eine Niederlage geboten. Namen aber kann oder mag er nicht nennen.

Mitte August muss Waldemar Slomiany, früher Schalke, heute Bielefeld, als Zeuge vor dem DFB-Gericht aussagen. Es geht um eine Begegnung am 28. Spieltag der Vorsaison. Da hat Schalke 04 ganz überraschend gegen die abstiegsbedrohte Arminia aus Bielefeld mit 0:1 verloren. Schon damals machen dunkle Gerüchte die Runde. Was ihr ehemaliger Mannschaftskollege jetzt aussagt, erfahren die Schalker Spieler noch nicht. Doch sie haben allen Grund, sich Sorgen zu machen.

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Nicht sonderlich verwunderlich findet die linke Zeitschrift „Konkret“ den ganzen Skandal. „In der Fußball-Bundesliga geht es um Geld. Wer hätte das gedacht?“, lästert Redakteur Jürgen Beier und wundert sich sehr viel mehr über die Empörung im Fußballvolk, „vom Ruhrkumpel bis Beate Uhse“. Sauber gehe es im Kapitalismus schließlich nirgendwo zu, nichts anderes hätten Canellas’ Enthüllungen dem Volk klargemacht: „Was bisher nur für die hohe Politik galt, hatte fortan auch für unseren schönen und kameradschaftsfördernden Fußballsport Gültigkeit: Das ist ein schmutziges Geschäft.“ Der Redakteur sieht einen Ausweg, auf den fünf Jahrzehnte später kommerzkritische Fans noch immer verfallen werden: „Bei solcher Umweltverschmutzung bleibt nur die Flucht aufs Land. Denn dort, in der Kreis- und Bezirksklasse, wird für gezinkte Ergebnisse noch in Naturalien gezahlt. Mit einigen Kästen Bier und saftigen Schinken.“

Dass „Konkret“ die Sexartikel-Händlerin Beate Uhse ins Spiel bringt, ist kein Zufall. Die sexuelle Enttabuisierung, die parallel zur Jugendbewegung der sechziger Jahre begann, hat der Dame gute Geschäfte und Prominenz eingebracht. Auch „Konkret“ will unter Herausgeber Klaus Rainer Röhl – ganz kapitalistisch – von der neuen Freizügigkeit profitieren und füllt die Titelseite sowie bunte Fotostrecken im Heft mit den blanken Busen ziemlich junger Frauen. Dieses nackte Umfeld und Bekenntnisse wie „Orgie frei Haus“, „Ekstase über den Wolken“ oder „Lolita für einen Sommer“ halten bekannte linke Publizisten nicht davon ab, für „Konkret“ zu arbeiten. Anfangs tat dies auch Ulrike Meinhof, einige Jahre Röhls Ehefrau, bevor sie sich mit ihm persönlich wie politisch überworfen hat. Ansonsten schreiben Sebastian Haffner, Günter Wallraff, Franz Xaver Kroetz und Bernt Engelmann ebenso regelmäßig wie die Gerichtsreporterin Peggy Parnass, die als Kind den Holocaust überlebt hat, oder Wibke Bruns, die vor kurzem erst, am 12. Mai 1971 um 22:15 Uhr, im ZDF aufgetreten ist. Worüber sich, wie sie erzählt, ziemlich viele „das Maul zerrissen“ haben. Denn mit ihr verliest an jenem Abend zum ersten Mal im deutschen Fernsehen eine Frau die Nachrichten.

Auf die Idee, Pornografie als sexuelle Enttabuisierung zu veredeln, sind auch andere gekommen. Die „St. Pauli Nachrichten“, deren Name nicht auf den Fußballverein, sondern auf Hamburgs „sündige Meile“ zielt, verfügen über ein ähnliches Fotoarchiv wie Röhls „Konkret“. Das Blatt ist eine ziemlich gesprenkelte Blüte der 68er-Bewegung und wurde vom Szene-Fotografen Günter Zint gegründet. Auch hier wollen Autoren wie Stefan Aust und Henryk M. Broder linke Politik mittels freizügiger Erotik an den Mann bringen, wobei der sexuelle Voyeurismus eine deutlich größere Rolle spielt als bei „Konkret“. Vielleicht deshalb beträgt die Auflage zeitweise 800.000 Exemplare.

