Читать книгу 71/72 - Bernd-M. Beyer - Страница 7
ОглавлениеSEPTEMBER 71
„Wenn die Schalker so weiterspielen, dann werden sie Deutscher Meister.“
Trainer GUYLA LORANT nach der Niederlage seines 1. FC Köln am 4. Spieltag in der Glückauf-Kampfbahn
„Mein Tipp ist, dass die Bayern heute gewinnen.“
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident HELMUT KOHL im Programmheft zur Begegnung 1. FC Kaiserslautern gegen FC Bayern am 6. Spieltag. Die Fans am Betzenberg empfangen ihn daraufhin mit einem lauten Pfeifkonzert. Die Bayern gewinnen 2:0.
„Wenn die Funktionäre schon nicht genau Bescheid wissen, dann sollen ausgerechnet wir Fußballer uns in den Paragraphen auskennen.“
Skandalsünder LOTHAR ULSASS über die umstrittene Frage, ob Spieler von dritten Vereinen Siegprämien kassieren dürfen
„Der DFB sollte zugeben, dass seine Rechtsorgane überfordert sind.“
DR. JOSEF AUGSTEIN, Rechtsanwalt von Horst-Gregorio Canellas
„Mohammed war ein Prophet“
Bundesliga, 4. Spieltag +++ 31. August/1. Sept. 1971
„Tausend Feuer in der Nacht / haben uns das große Glück gebracht. / Tausend Freunde, die zusammenstehn / dann wird der FC Schalke niemals untergehn.“ So heißt es in dem Schalker Vereinslied, das Jahre später für Kontroversen sorgen wird, weil es darin auch die Zeile gibt: „Mohammed war ein Prophet / der vom Fußballspielen nichts versteht.“ Doch an diesem 1. September wird es in der völlig ausverkauften Glückauf-Kampfbahn unbefangen und inbrünstig gesungen. Und vor allem laut.
Im „größten Siegestaumel seit vielen Jahren“ („SZ“) schreien sich 38.000 Zuschauer die Kehle aus dem Leib, denn Unfassbares geschieht vor ihren Augen: Klaus Scheer, Ersatzstürmer für den noch immer verletzten Klaus Fischer, schlägt in der ersten Halbzeit gegen den 1. FC Köln gleich viermal zu: in der 2., 6., 33. und 42. Minute. Und das, obwohl ihm mit Wolfgang Weber ein starker und erfahrener Verteidiger gegenübersteht. Nach der Halbzeit trifft er sogar noch ein fünftes Mal, 6:2 lautet der Endstand. „Super! Sagenhaft!“, schlagzeilt „Bild“. Die Kölner versuchen sich mit Trainer Gyula Lorant gerade an der Raumdeckung, ein Novum, das gegen Schalke überhaupt nicht funktioniert und anschließend von nicht wenigen Experten für erledigt erklärt wird. Das sei nichts „für Spieler in unseren Breitengraden“, schimpft Wolfgang Overath, denn die „brauchen Aufgaben, die sie zu erfüllen haben“. Der hitzköpfige Mannschaftskapitän ist im Mittelfeld das Herz der Kölner, zugleich ein gestandener Nationalspieler und wie sein Kollege Weber ein Vizeweltmeister.
Inzwischen haben die Medien statt des Zweikampfs Bayern/Gladbach einen Dreikampf um die Meisterschaft ausgerufen. Zumal beide Favoriten an diesem Spieltag nur ein Unentschieden holen: die Bayern ein 1:1 in Oberhausen, das wie erwähnt einige RWO-Fans übergriffig werden lässt. Und die Fohlen ein elendes 0:0 zu Hause gegen Stuttgart. Nach der seinerzeit gültigen Zwei-Punkte-Regel glänzt Schalke also mit 8:0 Punkten weiter an der Tabellenspitze, und Libuda, so bescheinigt es ihm die „WAZ“, „wirbelte wie in seinen besten Tagen“. Stan selbst sagt: „Ich habe mich noch nie besser gefühlt.“
An schöne Gefühle, an Ruhm, Ehre und die Meisterschale denkt sein Mitspieler, Abwehrrecke Klaus Fichtel, allerdings nicht, als er nach den Qualitäten seines Trainers Horvat gefragt wird. Die ehrliche Antwort lautet: „Ich glaube, er ist für unsere Mannschaft genau der richtige Mann. Mit ihm können wir noch viel Geld verdienen.“
Der überglückliche Torjäger Klaus Scheer lässt sich von einem „Bild“-Reporter am Morgen nach dem Spiel zu einem Fototermin überreden. Der Journalist kutschiert den erst 20-jährigen Scheer zu einer Essener Bank, wo auf dem Tisch eines Nebenzimmers Tausendmark-Scheine gestapelt sind. Am nächsten Tag erscheint die „Bild“ mit Fotos eines Schalker Stürmers, der fröhlich mit braunen Geldscheinen um sich wirft.
***
Mittlerweile hat auch in der höchsten ostdeutschen Spielklasse, der DDR-Oberliga, die neue Saison begonnen. Scheine regnet es dort nicht, aber richtig fair geht es auch nicht zu. Denn in der Tabelle taucht unvermittelt ein neuer Name auf: FC Vorwärts Frankfurt. Kein Aufsteiger, sondern die Kreation realsozialistischer Sportpolitik. Gleichzeitig fehlt in der Tabelle ein alter Bekannter: der FC Vorwärts Berlin. Kein Absteiger, sondern das Opfer ebendieser Politik, die einen kompletten Fußballklub per Funktionärsbeschluss aus der Hauptstadt an die Oder verfrachtet hat.
Der FC Vorwärts Berlin, für den Armeeangehörige kicken, ist nicht irgendein mittelmäßiger Klub, sondern bis dato DDR-Rekordmeister. Allein in den sechziger Jahren holt er fünf von zehn Meisterschaften. Diese Erfolge gefallen einem SED-Genossen allerdings gar nicht: Erich Mielke, allgewaltiger Minister für Staatssicherheit, erst Vorsitzender und dann Ehrenvorsitzender von Dynamo Berlin. Das ist der Klub der Stasi und der Volkspolizei, und er steht klar im Schatten seiner lokalen Konkurrenten. Sportlich überflügelt ihn der FC Vorwärts, in der Zuschauergunst der 1. FC Union. Mielke gedenkt, das zu ändern.
Da trifft es sich gut, dass in Frankfurt an der Oder ein ehrgeiziger SED-Bezirksparteichef namens Erich Mückenberger sitzt, den es schon lange wurmt, dass seine Stadt nicht in der Oberliga vertreten ist. Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Jagdfreund von Mückenberger und letztlich der höchste Chef aller Armeefußballer, ist in den Deal eingeweiht. Wer letztlich als treibende Kraft dabei fungiert, den Klub umzusiedeln, ist umstritten, doch ist sich die Geschichtsschreibung einig, dass die Herren Mielke, Mückenberger und Hoffmann hinter dem unsportlichen Transfer stehen. Die offizielle Begründung jedenfalls ist reine Bürokratenpoesie. Sie findet sich in der „Berliner Zeitung“ kurz vor der Saison 1971/72: „Zur Begründung des Umzugs erklärte Admiral Verner [stellv. Verteidigungsminister, Anm. d. A.], dass dieser Schritt im Interesse der weiteren Stärkung des Oberliga-Kollektivs erfolge und die Erhöhung des Ansehens der Nationalen Volksarmee und der sozialistischen Sportbewegung zum Ziel habe.“
Nicht gefragt werden Anhänger und Spieler. Jürgen Nölder, der auch „Puskás der DDR“ genannt wird, muss als Mannschaftskapitän offiziell die Entscheidung begrüßen, doch in Wahrheit hält er sie für „hirnlos“. Dem Buchautor Hanns Leske erzählt er: „Die Spieler wurden nicht konsultiert, sondern von dem Beschluss selbst überrascht.“ Vorerst müssen sie nun täglich zum Training nach Frankfurt pendeln, morgens hin, abends zurück, lockere drei Stunden Busfahrt pro Tag. Der 30-jährige Nölder verabschiedet sich noch in der laufenden Saison aufs Altenteil, andere gestandene „Berliner“ haben ähnliche Gedanken. Das erste Pflichtspiel in der ungeliebten neuen Heimat, am 1. September vor 8.000 Zuschauern im halbleeren Stadion der Freundschaft, gewinnt man noch 3:1 gegen Stahl Riesa, und am Saisonende wird man immerhin Fünfter.
(Danach zerfällt die Mannschaft und endet als Fahrstuhlelf, ohne je wieder einen Titel zu gewinnen. Die will sich fortan Mielkes hochgepäppelter FC Dynamo greifen. 1972 wird der Stasi-Klub bereits Vizemeister, danach sammelt man sich eine Weile hinter Dynamo Dresden und dem 1. FC Magdeburg, die Anfang der siebziger Jahre die spielerische beste Zeit des DDR-Fußballs einleiten. Doch dann schlägt Mielkes Stunde. Sein Dynamo wird zehnmal hintereinander DDR-Meister.)
