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1 II. Tagebücher

1 II. 1. Selbstinterpretation

Kafka schreibt an Ernst Rowohlt, August 1912, dass selbst bei größter Übung und Sorgfalt, das Schlechte an seinem Schreiben nicht unmittelbar auffällt, aber nur auf dem ersten Blick sich der Kritik entziehe. Zweifellos hat er von den wenigsten seiner Versuche etwas gehalten. „Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, daß jeder auf ganz besonderer Weise sein Schlechtes verdeckt.“42

Da Kafka auch festhält, dass sein Verlangen nach tieferem Schlaf einem metaphysischen Todesbedürfnis entspricht, sind seine Geschichten immer auch vom Aspekt der Erlösung des Eros vom Thanatos her zu betrachten. Sätze wie: „Bin ich als große Masse in meinen schmalen Wegen endgültig festgerannt?“ künden von seiner panischen Furcht vor der Antriebslosigkeit: „schreckliche Ruhe stört nur die Erfindungskraft … Ich werde schwer aufzuschütteln sein und bin doch unruhig.“ Andererseits leidet der Autor unter Geräuschen.

Es überrascht daher wenig, dass Kafkas Geschichten immer Verwandlungen sind, sie stürzen von einem Bild ins nächste, lassen kaum Spielraum für eine klare intellektuelle Positionierung. Die Metaphern bewegen sich, um mit Rilkes erster Elegie zu sprechen wie „Dinge, seltsam sie lose zu sehen, so flatternd im Raum.“ Mögen sich beide Schriftsteller stilistisch auch noch so widersprechen, so umkreisen sie doch beide das Phänomen der Ordnung des Seins ebenso wie das der gewohnten Sprache, die mehr verdeckt als sie enthüllt.

Kafka will keine Eindeutigkeit, er verwahrt sich gegen eine Auslegung, zumindest in der Prosa, gegen ein endgültiges Urteil. Sein Zögern ist charakteristisch für die eigene Existenz. Am 25. September 1912 gibt er an, vom Schreiben sich mit Gewalt zurückgehalten und sich ununterbrochen im Bett gewälzt zu haben. Es erscheint daher keineswegs zufällig, dass er seine erste Eigeninterpretation in direktem Zusammenhang mit „Das Urteil“ vornimmt. „Nichts kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“43

Er gesteht sich Gedanken an Freud ein hinsichtlich des männlichen Ödipuskomplexes. Er sagt, dass er sich vom Schreiben mit Gewalt zurückhalte, aus Angst, das könne eintreffen, was er zu Papier bringe. Schließlich habe bald nach „Das Urteil“ ein guter Freund tatsächlich sich in der Fremde verlobt und der Vater kurz vor einem geschäftlichen Ruin (Entlassung zahlreicher Angestellter) gestanden. Vier Monate später überarbeitet er die Erzählung und interpretiert sie, nachdem er sie vorgelesen und die Reaktionen der Freunde und der Geschwister erhalten hat. „Die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen …“

Kafka beschreibt die haptische Lust der Zeugung durch das Schreiben mit einer Hand, die zum Körper dringt und das genuine Gefühl, „den Vater in sich“ zu haben. In seiner internen Logik handelt es sich um Penetration, um das Eindringen von Fremden ins Eigene und um den Versuch, das Eigene dem Fremden zu injizieren, folglich, mit sich ins Reine zu gelangen.

Drei Punkte erwähnt Kafka: die Freundschaft als das wichtigste Bindeglied zum Vater, das sich umkehrende Machtverhältnis durch den fehlenden „Blutkreis“ - der Sohn ist substanziell für sich allein - und die an Goethes Wahlverwandtschaft erinnernde Verbindung der männlichen Charaktere. „Georg hat soviel Buchstaben wie Franz. Im Bendemann ist „mann“ vorweggenommen eine Verstärkung von Bende. Bende aber hat ebenso viele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal in Kafka.“