Die Sammlung von 40.000 Sexfotos in der Redaktion der „St. Pauli Nachrichten“ ist auch das Ziel von Einbrechern, die in der Nacht zum 25. August dort einsteigen. Die 300 Mark in der Kasse lassen sie liegen, die Fotos wühlen sie aus den Schränken. Aber nicht, um sie mitzunehmen, sondern um sie zu vernichten. Per Brandstiftung wird ein Großteil der Bilder zerstört. Hinterher gibt es die telefonische Drohung, man werde die übrigen Fotos auch noch verbrennen. Wer dahinter steckt – ob konservative Sittenwächter oder empörte Feministinnen –, wird nie ermittelt.

Rios Träume

Bundesliga, 3. Spieltag +++ 28. August 1971

Im Hamburger Volksparkstadion beginnt der dritte Spieltag mit einer stolz angekündigten Neuerung: Vor dem Anpfiff sollen zwei Schlagerstars das Publikum „anheizen“. Ob das den wenig bekannten Sternchen Claudia Gordon und Jonny Hill gelungen ist, wird nirgendwo berichtet. Aber immerhin ist es mit 41.000 Zuschauern das weitaus am besten besuchte Spiel dieser Runde.

Zu Gast ist Spitzenreiter FC Schalke 04, der erneut gewinnt, obwohl sein Goalgetter Klaus Fischer verletzt fehlt und Libuda von einer Grippe geplagt wird. Entscheidend ist dieses Mal die starke Defensive. Der Hamburger SV ist ebenfalls gut in die Saison gestartet, vor allem Uwe Seeler, der 35-jährige Fußball-Methusalem, beeindruckt mit drei Toren in den ersten beiden Spielen. Gegen Schalke verpasst er mit einem Pfostenschuss knapp den 1:1-Ausgleich. Es ist Uwes letzte Saison für den HSV.

In Köln sehen währenddessen nur 15.000 einen mühsamen 2:1-Sieg gegen eine schwache Borussia aus Dortmund. Der FC spielt in der Müngersdorfer Radrennbahn, weil nebenan das große Stadion für die Weltmeisterschaft 1974 umgebaut werden soll. Allerdings zeichnet sich schon ab, dass finanzielle Probleme das Projekt verzögern. Das neue Stadion wird am Ende zwar fertiggestellt – aber ein kleines bisschen zu spät, nämlich ein Jahr nach der WM.

Die kleine Radrennbahn besitzt eine alte Holztribüne, auf der die Zuschauer durch gemeinsames Füßetrampeln mächtig Radau machen können. Durch eine ebenfalls lärmfördernde Stahlrohrtribüne wird das Fassungsvermögen auf 29.000 gesteigert. So entsteht eine dichte Atmosphäre, die manchen Gegner das Fürchten lehrt. Kölns Verteidiger Wolfgang Weber erzählt später: „Plötzlich merkte jeder, was für ein Hexenkessel diese Radrennbahn sein konnte.“

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Hinter den Schalkern belegen Bayern München und Borussia Mönchengladbach nun die Plätze zwei und drei. Vor der Saison sind sich alle Experten und sämtliche zu den diversen „Prominententipps“ geladene Laien einig gewesen: Die Meisterschaft wird zwischen den Bayern und den Borussen vom Niederrhein entschieden. Seit drei Jahren spielen die beiden Rivalen auf Augenhöhe: 1969 wurden die Bayern Meister, 1970 und 1971 die Gladbacher. Die „Fohlen“ sind also der aktuelle Titelträger, während die Münchner als amtierende DFB-Pokalsieger antreten.

Überraschend viele Parallelen gibt es zwischen den beiden Vereinen: 1965 sind sie aufgestiegen, beide mit jungen Mannschaften aus regionalen Kickern. Die sechziger Jahre sind noch keine Zeit, in der ein deutscher Klub sich ein Starensemble zusammenkaufen kann. Er ist darauf angewiesen, Talente zu erkennen und früh an Land zu ziehen. Es mag ein historischer Zufall gewesen sein, der in Bayern wie am Niederrhein einige hochtalentierte Spieler zusammengeführt hat. In München sind es der Regent Franz Beckenbauer, der Torgarant Gerd Müller und der stets zuverlässige Sepp Maier; in Gladbach finden sich der geniale Regisseur Günter Netzer, der unverwüstliche „Terrier“ Berti Vogts und Goalgetter Jupp Heynckes.