***
Wieder in Berlin, jetzt West: Rio Reiser, der einige Zeit in Kommunen und in der alten Wohnung seiner Großeltern gelebt hat und ziemlich abgebrannt ist, kann in eine leerstehende Acht-Zimmer-Altbau-Etage ziehen, Tempelhofer Ufer 32. Mit ihm wohnen dort noch sein Kumpel aus Nieder-Roden, Lanrue, der bei den Scherben Gitarre spielt und gemeinsam mit Rio die Songs schreibt, dazu Scherben-Bassist Kai Sichtermann und mal der eine, mal die andere. Außerdem ein älteres Ehepaar, die Billings, die schon immer dort zur Untermiete wohnten und lieber die neuen, unruhigen Mitbewohner ertragen wollen als den Umzug ins Altersheim.
Ans „T-Ufer“, wie es die Szene nennt, hat Jörg Schlotterer die Scherben geholt, ein gutaussehender sportlicher junger Mann mit heller Afrofrisur und bunter SDS-Vergangenheit. Zusammen mit seiner Begleiterin Christine, einer Malerin und Ehefrau des Rechtsanwalts Otto Schily, hat er Rio in einer Berliner Diskothek angesprochen. Man unterhält sich angeregt. Rio glaubt aus ihren Äußerungen herauszuhören, „dass die beiden zum Sympathisantenkreis der RAF gehörten“. Christine Schily wiederum glaubt, aus Rios Äußerungen herauszuhören, dass er homosexuell ist. Das Gespräch, so Rio später, „endet damit, dass Christine ihr Bedauern darüber äußerte, dass es ihres Wissens keinen schwulen Genossen in der RAF gäbe. Sie versprach, Bescheid zu sagen, wenn es so weit wäre.“
Eigentlich hat Schlotterer Nachmieter gesucht, weil er am T-Ufer ausziehen will. Doch er freundet sich mit den Scherben an, spielt ein bisschen Querflöte und bleibt schließlich bei ihnen. Sie ernennen ihn zu ihrem „religiösen Berater“, was auch immer das sein mag. Das Problem am T-Ufer ist, dass dort einige Leute gemeldet sind, die längst wieder weg sind und es vorgezogen haben, sich nicht offiziell abzumelden. Unter anderem Holger Meins, ein inzwischen untergetauchtes Mitglied der RAF. Ab und zu klingeln Kripobeamte an der Haustür und fragen nach ihm. Die Billings erklären den Beamten dann freundlich: „Der Holger, ach Göttchen, der Holger, der hat sich schon so lange hier nicht mehr blicken lassen. Hat er was ausgefressen?“ Und den Scherben versichern sie augenzwinkernd: „Wir haben noch nie jemanden verraten.“
Die jungen Bewohner pinseln in großen rosa Lettern an die Wohnzimmerwand: „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.“
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Zu jener Zeit sehen große Teile der Linken die RAF noch als Teil der Subkultur; ihr militantes Gehabe wird zwar zumeist abgelehnt, von manchem aber klammheimlich auch bewundert. Zunächst ist es auch weitgehend bei großen Ankündigungen, wilden Theorien und kurzen Schießereien geblieben. Gudrun Ensslin, Andreas Baader und andere zünden im April 1968 Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Es gibt hohen Sachschaden, aber keine Verletzten. Baader wird verhaftet, kann aber im Mai 1970 unter Mithilfe von Ulrike Meinhof aus der Haft fliehen, wobei ein Beamter schwer verletzt wird.
Kurz darauf erscheinen in „Agit 883“ eine Erklärung und im „Spiegel“ ein Interview mit der Gruppe. Man habe „begriffen, dass Revolution bewaffneter Kampf heißt“, und daher die „Rote Armee Fraktion“ gegründet, kurz RAF. Noch nennt man die Gruppe in der Öffentlichkeit so nicht, sondern, je nach politischem Standpunkt, „Baader-Meinhof-Gruppe“ oder „Baader-Meinhof-Bande“. Das klingt ein bisschen nach Bonnie und Clyde, jenem legendären Gangsterpaar, das in den dreißiger Jahren, während der großen Wirtschaftskrise, raubend und mordend durch die USA zog und dem ein Kinofilm ein romantisierendes Denkmal setzte.
Es gibt ein berühmtes Foto, das Andreas Baader und Gudrun Ensslin beim Brandstifter-Prozess 1968 zeigt: sie mit beeindruckend langen Haaren und kultig geschminkten Augen, er mit runder Sonnenbrille und trendigen Haar-Koteletten, beide bestens gelaunt im lockeren Gespräch, als säßen sie in einer Szenebar oder in Günter Netzers Disko Lovers Lane, vorgefahren im coolen Porsche Targa, dem von Baader bevorzugten Gefährt, das dort neben Netzers Ferrari gestanden hätte. Modische Insignien und kulturelle Codes lassen die politischen Grenzen verschwimmen. Bei nicht wenigen Jugendlichen hängen die ikonischen Fotos von Che Guevara, Jimmy Hendrix und George Best in friedlicher Koexistenz an der Wand.
In einer repräsentativen Meinungsumfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie bekundet im Frühjahr 1971 ein Viertel aller Bundesbürger unter 30 Jahren eine „gewisse Sympathie“ mit der RAF; jeder Zwanzigste erklärt sich sogar bereit, solche Untergrundkämpfer für eine Nacht zu beherbergen. Kai Sichtermann, der Bassist, berichtet später, auch Ton Steine Scherben hätte die Anfänge der RAF wohlwollend verfolgt: Damals „verteilten die Scherben während ihrer Konzerte noch Flugblätter und andere Propagandaschriften der RAF und forderten sogar gezielt Leute auf, ihre Personalausweise zu ‚verlieren‘, um sie dann an Untergetauchte weiterzugeben“. Er selbst habe sich „sogar ernsthaft überlegt, meine Gitarre gegen eine Knarre einzutauschen und in den Untergrund zu gehen“.
In den folgenden Monaten, zeitlich parallel zur Ligasaison 1971/72, wird sich die Situation grundsätzlich ändern und schließlich eskalieren. Im Juni 1971 erklärt die RAF im Strategiepapier „Das Konzept Stadtguerilla“ der Staatsgewalt den Krieg; Festnahmen werde sie sich mit Waffengewalt widersetzen. Die Polizei antwortet mit einer bundesweiten Fahndung. Petra Schelm und Werner Hoppe, zwei RAF-Mitglieder, geraten am 15. Juli 1971 in Hamburg bei einer Großfahndung in eine Straßensperre, rasen mit ihrem BMW einfach durch. Als ein Polizeiauto sie stoppt, flüchten sie zu Fuß weiter. Es fallen Schüsse, zunächst können die beiden in Gärten verschwinden. Kurze Zeit später entdeckt ein Polizist Petra Schelm auf der Reineckestraße und tötet sie mit einem Schuss aus seiner Maschinenpistole, in Notwehr, wie er sagt.
Petra Schelm ist nur 20 Jahre alt geworden. In der linken Szene wird sie als Opfer gesehen. Zumal ein Schüler, der die Schießerei beobachtet hat, aussagt, der Polizist habe ohne Vorwarnung zuerst geschossen. Ebenso sorgen Augenzeugenberichte für Empörung, mindestens zehn Minuten lang habe niemand der Sterbenden Erste Hilfe geleistet. Die RAF hat ihre Märtyrerin. Schelms Tod wird kein Anlass zum Innehalten, sondern verhärtet die Fronten weiter. Vergebens appelliert der renommierte „Spiegel“-Autor Gerhard Mauz an beide Seiten: „Die Saat der Gewalt ist aufgegangen, doch fragen wir uns einmal, wer alles Gewalt sät. (…) Das Mädchen hat geschossen, und so ist auf das Mädchen geschossen worden. Doch das ‚letzte Gefecht‘ wird nicht mit Waffen ausgetragen; mit Worten wird es zu führen sein.“
Elf Freunde wollen wir nicht sein
Bundesliga, 5. Spieltag +++ 3./4. September 1971
„Wer mit neun den Vater und mit 13 die Mutter verliert, muss kämpfen.“ Kein politisches Statement, sondern eine Laudatio auf Hans-Hubert „Berti“ Vogts. Der zuverlässige Abwehrmann ist soeben zum neuen Fußballer des Jahres gewählt worden, mit großem Vorsprung vor Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Berti hat mehr als 200 Bundesligaspiele und 39 Länderspiele hintereinander absolviert, ohne ein einziges Mal zu fehlen. Der „Kicker“ veröffentlicht eine Biografie über Berti, in der die Wahl begründet wird: „Der Fußball erkor sich keinen glitzernde n, schillernden, sondern einen einfachen Star. An Stelle des Playboy-Typs den braven Burschen. Im rechten Augenblick, vielleicht im letzten Augenblick, wird ein junger Mann zur Idealfigur, der in einem eiskalten, rücksichtslosen Geschäft trotz seiner Erfolge ein braver Normalverbraucher geblieben ist, der sich dort wie ein Amateur bewegt, wo Geldgier und Gewinnsucht, Egoismus und Mitleidslosigkeit die Existenz der ganzen Branche bedrohen.“
Im Jahr darauf wird es mit Günter Netzer allerdings wieder schillernd. Die Auszeichnung als Fußballer des Jahres teilen sich momentan ausschließlich die Fohlen und die Bayern. Von den 16 Titeln zwischen 1966 und 1981 gehen 15 an Spieler dieser beiden Vereine; elfmal nach München, viermal nach Gladbach. Nur „uns Uwe“ kann 1970 die Reihe durchbrechen.
