Читать книгу Franz Kafka - Bernd Oei - Страница 5
Оглавление1 Prolog
Ungeduld erschien ihm als größtes aller Laster und so erklärte er sein Zögern zu einer Tugend. Ihn verstehen zu wollen, hieße ihn vom Ende her denken zu können. „Was zuerst in Erinnerung kommt, wenn man darüber nachdenkt, was für Geschichten Kafka eigentlich erzählt, sind Geschichten vom Ende. Es ist der Untergang einer Welt, der da erzählt wird, das Verslöschen und Verschwinden des Menschlichen.“1
Über Kafka ein Buch zu schreiben, scheint vermessen oder trivial; denn alles über ihn erscheint bereits gesagt. Die Motivation, es dennoch zu wagen, erfolgte aus drei Gründen: erstens gehört er in die Reihe der „Grenzgänger“ – sowohl aufgrund der selbstzerstörerischen Leidenschaft für das Schreiben und der Unmöglichkeit, einer bestimmten Epoche oder Weltanschauung zuzuordnen, als auch aufgrund seiner Vorliebe zu anderen Grenzgängern Kierkegaard, Nietzsche, Kleist, Dostojewski und Flaubert. Zweitens wird in folgender Monografie das Leben nicht als bestimmendes, sondern ergänzendes Erklärungsmodell herangezogen. Drittens spiegelt das Buch Kafka philosophische Reflexionen und philosophische Kommentare über den Autoren. Dabei tritt das Zusammenspiel von Form und Inhalt hervor.
Vieles von ihm blieb Bruchstück und als Fragment erscheint nicht nur sein Leben, sondern die durch den Weltkrieg auseinanderfallende Epoche. Da Kafka keine für ihn tauglichen Vorbilder findet, schafft er sich auf künstlerische Weise eine eigene Sprache und damit Identität; er erfindet sich selbst. Reale Welt des Lebens und ideale Welt des Schreibens interagieren in Kafkas Fall wie Traum und Erwachen.
Um die Jahrhundertwende bietet Prag ein einzigartiges Kaleidoskop diverser Ethnien und poetischen Nährboden. Zum Prager Kreis gehören so unvereinbare Poeten wie Rilke, Werfel, Winder, Meyerink, Kisch, Weiß. Brod und Janowitz. Symptomatisch für sein unstetes Wesen ist, dass es Kafka meist nur zu Kuraufenthalten verlässt und dabei neunmal innerhalb meist desselben Stadtviertels seine Wohnung wechselt.
Bezeichnend erscheint auch der Tod Kafkas: erstens aufgrund seiner Krankheit in Unfähigkeit, sich zu artikulieren, zweitens außerhalb Prags. Kurt Krolop hält fest, dass er nach eignen Erfahrungen bei Kriegsende als Deutscher in der Tschechoslowakei seiner Ausweisung, hätte man ihn gefragt, sofort zugestimmt hätte, weil ihm eine eigene Identität, ein halbwegs eigenständiges, selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich schien.2
Erst mit 30 Jahren bekennt er sich zu seinem künstlerischen Schaffen, dennoch bleibt Kafka übermäßig von Familie und seinen von Bindungsängsten geprägten Beziehungen zu Frauen geprägt. Der Wunsch nach einer Verwandlung und der Zwang, zu beobachten oder die eigene Handlungsweise zu rechtfertigen, stehen auch literarisch im Vordergrund.
Das erste Kapitel beleuchtet perspektivisch das enigmatische Werk, teilweise aus analytischer Außenperspektive und partiell aus poetischer Introspektion. Die an seinen Tagebüchern orientierten Abschnitte zollen Kafkas Umfeld und seiner von Angst und Zögern geprägten Empfindungen Tribut.
Im zweiten Teil der Studie rückt der Einfluss der von Kafka rezipierten Autoren in den Fokus. Dies stiftet Vergleichsmöglichkeiten zur zeitgenössischen Literatur und vier, von Kafka selbst hervorgehobenen, Einflussquellen und Lesegewohnhei-ten. Wer Kafkas Schriften wenig kennt, wird sich vielleicht verloren fühlen oder aber Anreiz finden, sie (neu) kennenzulernen. Um es mit Susan Sontag zu formulieren: Kafka erzeugt eine „Sackgasse des Glücks.“ Sich selbst finden heißt auch immer gegen sich denken zu lernen. Schreiben wohnt die Doppelexistenz des Konstruierens und Destruierens inne.