Doch um aus solchen Spielern Erfolgsteams zu schweißen, reicht schieres Glück nicht, dazu braucht es clevere Manager und kluge Trainer. In Gladbach heißen die Macher Helmut Grashoff und Hennes Weisweiler, in München Wilhelm Neudecker und, seit einem Jahr, Udo Lattek. Der ehemalige DFB-Assistenztrainer Lattek hat bei seinem Dienstantritt 1970 zwei Jugendnationalspieler mitgebracht, Paul Breitner und Uli Hoeneß; sie drücken den Altersschnitt des Bayern-Kaders auf frische 23 Jahre. Beide Youngster haben eine starke Saison gespielt, doch der Titel ist knapp am Niederrhein geblieben.

Franz Beckenbauer steht mit 25 Jahren im Zenit seines Könnens. Sein Umgang mit dem Ball wirkt nicht wie antrainierte Technik, sondern wie spontane Kunst. Auf dem Platz hat sich Beckenbauer eine ganz eigene Position geschaffen, indem er den defensiven „Ausputzer“ alter Schule zum offensiven „Libero“ revolutioniert hat. In dieser Rolle gönnt er sich so viele Freiheiten nach vorne, dass er meist als der eigentliche Dirigent seiner Mannschaft erscheint. Als die Bayern am dritten Spieltag 4:1 gegen Eintracht Braunschweig gewinnen, steuert er zwei brillante Treffer zum Sieg bei, und Braunschweigs Trainer Otto Knefler schwärmt: „Franz ist Weltklasse, sein Bandenspiel im Strafraum mit Müller ist tödlich.“ Er, Knefler, werde beim DFB beantragen, dass eine Mannschaft, die gegen Beckenbauer spiele, künftig mit einem Mann mehr antreten dürfe: „Nur ein zwölfter Mann könnte ihn halten.“ Gibt es dafür kein anderes probates Mittel? „Ich weiß keines.“

Doch beliebt in fremden Stadien sind weder der Kaiser noch seine Bayern. Allerorten will man ihnen die Lederhosen ausziehen, bevor sie überhaupt welche tragen müssen. Im „Kicker“ klagt zum dritten Spieltag eine junge Leserbriefschreiberin: „Ich heiße Elfriede Sedlmayer, bin 16 Jahre alt und seit Jahren Anhängerin des FC Bayern München. Vor allem gehört mein Herz Franz Beckenbauer, den ich für den besten Fußballer der Welt halte. Vielleicht können Sie sich deshalb vorstellen, wie sehr ich mich Samstag für Samstag ärgere, wenn dieser Weltklassespieler erbarmungslos und oft dazu noch ohne Grund ausgepfiffen wird.“

Wie zum Beweis berichtet ein paar Tage später, nach einem Bayern-Auftritt in Oberhausen, Trainer Udo Lattek von Übergriffen einiger RWO-Fans: „Franz Roth quetschte sich den Ringfinger der rechten Hand in der Tür des Busses, als der Fahrer sie eilends schloss, weil ein Fanatiker mit dem Ende seiner Fahnenstange auf Franz Beckenbauer einschlug.“

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Im gleichen Monat August, weit abseits des großen Fußballs, auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg, nahe der Mauer, wo sich Berlin in den siebziger Jahren ungeschminkt zeigt, ohne das Make-up geschönter Fassaden. Ein paar türkische Jungs kicken zum Spaß mit einem Ball. Das Fußballspielen auf dem Platz ist verboten, eine Polizeistreife schreitet ein. Die Jungs protestieren, ein schimpfender Passant stellt sich auf ihre Seite, es kommt zum Handgemenge, ein Kameramann eilt herbei, um das Geschehen zu filmen. Die Ordnungshüter rufen Verstärkung, und wenig später nähern sich Polizeisirenen. In ein paar Mannschaftswagen rast Bereitschaftspolizei heran, sperrt den Platz und die Eingänge der angrenzenden Häuser. Am Ende sind drei oder vier Beteiligte festgenommen und die Filmaufnahmen des Kameramannes unbrauchbar gemacht.

Nebendran, in den Räumen einer besetzten Fabrik am Mariannenplatz 13, beobachten ein paar Leute die Szene vom Fenster aus. Einer von ihnen, ein schmaler junger Mann mit schulterlangen dunklen Haaren und nackten Füßen, nennt sich Rio Reiser und ist Frontmann der Agitrock-Gruppe Ton Steine Scherben.