Passend dazu liefern sich Bayern und Gladbach am fünften Spieltag ihr „Gigantenduell“. Trainer Lattek hat Uli Hoeneß zuletzt als Außenverteidiger spielen lassen, gegen den Titelverteidiger darf er nun neben Gerd Müller als zweite Sturmspitze ran. Prompt bringt er Feuer ins Bayern-Spiel. Helmut Schön sitzt als Beobachter beeindruckt auf der Tribüne: „Das war die beste erste Halbzeit, die ich in der Bundesliga sah. Beide Mannschaften spielten rasend schnell aus dem Mittelfeld heraus. Die Bayern waren großartig und die Mönchengladbacher hielten mit, so gut sie konnten.“ Taktgeber der Darbietung sind Beckenbauer (96 Ballkontakte) und Netzer (98).
Hoeneß und Roth schießen die Tore zum klaren 2:0-Sieg. Endlich haben die Bayern aufblitzen lassen, dass sie in dieser Saison Historisches vorhaben. Noch bleiben sie Zweiter, doch sind sie jetzt punktgleich mit Schalke. Die Gelsenkirchener haben ihr Spiel bei Eintracht Frankfurt 0:2 verloren, vom neuen Goalgetter Scheer ist nichts zu sehen, und Libuda agiert, so eine Zeitung, „wie vor der Erfindung des Schießpulvers“. Noch immer warten sie in Schalke auf die Rückkehr ihres Torjägers Klaus Fischer.
Auch der HSV hat vergeigt, sein zweites Heimspiel in Folge: 1:2 gegen Hertha BSC. Von den Rängen hört man die ersten Denkmalschändungen: „Seeler raus!“
***
Paul Breitner macht vor dem anstehenden Länderspiel gegen Mexiko von sich reden. Der Herberger’sche Leitsatz „Elf Freunde müsst ihr sein“, so verkündet er, sei ein „Hirngespinst, vollkommener Blödsinn“. Über den Spielerkreis vor Länderspielen mokiert er sich: Das sei „eine Zeremonie, die oft ins Lächerliche, ins Hirnrissige“ gehe. Mit solchen Ansichten steht er nicht alleine. Auch Beckenbauer verabschiedet sich von Herbergers Diktum: „Stimmt längst nicht mehr .“ Ebenso Günter Netzer, der bereits im Juli in einem Gespräch mit „Bild am Sonntag“ kundgetan hat: „Kameradschaft – im Profi-Fußball gibt es die nicht mehr.“ Bei anderer Gelegenheit nennt Netzer „das Getue mit den elf Freunden“ schlicht „Kokolores“. Vielmehr stünden, wie er in seinem Buch „Rebell am Ball“ erklärt, „elf Geschäftsleute auf dem Platz, von denen jeder seine eigenen Interessen vertritt “.
In Netzers „Rebellion“ verbinden sich Zeitgeist und Geschäftssinn. Folgerichtig pfeift er auf alte Fußballmythen und will auch von nationalem Pathos nichts wissen: „Ich glaube nicht, dass ich Deutschland repräsentiere.“ Er weiß sich darin einig mit dem Kaiser, der „doch nicht für den Adler auf der Brust“ spielt und überhaupt meint: „Ich bin kein Deutscher, ich bin Bayer. Das ist ein ganz großer Unterschied.“ Der junge Wilde Breitner mag da nicht zurückstehen: „In der Nationalelf spiele ich nicht für die Nation, sondern für mich.“ (Allerdings: Hier geht es um eine Zeit, in der das amtierende Staatsoberhaupt, der kluge Bundespräsident Gustav Heinemann, auf die Frage, ob er die Bundesrepublik Deutschland liebe, antwortet: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!“ Heutzutage würde er bei Pegida-Demos dafür an den Galgen gebracht.)
Der querköpfige Breitner rührt noch an ganz anderen Tabus: „Diese Nationalhymne vor den Länderspielen stört mich.“ Allerdings hat Breitner zu diesem Zeitpunkt erst ein Länderspiel absolviert, im Juni gegen Norwegen. Bundestrainer Helmut Schön berichtet in seiner Autobiografie darüber, wie er mit dem Affront umgegangen ist. „Ich sprach ihn darauf an. Wir gingen in einem Park in der Nähe unseres Hotels zusammen spazieren. ‚Was stört dich denn nun an der Nationalhymne‘, fragte ich ihn. Er antwortete sinngemäß: ‚Ich habe nichts gegen die Nationalhymne als solche. Sie stört mich nur so kurz vor Beginn des Spieles.‘“
Der Trainer lässt es dabei bewenden, gegen Mexiko allerdings bleibt Breitner auf der Bank. Dort sitzt beim Anpfiff auch Reinhard Libuda, obwohl die Medien nach seinen zuletzt guten Leistungen vehement seinen Einsatz fordern. Erst in der 64. Minute ersetzt er Jürgen Grabowski auf dem rechten Flügel.
Gerd Müller dagegen steht in der Startelf, Helmut Schön beteuert: „Ein ‚Problem Müller‘ gibt es für mich nicht.“ Der vermeintliche „Bomber der Nation“ durchlebt derzeit in der Liga eine Leidenszeit. Zu den zwölf Toren, die seine Bayern in den ersten fünf Spielen erzielten, hat er nur ein einziges beigesteuert; dafür hat er sich vom eigenen Anhang Pfiffe und „Müller raus“-Rufe anhören müssen. Die Medien rätseln über seine „Ladehemmung“. Sein Präsident Neudecker glaubt zu wissen, woran es liegt: „Leute außerhalb des Vereins haben Müller erzählt, was Beckenbauer angeblich bei uns verdient. Gegenüber diesen Summen fühlt er sich benachteiligt, sie haben ihm den Kopf verdreht und auch seine Leistungen auf dem Spielfeld beeinträchtigt. Dabei sind die angeblichen Beträge für Beckenbauer völlig aus der Luft gegriffen, Beckenbauer hat nie so viel verdient.“
Müller besitzt weder die Cleverness des Kaisers noch das Selbstbewusstsein eines Hoeneß oder Breitner, jedenfalls nicht außerhalb des Strafraums. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, hat nach der Hauptschule in Nördlingen eine Weberlehre begonnen, als Vertragsspieler bei den Bayern zunächst nur 160 Mark verdient und daher halbtags noch bei einem Möbelhändler gejobbt. Klein und stämmig gebaut, manchmal ungelenk wirkend, braucht er eine Weile, um Trainer und Mitspieler zu überzeugen: von seiner verblüffenden Beweglichkeit im Strafraum, von seiner Doppelpass-Kompetenz, von seiner Fähigkeit, aus fast jeder Situation den Ball Richtung Tor zu bugsieren. Mit dem Fuß, mit dem Kopf, mit dem Knie, mit dem Oberschenkel, notfalls mit dem Po. Spätestens seit dem WM-Turnier 1970, bei dem er zehnmal trifft, weiß man, welche Weltklasse er besitzt.
Insgeheim hat jetzt Hertha BSC mit dem 25-Jährigen verhandelt. An sich steht Müller bis 1973 noch bei den Bayern unter Vertrag, und Neudecker mag ihn nicht hergeben. Jedenfalls nicht für das Silbergeld, das Hertha zahlen könnte: „Nicht für 800.000 und nicht für eine Million. Erst bei einer Ablösesumme von zwei Millionen käme ein solcher Handel für uns in Frage.“ Die „Süddeutsche“ glaubt: „Angesichts dieser schwindelerregenden Summe greift sich der unbefangene Fußballfreund an den Kopf.“ Sieben Jahre zuvor haben die Bayern 4.400 Mark als Ablöse an Müllers Heimatverein TSV Nördlingen bezahlt.
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„Nach dem Schnitzer des Ausputzers hob der Aufbauer den Abpraller über die Mauer in die Gasse, wo der Aufreißer mit dem Hammer am Drücker war und den Abklatscher in die Lücke gab, wo der Abstauber den Abtropfer nahm und als Aufsetzer in den Kasten des Aufsteigers setzte.“
Der Schriftsteller Ror Wolf versucht sich an Wortspielereien zu einem Fußball-Alphabet, das allerdings über den Buchstaben A nicht hinauskommt. Der Text findet sich im Buch „Punkt ist Punkt – Fußballspiele“, das er im Sommer 1971 bei Suhrkamp veröffentlicht. Die literarische Annäherung, wohl die erste dieser Art, unternimmt Wolf mit einem recht wilden, aber kurzweiligen und zuweilen tiefgründigen Mix aus kurzen Prosatexten, Gedichten, Pressezitaten sowie Fotos.