Die Geschichte wäre ohne Bekanntschaft zu Felice Bauer, die den Autoren bereits stark beschäftigt und die er als Verrat an seiner Solidarität mit der Familie empfindet, gar nicht denkbar. „Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie Felice ... Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie Bauer und durch das Wort Feld auch in der Bedeutung…“

Die beiden Einträge verdeutlichen Kafkas Vorliebe für Zahlen- und Buchstabenmagie und sein gestörtes Verhältnis zu seinem Vater als auch zu seiner Braut, die den biografischen Hintergrund für seine Selbst-Verurteilung zum Tode implizieren. In die Zeit der ersten Trennung von Felice fällt auch die Arbeit an „Der Prozess“ und „Der Verschollene“, einem Romanfragment, das Brod posthum unter dem Titel „Amerika“ veröffentlicht. Darin wird der sechzehnjährige Karl von einem reifen Mädchen verführt und sanktioniert. Der Autor reflektiert den Bezug: „Roßmann und K, der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.“44

Auch Denken ist ein Prozess des Durchringens und gerade der Prozess der Vergegenwärtigung einer Schuld geht mit physischer Folter einher. Ein drittes Beispiel für eine Selbstanalyse liefert „In der Strafkolonie“. Dieser Erzählung geht ein Traum vom 4. Mai 1913 voraus. „Immerfort die Vorstellung eines brei-ten Selchermessers das eiligst und mit mechanischer Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünner Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast ein-gerollt davonfliegen.“

Repräsentativ sind exakte Beschreibung und Mordfantasie. Neben Gewalt- und Hinrichtungsvisionen, der Reflexion über den richtigen Schneidewinkel oder Haltegriff des Messers, tritt Kafkas Faszination an determinierten Abläufen in den Vordergrund: „Dieser Flaschenzug im Inneren. Ein Häkchen rückt vorwärts, irgendwo im Verborgenen, man weiß es kaum im ersten Augenblick, und schon ist der ganze Apparat in Bewegung. Einer unfaßbaren Macht unterworfen, so wie die Uhr der Zeit unterworfen scheint, knackt es hier und dort und alle Ketteln rasseln eine nach der anderen ihr vorgeschriebenes Stück herab.“

Hervorzuheben ist das Verb „scheint“ in Relation zur Substantivierung „im Verborgenen“, die in der Verallgemeinerung „man weiß kaum“ mündet und die an Seinsvergessenheit heranreicht. Solche Ausdrücke des Vagen verdeutlichen, dass Kafka nicht restlos davon überzeugt ist, dass dieses Naturgesetz so sein muss oder das mechanische Räderwerk apodiktisch seinen Zweck erfüllt. Vielmehr richtet er das Ganze auf die innere Befindlichkeit und Glaubwürdigkeit.

Auch Denken ist ein Prozess des Durchringens und gerade der Prozess der Vergegenwärtigung einer Schuld geht mit physischer Folter einher. Ein drittes Beispiel für eine Selbstanalyse liefert „In der Strafkolonie“. Dieser Erzählung geht ein Traum vom 4. Mai 1913 voraus. „Immerfort die Vorstellung eines brei-ten Selchermessers das eiligst und mit mechanischer Regel-mäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünner Quer-schnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast ein-gerollt davonfliegen.“

1 II. 1. 2. Schreiben als physischer Prozess und Reinigung

„Womit entschuldige ich, daß ich heute noch nichts geschrieben habe?“ Dieser typische Kafka-Satz stammt vom 20.12. 1910. Er steht vor einem unsichtbaren Gericht, den Prozess macht er sich selbst. Das Schreiben ist eine unendliche Geburt. Es ist ein Schrei, dem ein Echo folgen müsste, eine Notgeburt. „Ich kann nicht mehr weiterschreiben“45 Der Mensch wiederholt sich, weil er muss und nicht weil er kann. Dies gilt umso mehr vom Zwang.