Rio wohnt noch nicht lange in Berlin und heißt auch noch nicht lange Rio Reiser. Vorher hat er als Ralph Christian Möbius mit seinen Eltern in Süddeutschland gelebt, zuletzt im südhessischen Nieder-Roden. Er lernt Klavier und Gitarre spielen, singt freiwillig im Schulchor mit, liest viel, besonders gerne Karl May und die Bibel. Mit dieser Lektüre moralisch gerüstet, rockt der Junge den Schulunterricht. Später schreibt er über seinen „ersten Zeck mit einem Religionslehrer“: „Wir waren bei den zehn Geboten und genauer gesagt bei: ‚Du sollst nicht töten.‘ Und ich habe ihn gefragt, was er denn zur Bundeswehr sagt, und er hat gesagt: Die muss sein. Da bin ich richtig aggressiv geworden (…). Ich habe ihn angeschrien, warum er uns so was beibringt, wenn er es selber nicht glaubt.“

In Nieder-Roden lernt er Ralph Peter Steitz kennen: „Er kam immer zu spät und sah gut aus, hatte schwarze Locken und ein Harpo-Marx-Gesicht.“ Ralph Peter Steitz wird von seinen Kumpeln „Fifi“ gerufen, legt sich aber den Künstlernamen RPS Lanrue zu. Er spielt in einer Band namens Beat-Kinks und sucht einen Sänger. Sie spielen die aktuellen Rock-Hits und irgendwann die ersten selbstgebastelten Songs. So beginnt es.

In der hessischen Provinz gibt es zeittypischen Ärger. Lanrue: „Wir kannten uns erst ein Jahr, da sind wir in einem Nachbarkaff von fünf oder sechs Dorfjugendlichen verfolgt worden, weil wir lange Haare hatten. Wir waren zusammen auf einer Kirmes, die Typen, so Kleinstadtpsychos, wollten uns die Haare abschneiden. ‚Ey Gammler‘, haben sie uns beschimpft. Wir sind abgehauen, es war knapp. So was verbindet.“ Manchmal bewahrt sie auch Gert Möbius, der große Bruder, davor, Kloppe zu beziehen.

Ralph Möbius mag nicht mehr Ralph Möbius heißen; der Name, meint er, „erinnerte mich an Arztfilme aus den vierziger, fünfziger Jahren“. „Rio“ steht schnell fest, weil ihn seine Kumpels so rufen. Und den „Reiser“ entleiht er einem Roman des Sturm-und-Drang-Dichters Karl Philipp Moritz. Dessen jugendlicher Protagonist Anton Reiser strebt als Wanderschauspieler – meist vergebens – nach künstlerischer Anerkennung. Ein wenig wandert Rio ihm nach. Zunächst schreibt er Musikstücke für Theaterprojekte vor allem seiner älteren Brüder Gert und Peter, die mit „Hoffmanns Comic Theater“ einige Furore machen. In deren Windschatten gelangen Rio Reiser und sein Freund Lanrue schließlich nach Berlin.

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Das Westberlin jener Jahre bebt, hier kulminieren frühzeitig und besonders heftig die Veränderungen, die die westdeutsche Gesellschaft durchschütteln. Hier ist der Protest gegen miefige Autoritäten radikaler und die Reaktion der Staatsgewalt härter. Am 2. Juni 1967 stirbt der Student Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel, nachdem er an einer Demonstration gegen den Schah teilgenommen hat. Rio geht in dieser Nacht über den Kurfürstendamm, hört von erregten Passanten Wortfetzen wie „Krawallbruder“, „selber schuld“ und „Langhaaraffen“.

Genau vier Wochen nach Ohnesorgs Tod feiert im Berliner Theater des Westens die angeblich erste, vor allem aber experimentelle Beat-Oper „Robinson 2000“ ihre Premiere, ein Projekt der Gebrüder Möbius incl. Rio. „Feiern“ ist allerdings das falsche Verb für das tatsächliche Desaster, das sich dort anbahnt. Das Premierenpublikum lacht an den falschen Stellen, und der Applaus am Ende klingt ironisch. Nicht alles geht, auch nicht in Berlin.