Dazu zählen auch Variationen über den Ball, kunstvoll gesetzt in Kleinbuchstaben und ohne Punkt und Komma: „der abgestaubte ball der abgetropfte ball der abgefälschte ball der abgeprallte ball der angeschnittene ball der angenommene ball der eingedrückte ball der abgegebene ball der unterschätzte ball der verlorene ball der geschleppte ball der geschobene ball der herein getriebene ball der direkt genommene ball“ Und so weiter.
Vielleicht erstmals finden sich in Wolfs Buch die heute allgegenwärtigen Sprüche aus Fußballe rmündern, wobei der Schriftsteller mehr Wert auf Hintersinn als auf platte Komik legt. Kölns Trainer Gyula Lorant zitiert er mit einem Sinnspruch über Gladbachs Nationalverteidiger: „Wenn ich Vogts sein linkes Bein wegnehme, fällt er einfach um, weil kein rechtes Bein da ist.“ Von Gerd Müller liest man die Ansage: „Ich werde einen Torrekord aufstellen, der in die Geschichte eingeht.“ Und Reinhard Libuda kommt als Philosoph zu Wort: „Ich bin ein anderer.“
Netzers Jaguar
Länderspiel gegen Mexiko +++ 8. September 1971
Gerd Müller, vom Hannoveraner Publikum zunächst mit einem gellenden Pfeifkonzert empfangen (ebenso wie die übrigen Münchner Nationalspieler inklusive des Kaisers), schießt sich im Länderspiel gegen Mexiko frei. Bei der 5:0-Gala im Niedersachsenstadion erzielt er drei Tore. Erst verwandelt er einen verstolperten Ball von Netzer, dann nimmt er eine Grabowski-Flanke volley aus der Luft, schließlich gelingt ihm sogar ein Solo zum Torerfolg. Hinterher sagt er: „Diese drei Tore hatte ich dringend nötig, nachdem es bei mir in der Bundesliga bisher nicht lief.“ Er weiß auch, warum er in der Nationalelf besser trifft als im Verein: „Wenn ich von den richtigen Nebenleuten die richtigen Vorlagen bekomme, schieße ich auch meine Tore.“
Netzer wetzt seinen peinlichen Stolperer mit einem grandios ins Toreck gezirkelten Freistoß aus 20 Metern wieder aus. Die derzeit heiß diskutierte Frage, ob im Mittelfeld Netzer oder Overath oder vielmehr Netzer und Overath die Fäden ziehen sollen, bleibt unbeantwortet: Der Kölner Regisseur hat verletzungsbedingt abgesagt. Bisher hat Bundestrainer Helmut Schön die Doppellösung favorisiert, so, wie er bei der WM 1970 bereits mit den beiden Sturmspitzen Müller und Seeler spielen ließ. Die Journalisten rätseln, ob geniale Taktik oder Entscheidungsschwäche dahinterstecken.
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Im Nachklang des Länderspiels verkündet Wolfgang Overath der Öffentlichkeit, er habe sein frisch erworbenes Auto neu lackieren lassen. Es handelt sich natürlich nicht um irgendeinen Gebrauchtwagen, dessen angerostete Karosserie zu übertünchen wäre. Es geht um einen Jaguar E-Type Roadster, sechs Zylinder, 269 PS, anno 1968 für 26.000 Mark erworben von Overaths Konkurrenten Günter Netzer. Als Netzer mit diesem Vehikel auf der Autobahn von einem Ferrari überholt wird, wechselt er die Marke und holt sich für 38.000 Mark einen der italienischen Edelflitzer, der gelb lackiert und 235 Stundenkilometer flink ist. Den lahmen Jaguar überlässt Netzer für 10.000 Mark dem Kollegen Franz Beckenbauer. Der wird nicht glücklich damit, denn durch das Faltdach regnet es durch, und er mosert Netzer an: „Du bist ein Betrüger!“ Flugs verhökert der Kaiser daher die löcherige Kiste an Overath, der sie von Anthrazit auf Lila umlackieren lässt, aber noch gar nicht bezahlt hat: „Ich weiß auch den Preis noch nicht. Der Franz sagte zu mir: Das eilt doch nicht.“ Und vermutlich ist der Kölner auch noch nicht im Regen damit gefahren.
Später sieht der „Spiegel“ den inzwischen berühmten Personenkraftwagen, dessen Fahrzeugbrief mit Netzer, Beckenbauer und Overath drei Fußballgenies aufführt, als Symbol der neuen Zeit. Vorbei die Uwe-Seeler-Ära, da der deutsche Bundesligaprofi als braver Opel-Fahrer den Rasen seines Vorgartens genauso kurz hielt wie die Haare auf dem eigenen Schädel. „Netzers Jaguar markiert eine Zeitenwende im deutschen Profifußball. Sein Playboy-Mobil war ein Symbol gegen den Mief, die Popkultur hielt Einzug in die Bundesliga. Fußballer sind Rockstars, lautete die revolutionäre Botschaft, die sich mit Netzer und seinen Sportwagen verbindet. Im Laufe der Zeit legte er sich viele zu, etwa einen Porsche 911, einen Ferrari Dino, einen Ferrari Daytona. Von seinem Jaguar existieren nur noch wenige Aufnahmen. Mit seinen späteren Flitzern ließ Netzer sich fotografieren, als wären sie die schönsten Frauen.“
Nicht alle Profikicker können sich solches Edelblech leisten. Schon Netzers Mannschaftskollege Siegfried Zoppke, der meist auf der Bank sitzt, steuert mit dem 30 PS schwachen Renault 4 lediglich eine damals beliebte Studentenkutsche. Die Kremers-Zwillinge besitzen zwar einen flotten Porsche, aber eben nur einen, den sie brüderlich teilen müssen. Während Schalkes Kapitän Libuda immerhin einen Mercedes 200 sein stolzes Eigen nennt, kurven beim klammen BVB auffällig viele Spieler mit einem simplen Volkswagen herum. Auch bei der Düsseldorfer Einheitslohn-Fortuna steht mit Stammkeeper Wilfried Woyke ein Käfer-Fahrer im Tor und mit Fred Hesse in der Defensive einer der biederen Opel-Besitzer.
Bei den Bayern dagegen ist Rainer Zobels Simca ein einsamer Ausrutscher in PS-schwache Gefilde; seine Kollegen leisten sich allesamt großkalibrige Hubräume, vorzugsweise aus den Bayerischen Motoren-Werken. Sozialist Breitner sieht in seiner feinen Karosse „kein Wohlstandssymbol, sondern ein Hobby“ und daher keinen Widerspruch zu „meiner Gesinnung“. Auch sein Kumpel Uli Hoeneß wird von einem Reporter gefragt, warum er solch ein teures Auto fahre. Der 19-Jährige hält das für „eine sehr polemische Frage“, bemüht sich aber um eine abgeklärte Antwort: „Ich habe keine Zeit, den Dingen zu frönen, die Jugendliche normalerweise tun, nämlich abends wegzugehen, etwas mehr zu trinken wie üblich, und da ist eigentlich das Auto das Einzige, was man so hat, um gewissen Leidenschaften zu frönen.“
Ähnlichen Trieben folgt Karl-Heinz „Charly“ Mrosko, gerade von den Bayern in die Zweitklassigkeit zum Nürnberger „Club“ gewechselt. Für ein Interview brettert er im Juni 1971 mit einem „Kicker“-Journalisten durch München und erzählt am Steuer seines schnittigen BMW 2800: „Autofahren ist eine meiner Leidenschaften. Schnelles Autofahren… Ich möchte gerne mit jenen Herren diskutieren, die veranlasst haben, dass man auf der Schnellstraße Freising – München nur 120 fahren darf.“ Und der Journalist notiert bewundernd: „Das Getriebe heult auf. Der Tritt aufs Gaspedal galt wohl jenen Herren.“ Der fixe „Charly“ am Steuer plaudert zufrieden weiter: „Ja, ich habe Erfolg bei Frauen. Warum, weiß ich eigentlich selbst nicht. Ich bin doch so furchtbar unstetig. Außerdem stelle ich irrsinnig hohe Ansprüche an das weibliche Geschlecht – zu hohe wahrscheinlich.“
Mrosko sagt gerne und oft seine Meinung, weshalb er auch in München Ärger bekommen hat. Seltsamerweise gerät er damit in den Verdacht des politischen Revoluzzertums. Die Medien erfinden für Mrosko die Bezeichnung „linker Vogel am rechten Flügel“. Das allerdings behagt ihm gar nicht: „Das ist doch wirklich das Letzte, was man von mir behaupten kann! Ich sage doch wirklich immer, was ich mir denke. Also kann ich auch kein linker Vogel sein.“
Lawine an Unrat
Bundesliga, 6. Spieltag +++ 11. September 1971
Revierderby, wieder mal ausverkaufte Glückauf-Kampfbahn und eine aufgeheizte Stimmung. Den Dortmunder Block überrascht die Polizei mit einer Razzia, ihre Ausbeute: eine Gaspistole, ein Dutzend Totschläger, zwei Dolche sowie vier Schlagketten mit schwarz-gelbem Griff. Seit dem Januar 1970, als BVB-Fans nach einer Heimniederlage in der eigenen Roten Erde gewütet und die Gäste aus Kaiserslautern angegriffen haben, gelten Teile des Borussen-Anhangs als Problemfans. Beim Derby in Gelsenkirchen bleibt es nach der Polizeiaktion auf den Rängen weitgehend gewaltfrei.