Die anschließende Komparatistik mit Walser, Weiß und Werfel dokumentiert, dass Entfremdung, Identitätskrise und Gewalt die Epoche prägende Leitmotive für die Kunst sind, aber auch, welche disparaten Formen der Kritik, Ablösung aus den Ruinen des Denkens und Erneuerung – von Robert Musil als „das tausendjährige Reich“ bezeichnet des dafür vorliegen.
Wie alle „Grenzgänger“ beschäftigt sich auch Kafka mit Philosophie als existenzielle Fragekunst und wird gleichsam von Philosophen als Beispiel für eine literarische Form der Daseins-bewältigung angeführt. Diesen Umstand trägt der vierte Ab-schnitt Rechnung, der die poetischen Wurzeln Kafkas zum Gegenstand hat. Dabei kommt der von Kleist thematisierten Ver-störung und Geschlechterkampf eine bedeutsame Rolle zu. Kierkegaards Entweder Oder - Haltung steht am Beginn einer sich von systemischem Denken ablösenden und die Spannung zwischen Ästhetik, Ethik und Religion zum Mittelpunkt des individuellen Daseinsentwurfes erhebenden Denkart. Nietzsche als Meister der Metabole, der Paradoxie und der ewigen Wiederkehr des Zweifels liefert Nährboden für Kafkas Parabeln.
Im fünften Abschnitt gewähren Stimmen von Philosophen eine Synopsis über die Vieldeutigkeit Kafkas in Abhängigkeit einer gewählten Leseperspektive und Methodik. So vergleicht der Strukturalist Roland Barthes Kafka mit Flaubert, einem seiner Vorbilder aufgrund ihrer Relation von Ordnung und Chaos und den von ihnen betriebenen physischen Aufwand des Schreibens: „Für den, der sich bemüht, seinem Inneren Ausdruck zu verschaffen, ist Kunst nicht etwas Geisteswissenschaftliches, sondern etwas Körperliches wie der Fingerabdruck.“3
Das Kapitel sechs untersucht die drei Romane Kafkas et, um neben einer Sprachanalyse gesondert die Aspekte Erotik, Religion, Sozialkritik, Psychologie und Philosophie zu eruieren und eine textnahe Exegetik vorzunehmen.
Das siebte Kapitel verfährt nach gleichem hermeneutischem Muster mit fünf ausgewählten Erzählungen mit repräsentativen Charakter unter mindestens vier Perspektiven.
Es wäre ein weiterer Mythos zu behaupten, Kafka als nicht wahrgenommenes Genie zu stilisieren. Er wurde bereits zu Lebzeiten veröffentlicht und übersetzt, erhielt einen kleinen Literaturpreis, Einladungen zu Lesungen und besaß als in Prag einen Kreis Bewunderer. So notiert der gleichfalls in Prag aufgewachsene Rainer Maria Rilke: „Ich habe nie eine Zeile von diesem Autor gelesen, die nicht auf das eigentümlichste mich angehend oder erstaunend gewesen wäre.“4
Einige wie Tucholsky erkennen früh seinen Genius, dennoch steht er im Schatten anderer, deren Namen heute häufig vergessen sind. Kafka ist im nietzscheanischen Wortsinn ein „Unzeitgemäßer“. Sein Begriff „Pathos der Distanz“ trifft dessen Einsamkeit und Fremdheit in der Welt. Im Zeitalter unmittelbar von und nach dem Ersten Weltkrieg erweisen sich Menschen zunehmend unfähig und unwillig, sich auf intime Beziehungen einzulassen. Nietzsche nennt es die höchste Aufgabe der Kunst, den Menschen von seiner Scham zu erlösen, und dies trifft in besonderem Maße auf Kafka zu. Leben und Werk sind vielleicht nicht trennbar, doch das eine monokausal auf das andere zurückzuführen oder zu deuten, wird der Kunst nicht gerecht. Den Abschluss bildet der Epilog mit dem Erkenntniswert Kafkas, der selbst nicht erkannt sein wollte