Die subkulturelle Szene in der Stadt vergrößert sich rasant: durch Studenten und Akademiker, die den Marxismus oder zumindest die linke Pose entdecken; durch Jugendliche, die keinen Bock auf eine bürgerliche Karriere haben; durch Schüler, die vor autoritären Lehrern oder Eltern fliehen; durch Wehrdienstverweigerer, die in Scharen nach Westberlin strömen, weil die Stadt völkerrechtlich nicht zur Bundesrepublik zählt und daher keine Wehrpflicht kennt. Und die Szene zersplittert: in DDR-orientierte Kommunisten, Maoisten unterschiedlicher Couleur, Trotzkisten, Radikalsozialisten, Pazifisten und Anarchisten; in Hippies, Träumer, Bohemiens, Künstler, Lesben, Schwule und Transvestiten, Spinner, Esoteriker, Faulenzer, Erotomanen, Dealer und Konsumenten von Drogen jeder Art. Allenthalben hört man Bekenntnisse, die vor Kurzem kaum jemand gewagt hätte.

Mitten drin hängt Rio Reiser mit seinen Musikprojekten, der Lehrlingstheatertruppe Rote Steine und vagen Plänen. Schließlich tut er sich mit seinem alten Freund Lanrue und dem Bassisten Kai Sichtermann zusammen, die beide noch bei Hoffmanns Comic Theater aktiv sind, und gründet mit ihnen Ton Steine Scherben. Die Rolling Stones stehen Pate bei der Namensgebung, aber Rio behauptet: auch Heinrich Schliemann. Der soll, als er Troja ausbuddelte, gesagt haben: „Alles, was ich fand, waren Ton, Steine und Scherben.“

Mit marxistischer Theorie und ideologischen Grabenkämpfen kann Rio Reiser nichts anfangen; wie er später schreibt, „be herrschte ich weder das notwendige Soziologen-Deutsch, noch hatte ich Lust, im Berliner Anarcho-Polit-Dialekt zu schreiben“. Eher diffus träumt er von radikalen Freiheiten und „der besten aller möglichen Welten“, will Teil einer Gegenkultur sein gegen Verhältnisse, mit denen er sich nicht identifizieren mag. Deutsch singen die Scherben, um besser verstanden zu werden, denn im Kreuzberg jener Jahre finden sie ihr Publikum nicht gerade im Bildungsbürgertum. Das Manifest der Gruppe, unter dem Titel „Musik ist eine Waffe“ abgedruckt in der Szene-Zeitung „Agit 883“, fordert schlicht und eindeutig „Lieder für das Volk“: „Unsere Musik soll ein Gefühl der Stärke vermitteln. Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, ‚Kriminelle‘, Leute in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs. Lieder sind zum Mitsingen da. Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können. (…) Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe sie geplant ist.“

Eine solcher Aktionen heißt: Räume für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Kreuzberg zu schaffen. Unter den vielen leer stehenden, zum Abriss freigegebenen Häusern wird ein Fabrikgebäude ausgesucht, direkt am Mariannenplatz. Peter-Paul Zahl, Schriftsteller, Druckereibesitzer und einer der Macher von „Agit 883“, organisiert am 3. Juni 1971 in der TU-Mensa eine Fete, auf der auch die Scherben auftreten. Am Ende ruft Rio die Besucher auf, zum Mariannenplatz zu ziehen und das Haus zu besetzen. Die Polizei ist überrumpelt, taucht erst am nächsten Morgen auf und komplimentiert die Besetzer hinaus. Am nächsten Abend sind sie wieder da, in größerer Zahl als zuvor. Der Westberliner Senat hält es nun für klüger zu verhandeln. Die Besetzer dürfen bleiben.

Das Gebäude wird renoviert, für musikalische Untermalung sorgen die Scherben, die dort ihre Songs proben. Mittlerweile sind sie bekannt genug, dass der Süddeutsche Rundfunk ein Fernsehteam für das Jugendmagazin „Jour fixe“ hinschickt. Die TV-Leute filmen in der alten Fabrik just an jenem Augusttag, als die Polizei am Mariannenplatz die fußballspielenden Türken festnehmen will. Nikel, der Manager der Scherben, ist der zufällige Passant, der den Jungs zu Hilfe eilt. Der Kameramann, der die Rangeleien aufnehmen will, gehört zum Fernsehteam. Nikel wandert aufs Polizeirevier, der Film in den Reißwolf. So gibt’s von diesem Ereignis nur die Berichte der Scherben und TV-Aufnahmen lediglich von ihrem Song „Allein machen sie dich ein“.

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