Auf dem Rasen gewinnt Schalke 1:0 gegen einen defensiv aufgestellten BVB, doch es ist ein schwaches Spiel. Einer der wenigen, die eine gute Leistung zeigen, ist der Schalker Aki Lütkebohmert, der auch den Treffer erzielt. Mit dieser Niederlage sind die Dortmunder auf den drittletzten Tabellenplatz abgerutscht, hinter ihnen rangieren punktgleich nur noch Arminia Bielefeld und Hannover 96.
In Dortmund geht die Abstiegsangst um. Dabei ist es erst ein paar Jahre her, dass man ganz oben stand. Meister 1963, Europacup-Gewinner der Pokalsieger 1966, der erste europäische Erfolg eines deutschen Vereins überhaupt. Doch die große Mannschaft kann nicht beisamme ngehalten und personelle Verluste können nicht kompensiert werden. Auch Erfolgstrainer Willi „Fischken“ Multhaup geht, weil der 1. FC Köln ihm ein besseres Angebot macht. Die ehrwürdige Rote Erde lässt keine großen Zuschauereinnahmen zu, und die Vereinsführung scheut jedes finanzielle Risiko. So beginnt eine fatale Abwärtsspirale: Die Leistungen auf dem Platz werden schlechter, die Lücken auf den Rängen größer. Zur Saison 1971/72 beschränkt sich der Verein bei Neuverpflichtungen vornehmlich auf Kicker aus dem Amateurlager. Damit ist der BVB, wie Vereinshistoriker Dietrich Schulze-Marmeling schreibt, „praktisch von vornherein zum Abstieg verurteilt. Auch Trainer Witzler muss bereits vor dem Anpfiff des ersten Spiels Böses geahnt haben. Jedenfalls soll er dem Vorstand gegen die Zahlung von 50.000 Mark seinen freiwilligen Rücktritt angeboten haben.“
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Die Bayern verbuchen ein 2:0 und damit „einen verdienten Sieg auf dem von ihnen so sehr gefürchteten Betzenberg“, wie der „Kicker“ notiert. Die Fans der Roten Teufel hegen eine tiefe Antipathie gegen den FC Bayern; die Stimmungslage erinnert an das Revierderby. Beckenbauer sieht auf dem Betze „das Wildwest des deutschen Spitzenfußballs“, und „Bulle“ Roth erzählt später: „In Kaiserslautern spürte man den Hass. Wenn man da zu nah am Zaun stand, konnte es passieren, dass ein Zuschauer einen mit dem Schirm durch die Absperrung stach.“ Manchmal sei ihm „Angst und Bange“ geworden, „dass die einen abstechen“.
Diesmal sorgt Bayerns Manager Robert Schwan für Verärgerung in der Pfalz: Er erklärt vor dem Spiel, er werde den Anpfiff verhindern, „falls sich auch nur ein Zuschauer im Innenraum des Stadions befinden sollte“. So etwas mag man in der Pfalz nicht hören, doch Schwans Sorge ist unbegründet: Die Gastgeber zeigen sich versöhnlich, gratulieren dem Kaiser zu seinem 200. Bundesligaspiel mit einem Blumenstrauß, und auch die Zuschauer, so der „Kicker“, „schwenkten mit prasselndem Beifall auf diese Linie kavaliersmäßigen Verhaltens ein“.
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„Wenn sich die neuen Beschuldigungen als richtig erweisen sollten, dann kommt auf den deutschen Fußball eine Lawine an Schmutz und Unrat zu, die alles bisher Bekannte weit in den Schatten stellt.“ So finster kommentiert der „Kicker“ die Aussagen von Horst-Gregorio Canellas in seiner Berufungsverhandlung vor dem DFB-Bundesgericht. Canellas, der gegen seine lebenslange Sperre prozessiert, hat sich mittlerweile einen prominenten Rechtsbeistand geholt, den bekannten Anwalt Dr. Josef Augstein, älterer Bruder des „Spiegel“-Herausgebers. Den setzt das DFB-Gericht umgehend wieder vor die Tür: Nicht zugelassen, weil er keinem Fußballverein angehört. „Wenn das nicht schizophren ist, dann weiß ich nicht, was schizophren sein soll“, schreibt ungewohnt bissig der junge „WAZ“-Sportchef Hans-Josef Justen über den Rauswurf.
Verhandelt wird erneut über die Schlussphase der vorigen Saison, zunächst die Spiele von Eintracht Braunschweig. Deren Kapitän Lothar Ulsaß tauchte auf Canellas’ Tonbändern auf, weil er mit dem Kickers-Präsidenten über saftige Prämien verhandeln wollte, die ihn und seine Mitspieler zum Sieg gegen einen Abstiegskonkurrenten anspornen sollten. Rechtlich ist umstritten, ob eine Siegprämie von dritter Seite überhaupt verboten ist. Die Statuten sagen darüber nichts aus, die anwesenden DFB-Vertreter sprechen ein wenig ratlos von „äußerst unsportlich und bedenklich“. Ulsaß, der bereits vorläufig gesperrt ist, lässt sich die Steilvorlage nicht nehmen: „Wenn die Funktionäre schon nicht genau Bescheid wissen, dann sollen ausgerechnet wir Fußballer uns in den Paragraphen auskennen. Wir sollen die Satzung wohl unterm Strumpf als Schienbeinschoner tragen …“
Nicht ums Gewinnenwollen, sondern ums eindeutig illegale Gewinnenlassen geht es im Fall Hertha BSC gegen Arminia Bielefeld. Canellas will über Beweise verfügen, dass der Bielefelder Arminia-Funktionär Wilhelm Pieper, ein reicher Möbelfabrikant, mit 250.000 Mark in der Tasche nach Berlin gefahren sei, um damit einen Arminen-Sieg zu erkaufen. Hertha-Spieler Tasso Wild habe das Geld in Empfang genommen und an die gesamte Mannschaft verteilt. Natürlich gibt Pieper prompt sein „Ehrenwort“, dass dies alles „frei erfunden“ sei und „aus dem Land der Fabel“ stamme. Auch Herthas Torhüter Volkmar Groß versichert, er habe ein „reines Gewissen“: „Über die Behauptungen des Herrn Augstein lache ich.“ Und sein Verein kündigt an, man werde eine einstweilige Verfügung gegen diese Vorwürfe erwirken. Die waren seinerzeit schon während des Spiels aufgekommen. Angesichts der elenden Vorstellung der Hertha-Kicker, so berichtet die „WAZ“, „brüllte das maßlos enttäuschte Publikum seinen Kommentar auf den Rasen: ‚Schiebung, Schiebun g.‘“
Das Berufungsgericht jedoch gibt sich großzügig und verkürzt für die bisher verurteilten Spieler die Sperren, nur bei Manfred Manglitz bleibt es beim Lizenzentzug auf Lebenszeit. Das gilt auch für Canellas, obwohl mittlerweile bewiesen ist, dass er den DFB frühzeitig von seinen Recherchen unterrichtet hat. Das DFB-Bundesgericht räumt dies in seinem Urteil auch ein, hält diese Unterrichtung jedoch für formal unzureichend und nennt dafür absurde Kriterien. Die Absicht ist klar: den DFB aus der Schusslinie zu nehmen und Canellas als Nestbeschmutzer zu brandmarken. Der sieht sich auch vom eigenen Verein verraten, denn von seinen ehemaligen Vorstandskollegen ist niemand gekommen, um ihm vor Gericht beizustehen. „Nun bekomme ich auch noch Backpfeifen aus den eigenen Reihen. Man hat sich von mir distanzier t“, resümiert er düster.
Sein Rechtsanwalt Josef Augstein fährt schweres Geschütz auf: Sollte Canellas nicht vom DFB rehabilitiert werden, werde er die staatliche Justiz bemühen, und zwar quer durch alle Instanzen. „Ich werde Herrn Canellas empfehlen, in diesem Fall sein gesamtes Material der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Sie soll dann über ihn urteilen. Ich bin sicher, sie wird zu der Erkenntnis kommen, dass Canellas richtig gehandelt hat, dass er nur eine Eiterbeule aufstechen und den Beweis antreten wollte, wie der Meisterschaftsausgang der Bundesliga manipuliert worden ist.“
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Im Europapokal der Pokalsieger müssen die Bayern in der ersten Runde Richtung Ostblock reisen, zu Skoda Pilsen. Die Hürde wird mit zwei Siegen glatt genommen, aber auswärts bei Skoda blamieren sich die Bayern dennoch kräftig. Rund tausend DDR-Fans sind nach Pilsen gekommen, um ihre West-Helden zu sehen, doch was sie geboten bekommen, ist eine lustlose, schwache Darbietung, die sie mit lauten „Aufhören!“-Rufen quittieren. Der dürftige 1:0-Sieg der Bayern ist völlig unverdient.
Nachhaltiger als dieses Spiel bleibt der politische Disput in Erinnerung, den Bayerns erzkonservativer Vereinspräsident Wilhelm Neudecker und sein linker Verteidiger Breitner auf der Fahrt durch die realsozialistische Tschechoslowakei ausfechten. Er endet damit, dass ein erzürnter Neudecker Breitner vorwirft, er gebe sich zwar sozialistisch, verdiene aber „mehr wie zehn Arbeiter zusammen“. Und überhaupt solle er gefälligst aus dem Mannschaftsbus aussteigen und in den Sozialismus übersiedeln. Was Breitner dann lieber doch nicht tut.
Neudecker ist einer jener Selfmade-Männer, die es in der Nachkriegszeit nach oben schafften. Der gelernte Maurer war 1933 kurzzeitig SS-Anwärter, wurde bei der Entnazifizierung jedoch als Mitläufer eingestuft. Ehrgeizigen Menschen wie ihm, ausgestattet mit einem sturen Willen zum Erfolg, bot die kriegszerstörte Stadt München mannigfaltige Möglichkeiten. Er begann mit minimalem Kapital, kaufte Grundstück um Grundstück und setzte Häuser darauf. Als er 1962 Präsident der Bayern wird, ist er Millionär und besitzt Dutzende von Mietwohnungen. Sparsam bleibt er, als Vereinspräsident wie als Privatmann, doch Maßanzug und barocke Möbel künden von seinem Wohlstand. Sein gediegen ausgestattetes Büro am Goetheplatz avanciert zur geheimen Kommandozentrale des Vereins.
Neudecker, der „Alleinherrscher, der keinen Widerspruch duldet“ (Sepp Maier), regiert als konservativer und autoritärer Knochen. Dennoch verkörpert er in der Fußballbranche so etwas wie Modernität, weil er seinen Verein wirtschaftlich wie ein Unternehmen führt und dafür einen Manager einstellt – im deutschen Fußball ein Novum. Für sportliche Romantik fehlt ihm der Sinn, er schaut vor allem auf die Bilanzen.
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Zwei kulturelle Ereignisse im September bleiben von den Medien weitgehend unbeachtet. Im Eifelstädtchen Monschau lässt Verpackungskünstler Christo die Ruinen einer Burg aus dem zwölften Jahrhundert mithilfe von 6.000 Quadratmetern Polypropylen-Gewebe und 3.100 Metern Seil verhüllen. Der Maestro selbst ist beim „CHRISTOprojekt mon SCHAU“ nicht zugegen, weil er an einer Verpackung in Colorado bastelt. Vielleicht steckt ihm auch noch ein früherer Deutschlan dbesuch im Sakko, bei der Kasseler documenta drei Jahre zuvor. Da wurde er aus seinem Hotel verwiesen, weil sich andere Gäste über seine langen Haare beschwert hatten.
Für die Aktion in Monschau liefert Christo also die Skizzen, und die handwerkliche Umsetzung besorgt der örtliche Dachdecker. Der Regierungspräsident von Aachen will „unter allen Umständen verhüten“, dass die 30.000 Mark teure Aktion aus öffentlichen Mitteln gefördert wird: „Was Christo unternimmt, hat mit Kunst nichts zu tun.“ NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn sorgt dafür, dass dann doch einige Gelder fließen, der Rest wird von einem Förderkreis durch den Verkauf signierter Postkarten und Plakate zusammengekratzt. Das Kunstwerk bleibt unvollständig, weil ein Schuhgeschäft sich weigert, miteinbezogen zu werden; man fürchtet, Kunden zu verlieren. Christos Idee, „Schönes durch Verpackung wieder sichtbar zu machen“, stößt bei vielen Monschauern auf keine Gegenliebe. „Wenn dat Kunst ist, bin ich jeck“, empört sich eine Bürgerin in den örtlichen Medien. Dafür verschwinden nächtens Hunderte Meter Seil, vermutlich für profane Gebrauchszwecke.
Ungefähr zur gleichen Zeit bringen Ton Steine Scherben ihre erste Langspielplatte heraus, „Warum geht es mir so dreckig“. Rios Bruder Gert entwirft das Cover: brauner Pappkarton, darauf in groben Lettern der Name der Gruppe, ihre Telefonnummer und der Titel. Die Rückseite bleibt leer. Produktion und Vertrieb organisieren sie selbst und gründen dafür die Firma „David Volksmund Produktion“; das Logo zeigt eine Hand mit einer Steinschleuder.
Eine Seite der Platte enthält Aufnahmen aus verschiedenen Studiosessions. Weil sie mit der Qualität der übrigen Studiostücke nicht zufrieden sind, verwenden die Scherben für die Rückseite Ausschnitte aus ihrem Auftritt in der TU-Mensa, bei dem sie im Juni zur Hausbesetzung aufgerufen haben.
Zum bekanntesten Song der Platte wird „Macht kapu tt, was euch kaputt macht“. In wildem Stakkato und kurzen Wortfetzen beschreibt Rio darin das Elend seiner kapitalistischen Umwelt: „Züge rollen / Dollars rollen / Maschinen laufen / Menschen schuften / Fabriken bauen / Motoren bauen / Kanonen bauen“, um dann zu fragen: „Für wen?“ Es folgt die eindeutige Aufforderung: „Macht kapu tt, was euch kaputt macht.“
Um Rios Sprech- oder vielmehr Schreigesang musikalisch einzubinden, unterlegen sie ihn mit einem rockigen Riff in Endlosschleife: a-e-es-h-d-c. Der hämmernde Sound wirkt mitreißend, aufrührerisch und potenziert den fordernden Klang des Gesangs. „Macht kaputt“, zunächst als Single veröffentlicht, bleibt bei Live-Auftritten einer der populärsten und wirkungsmächtigsten Songs der Scherben. Bei jedem zehnten der rund hundert Konzerte in den Jahren 1971/72 bildet er die Begleitmusik für anschließende Hausbesetzungen und andere militante Aktionen. „Wir waren Zauberlehrlinge und wussten es nicht“, schreibt Rio dazu in seiner Autobiografie. „Wir hatten, ohne danach zu suchen, eine Formel gefunden, um die Götter der Zerstörung herbeizurufen.“
Irgendwann werden die Scherben den Song aus ihrem Repertoire streichen, weil sein destruktives Potenzial ihnen zu bedrohlich erscheint.
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Von Christo oder den Scherben ist in den feingeistigen Feuilletons von „FAZ“ und „Zeit“ in diesen Tagen nicht viel zu lesen, dafür dies: Der Schriftsteller Heinrich Böll, seit 1970 Vorsitzender der westdeutschen Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum, ist nun auch zum Präsidenten des internationalen PEN-Zentrums gewählt worden. Bei der Wahl wird seine Mittlerrolle zwischen Ost und West hervorgehoben.
Kürzlich ist Bölls neuer Roman erschienen, „Gruppenbild mit Dame“. Darin schildert er das Schicksal einer Frau in Zeiten von NS-Herrschaft, Krieg und Nachkriegswirren, einer Überlebenskämpferin also, „die die ganze Last dieser Geschichte zwischen 1922 und 1970 mit und auf sich genommen hat“ (Böll). Leni, die Protagonistin, heiratet als Teenager einen Soldaten, der kurz darauf an der Front stirbt; ein schöner, sportlicher Junge, in dessen Nachlass sich „eine Belobigung des Fußballclubs Lyssemich“ findet. Das ist es auch schon mit Fußball in dem Buch, viel mehr geht es um Lenis aufrechten Gang und um die Anfeindungen, die sie erleiden muss, als sie sich in einen russischen Kriegsgefangenen und viel später in einen türkischstämmigen Arbeiter verliebt.
In einem Brief an den Schriftsteller nennt Bundeskanzler Willy Brandt den Roman ein „großes menschliches Dokument“. Die Rezensenten urteilen unterschiedlich, Marcel Reich-Ranicki zürnt: „Noch nie hat ein deutscher Klassiker so schlampig geschrieben.“ Der Kritiker der „Times“ dagegen meint: „It is a Nobel Prize novel if ever I saw one.“ Tatsächlich gibt das Buch den Ausschlag dafür, dass Böll ein Jahr später den Literaturnobelpreis erhält.
„Gruppenbild mit Dame“ ist nicht eben ein Pageturner, dennoch findet das Werk ein großes Publikum. Im Herbst 1971 steht es sieben Wochen lang auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste. Mit diesem Erfolg wächst die Prominenz des Autors erheblich, was ihm im rauen politischen Klima der kommenden Monate noch zu schaffen machen wird.
Seelenlose Millionenelf
Bundesliga, 7. Spieltag +++ 18. September 1971
Bayern-Trainer Udo Lattek will schon nach sieben Spielen resignieren: „Wir sind müde, bei uns ist der Dampf raus.“ Gerade hat man zu Hause gegen Arminia Bielefeld nur ein lausiges 1:1 erstochert und muss froh sein, dass Gerd Müller überhaupt die Bielefelder Führung egalisieren kann. Auch mit dem mauen Besuch – 21.000 Zuschauer – ist man unzufrieden. Bayern-Präsident Neudecker glaubt, dass zu viele Menschen am Samstagnachmittag Besseres zu tun habe n, und schlägt, ganz kommerziell getriebener Visionär, eine Aufsplittung der Spieltage vor: Abendspiele am Montag, Donnerstag und Freitag.
Bei Hannover 96 regiert erst recht der Frust. Nachdem der Tabellenletzte zu Hause gegen den 1. FC Kaiserslautern 1:2 verloren hat, proben die Spieler den Aufstand gegen Trainer Helmut Johannsen. Sie werfen ihm mangelndes pädagogisches Geschick und schlechte Kommunikation vor. Als einer von ihnen, Horst Berg, während des Spiels ausgewechselt werden soll, weigert er sich, den Platz zu verlassen, und reißt sich wütend das Trikot vom Leib. Seine Mitspieler überreden ihn mühsam, doch er bleibt auch nach dem Spiel aufgebracht: „Sie können mir sofort die Papiere geben, unter diesem Trainer arbeite ich nicht mehr.“ Die Zuschauer halten zum Spieler und beschimpfen Johannsen; manche wollen ihm an den Kragen gehen. Er flüchtet durch einen Seiteneingang aus dem Niedersachsenstadion.
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Schalke dagegen triumphiert mit einem 2:0 über Werder Bremen und zeigt dabei laut „Kicker“ sein „bestes und reifstes Spiel in dieser Saison“: „Technik, Kampf und Schnelligkeit – gespickt mit herrlichen Torschüssen –, das war ein Leckerbissen.“ Den zweiten Treffer erzielt Rolf Rüssmann per elegantem Seitfallvolley; damit wird er in der ARD-„Sportscha u“ zum Nachfolger seines Mannschaftskollegen Libuda beim „Tor des Monats“ gewählt. Der Stan steht in Bremen nicht auf dem Platz; ein Grund dafür wird nicht genannt.
Die teure Bremer Offensivabteilung mit Werner Görts (seit Langem an der Weser), Herbert Laumen (gerade aus Gladbach geholt) und Willi Neuberger (gerade vom BVB geholt) hat keinerlei Mittel gegen die starke Schalker Defensive gefunden. Nur der 36-jährige Haudegen „Pico“ Schütz ragt aus der restlos enttäuschenden Elf heraus, während Görts und Laumen zwar an den Flügeln rackern sollen, aber lieber die Mitte bespielen.
Schon früh zeichnet sich damit ab, dass sich die Großinvestitionen der Bremer nicht so auszahlen wie erhofft. Werder-Präsident Franz Böhmert hat seinen Verein als Repräsentanten der Stadt ausstaffiert. Statt der traditionellen grünen Trikots trägt man gestreifte in den Stadtfarben Rot-Weiß, statt des „W“ auf der Brust sieht man dort den Stadtwappen-Schlüssel, und auf dem Rücken steht statt „Werder“ nur noch „Bremen“. Mit dieser Imagekampagne sichert Böhmert seinem Verein finanzielle Wohltaten der örtlichen Geschäftswelt sowie die Unterstützung der Stadt, die 230.000 Mark Steuerschulden erlässt. Plötzlich hält man Geld in den Händen und geht damit auf Einkaufstour bei der Konkurrenz. Selbst Günter Netzer liebäugelt eine Weile mit dem Wechsel an die Weser. Der Transfer scheitert daran, dass er in Bremen nicht – wie in Gladbach – die Stadionzeitung vermarkten darf. Werder-Trainer Zapf Gebhard ist darüber eher erfreut, denn: „Der hat mir zu lange Haare, den kann ich nicht ausstehen.“
Weil aber nicht nur der aus Berlin eingekaufte Jürgen Weber weiß: „So gut wie Werder zahlt kein Klub in Deutschland“, kommen noch genügend Stars zusammen. Unter ihnen hebt nun, wie Pico Schütz später berichtet, „ein Hauen und Stechen“ an: um Einsätze, um die erwünschte Position auf dem Platz, um die obersten Plätze in der Hierarchie. Eine Mannschaft ist es nicht, die gegen Schalke so klanglos verliert, sondern eine seelenlose „Millionenelf“. Wenig später, Ende September nach einer 2:3-Heimniederlage gegen den VfB Stuttgart, wird Zapf Gebhardt als Trainer entlassen.
Vorübergehend springt Werders Meistertrainer von 1965 ein, „Fischken“ Multhaup, der sich eigentlich schon im Ruhestand befindet und beteuert, er wolle „nicht bis an die Friedhofsmauer trainieren“. Als „unbezahlter Freund des Vereins“ (Multhaup über Multhaup) überbrückt er die Wochen, bis der erst 31-jährige Sepp Piontek kommt. Der ehemalige Nationalverteidiger, der zwölf Jahre lang für Werders Erste gekickt hat, wechselt nun fast nahtlos vom Rasen auf die Trainerbank, geht zuweilen schon dem erfahrenen Multhaup als Assistent zur Hand, bezieht sein Gehalt allerdings weiterhin noch als Lizenzspieler. Ähnlich wie sein Düsseldorfer Kollege Lucas bevorzugt Piontek einen kommunikativen Führungsstil: „Ich bin davon überzeugt, dass der Typ des Feldwebels auf dem Trainingsplatz überholt ist. Ich wollte früher selbst angesprochen werden, als selbstständig denkender Mensch behandelt werden. Und entsprechend handhabe ich es jetzt auch: Wir diskutieren, ich nehme Anregungen entgegen.“ Er will mehr Demokratie wagen, sozusagen.
„Sie Drecksau“
Bundesliga, 8. Spieltag +++ 24./25. September 1971
In München wird Willy Brandt am 24. September auf offener Straße von einem jungen Mann attackiert. Der schlägt dem Kanzler ins Gesicht und ruft dabei: „Das ist für die Ostpolitik !“, nach anderer Version: „Das ist für den Verrat Deutschlands an Moskau !“ Es stellt sich heraus, dass es sich um einen 22-jährigen Taxifahrer und Studenten mit rechtsradikalem Hintergrund handelt. Er war als Fluchthelfer in der DDR inhaftiert und vom Westen „freigekauft“ worden. 1970 hat er auf der NPD-Liste für den Bayerischen Landtag kandidiert. In dem Zimmer, das er bewohnt, findet die Polizei ein Hitler-Bild an der Wand und „Mein Kampf“ auf dem Bücherbord. Willy Brandt verzichtet darauf, den Mann anzuzeigen (er wird später zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt). Die bayerische SPD sieht die Tat als „Ergebnis nationalistischer Hetze“ und „hemmungsloser Anheizung nationalistischer Gefühle“ auch durch CDU und CSU, ähnlich argumentieren einige liberale Zeitungskommentatoren.
Neben einer Demokratisierung der Gesellschaft ist die Ostpolitik das zweite zentrale Projekt von Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel. Durch Gesten und Abkommen wollen sie die Narben des Weltkriegs und des Nazi-Terrors heilen, den aktuellen Kalten Krieg überwinden und zwischen dem realsozialistischen Osteuropa sowie dem kapitalistischen Westen eine Verständigung voranbringen. Auch der „Eiserne Vorhang“, der die DDR von der BRD abschottet, soll durch Entspannungspolitik und diplomatische Normalisierung durchlässiger werden. Unumstritten ist das keineswegs, CDU und CSU opponieren, die Vertriebenenverbände schäumen. Dem einstigen Exilanten Brandt wird Verrat der deutschen Interessen vorgeworfen, weil er mit der Oder-Neiße-Grenze, der Westgrenze Polens, eine Nachkriegsrealität anerkannt und vertraglich darauf verzichtet hat, die staatlichen Grenzen in Osteuropa gewaltsam zu verändern. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß sieht darin eine „freiwillige Kapitulation Deutschlands“. Auf einer Kundgebung der Vertriebenen wird skandiert: „Fegt ihn weg, den roten Dreck!“ Mitglieder der NPD schreien sogar: „Scheel und Brandt – an die Wand!“ Eine andere Mordphantasie zeigt ein Transparent des rechten Netzwerks „Aktion Widerstand“, das auch im Ausland große Beachtung findet. Es zeigt einen Galgen und trägt die Aufschrift: „Hängt die Verräter!“ Gemeint sind erneut Brandt und Scheel.
In den Augen rechtskonservativer wie auch brauner Geister ist Deutschland nicht zweigeteilt in BRD und DDR, sondern dreigeteilt: Einige Landstriche Polens sowie Ostpreußen warten seit Kriegsende darauf, wieder heim ins Reich geholt zu werden. Die DDR ist in dieser Sichtweise geografisch nicht Ost-, sondern Mitteldeutschland. An nicht wenigen Landstraßen stehen noch immer zerschrammte Schilder in den Kaiserreich- und Nazifarben Schwarz-Weiß-Rot. Auf ihnen ist ein zerspaltenes Deutsches Reich in den Staatsgrenzen von 1937 zu sehen, also aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Daneben steht ein zorniges: „Dreigeteilt? Niemals!“
Auch die ARD-Wetterfrösche zeigen die Vorhersage für Deutschland auf einer Karte von der Maas bis an die Memel. Bis 1970 sind darin noch die deutschen Staatsgrenzen verzeichnet, auch hier in der großdeutschen Version anno 1937. Sogar in den Schulkarten firmieren große Teile Polens noch unter „Deutsches Reich“ mit dem Vermerk: „Derzeit unter polnischer Verwaltung.“ Und die DDR wird dort noch immer „Sowjetisch besetzte Zone“ (SBZ) genannt. Ähnlich sieht man es in manchen Zeitungen. Konservative Blätter setzen ein „sog.“ vor die DDR oder flankieren sie mit Gänse füßchen. Erst im Juli 1971 hat die Bundesregierung – gegen den Protest aus CDU/CSU – festgelegt, dass die offizielle Bezeichnung weder SBZ noch die Anführungszeichen seien, sondern schlicht: DDR.
Es ist ein Konflikt, der auch Familien spaltet, vor allem, wenn sie aus ehemaligen deutschen Ostgebieten stammen. Wolfgang Weber, Kölns Nationalverteidiger, wurde in Hinterpommern geboren, früher Deutsches Reich, heute Polen, und seine Eltern hoffen noch immer, dorthin zurückkehren zu können. Doch Weber weiß: „Mir war schon als Jugendlichem völlig klar, dass dies nicht ohne einen neuen Krieg gehen könnte. Deshalb war Willy Brandt für mich ein Held, während er für meine Eltern der Verräter war.“
Im Fußball ist im Übrigen von einer innigen Verbundenheit mit dem verlorenen Rest des Deutschen Reiches nicht viel zu spüren. Die DDR-Oberliga stößt im Westen weitgehend auf Desinteresse; auf den Sportseiten der bundesdeutschen Tageszeitungen wird fast nichts berichtet und selbst in der Fachzeitung „Kicker“ ziemlich wenig. Immerhin ohne Gänsefüßchen.
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Bei Fortuna Düsseldorf gewinnen die Schalker mit 2:0. Trotzdem sind sie sauer: auf Schiedsrichter Walter Eschweiler. Der hat nach einem Zweikampf zwischen Geye und Rüssmann in der 80. Minute auf Elfmeter entschieden. Wütend bedrängen ihn die Schalker Spieler, allen voran Rüssmann, der sich unschuldig fühlt und schreit: „Das können Sie doch nicht pfeifen, Sie Drecksau.“ Rote Karte (und vier Spiele Sperre), trotz der vornehmen Anrede „Sie“. Rüssmann setzt sich auf die Bank und vergräbt weinend sein Gesicht im Anorak. Sogar sein Gegenspieler Reiner Geye protestiert gegen die Entscheidung. Umsonst, aber dafür pariert Nigbur den Elfer. Später wird Rüssmann vermuten, Zuschauer, die auf den Platz gelaufen seien, hätten die Beleidigungen gerufen. Der Abwehrrecke mit den Bügeleisenfüßen gilt ansonsten nicht als Raubein. Gerd Müller schätzt ihn sogar als liebsten Gegenspieler, denn: „Der hat sich immer schon vor dem Foul entschuldigt.“
Nach dem Spiel in Düsseldorf gibt’s keine Entschuldigungen, vielmehr schimpft Schalkes Trainer Horvat auf der Pressekonferenz: „Wenn mir das passiert wäre, ich hätte den Schiedsrichter heute k. o. geschlagen. So einen Elfmeter habe ich noch nie erlebt.“ Den irritierten Journalisten trägt er auf, seine Worte genau so aufzuschreiben. Schließlich: „In Deutschland ist Demokratie. Da kann man alles sagen.“ Präsident Siebert legt nach: „Dieser Mann pfeift nie mehr ein Spiel von Schalke, dafür werde ich sorgen.“ Wie gesagt: Schalker Bosse und starke Sprüche … Horvat kostet die dicke Hose allerdings 2.000 Mark Strafe.
Libuda steht erneut nicht im Kader, laut Verein hat er sich krankgemeldet. Was ihm fehlt, wird nicht bekannt, Präsident Siebert meint ratlos: „Der Junge ist ein Rätsel geworden.“ Die Vereinsärzte kümmern sich intensiv um „die Mimose vom Schalker Markt“ („WAZ“). Um die üblichen Sportmaleschen geht es dabei nicht, denn sie beteuern: „Verletzungsanfällig ist er weniger.“ Doch was ist es dann? Auf der Suche nach einer schlüssigen Diagnose schickt man ihn zum Internisten, zum Zahnarzt und sogar ins Krankenhaus, doch auch die Untersuchung dort bleibt ergebnislos. Offiziell wird eine Muskelzerrung genannt, doch der Patient selbst durchkreuzt die Sprachregelung: Das sei längst ausgeheilt, weshalb er höchst verärgert sei über seine Nich t-nominierung. „Bild“ fragt vielsagend: „Ist Libuda verletzt oder hat er Sorgen mit seiner Familie?“ Darüber werde auf Schalke „hinter der vorgehaltenen Hand geflüstert“. Der Stan wehrt sich: „Das ist eine Unverschämtheit, wie sich die Leute darüber das Maul zerreißen. Mir hat man sogar auf den Kopf zugesagt: Meine Frau sei mit 30.000 Mark durchgegangen. Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe. Meine Frau ist zu Hause. Sie sitzt neben mir.“
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Im September feiert in Westberlin ein heiß diskutierter Film Premiere: „Paragraph 218 – Wir haben abgetrieben, Herr Staatsanwalt.“ Mit dem Paragrafen 218 wird „eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet oder die Abtötung durch einen anderen zulässt“, mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Das strikte Verbot veranlasst viele schwangere Frauen, die ihr Kind beispielsweise in einer sozialen Notlage nicht austragen wollen, zu einer illegalen Abtreibung. Auf fast eine halbe Million schätzt man deren Zahl für die Bundesrepublik, jährlich. Der heimliche Eingriff führt nicht selten zu schweren gesundheitlichen Schäden. Der Film thematisiert diese schattenhafte Abtreibungspraxis in Deutschland; laut Werbung zeigt er, „was Frauen heute noch verschweigen müssen“. Weil der Streifen auch ausgiebig dokumentiert, wie es zu einer Schwangerschaft kommt, werfen ihm Kritiker vor, er spekuliere „auf den Voyeurismus verklemmter Zuschauer“. Der Regisseur des Films hat im Juni 1971 schon den als „Aufklärungsfilm“ verbrämten Softporno „Hausfrauenreport“ gedreht und darin einige Schauspieler/innen eingesetzt, die auch in „218“ vor der Kamera liegen. Die pornografischen Anklänge nutzen nichts, nach zwei Wochen mageren Zuschauerzuspruchs wird der Streifen abgesetzt.
Dabei ist die (seriöse) Bewegung der Frauen stark: Immer mehr haben in den vergangenen Monaten gefordert, den Paragraf 218 abzuschaffen und Schwangeren das Recht zu geben, selbst zu entscheiden, ob sie ein Kind wollen. Im April 1971 bezichtigen sich in Frankreich 343 Französinnen, darunter Simone de Beauvoir und Jeanne Moreau, schon selbst abgetrieben zu haben. Die Aktion wird von der Feministin Alice Schwarzer aufgegriffen. Sie findet in der Bundesrepublik 374 Frauen, die zur Selbstbezichtigung bereit sind. Am 6. Juni 1971 veröffentlicht der „stern“ die Namen dieser Frauen und setzt die prominentesten von ihnen auf die Titelseite, unter anderem Senta Berger, Romy Schneider, Veruschka von Lehndorff, Carola Stern. Ende Oktober wird das Bundesjustizministerium den Plan für eine Lockerung des Paragrafen 218 vorlegen.