Schreiben gleicht einer Penetration, Eindringen, Vordrängen, Vorwärtsdrängen, Kampf. Unbestimmter Zwang, ja Verpflichtung zur Selbsterziehung. Unmöglichkeit, zu schlafen, jeden-falls nicht regelmäßig. „Meine Nerven erlauben es nicht, nach 1 Uhr schlafen zu gehen, denn dann schlafe ich überhaupt nicht mehr ein, der nächste Tag ist unerträglich und ich zerstöre mich …Eindringen kann ich scheinbar in die Welt nicht, aber ruhig liegen, empfangen.“

Kafka beobachtet sich selbst, argwöhnisch, stets schuldbewusst. Jeder Tag ist vergeudet, wenn er nicht schreiben kann. Schreiben kann er nur nachts, aber dann fehlt ihm der Schlaf und er kann nicht gut arbeiten am nächsten Tag. Alles scheint in Nebelwolken umhüllt, nur in der Ruhe liegt Selbstzufriedenheit und wann vermag Kafka zu ruhen? Jedes Gespräch empfindet er als Zuspitzung, Festigung und dauerhaften Zusammenhang mit einem nur ihm bekannten Gesetz, als dessen Angeklagter er sich empfindet. Er schreibt, um zu überleben. Eine physische Qual für seinen schwachen, lungenkranken Körper. Kopfschmerzen überfallen ihn ebenso häufig wie Fieber. „Die alte Unfähigkeit“ nennt er seine Gebrechen.

Ohne Schreiben vermag er nicht zu existieren - es bietet seine Existenzgrundlage, um nicht in Nutzlosigkeit zu enden, wie er sagt. Unaufhörlicher Zweifel; kaum ein Wort taucht häufiger in seinen Tagebüchern auf. „Ich will mich quälen, will meinen Zustand immerfort verändern, glaube zu ahnen, daß in der Veränderung meine Rettung liegt.“46

Eine Rettung, die kaum eine seiner literarischen Figuren erlangt. Eine Rettung, die keine Lösung, sondern lösen impliziert.

Fragen und Warten auf Antwort ist sinnlos, selbst das Urteil bisweilen. Einzig der Prozess ist interessant. Die Selbstaussage lässt sich vor allem auf das Schreiben beziehen, denn weder auf Anfang noch Ende kommt es an, sondern nur auf das „da-zwischen“. Genauso versteht Kafka den Traum: im Halb-wachen vermag er am besten zu denken, was in ihm verborgen ist. Schlaf und Fiktion sind nicht. Schlechter Schlaf bedeutet Traumlosigkeit, im Traum selbst aber vermag er sich nicht zu erinnern, zu deuten, zu fühlen. Er führt eine Reihe von Grün-den an, weshalb Napoleon scheitern muss, da-runter auch den Mangel an rechter Traumdeutung und an den Dolmetschern. Schreiben ist primär ein physischer Akt, wie Kafka mehrfach be-tont: „Ich schreibe bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über diese Zukunft mit diesem Körper.“47

Joseph Roth schreibt, Kunst und Alkohol sind zwei Formen, sich das Leben zu nehmen. Verzweiflung spielt eine große Rolle für das Schreiben Kafkas, da es mit seiner beruflichen Existenz einerseits unvereinbar bleibt, andererseits aber ihm die ökonomische Sicherheit die künstlerische Freiheit sichert. Kafka wird nur durch Schmerz und Enttäuschung inspiriert zu schreiben; ein glücklicher Kafka ist als Autor undenkbar. Eine typische Notiz ist: „Vom Strich angefangen mit Verzweiflung geschrieben … ich zur Vollendung des Unglücks so schlecht schreibe …weil ich so wenig Zeit habe, fast ganz unter Maxens Einfluß stehe …“

Neben Schmerz sind Scham und Verlegenheit Dauergäste in Kafkas Seelenleben. Offensichtlich leidet er an Minderwertigkeit und Schuldgefühlen. Dies gesteht er in seiner Selbstanalyse-se, zu dessen Zweck er das Tagebuch angelegt hat. Seine chronologisch nach Traumerfahrung geschriebene Prosa wird immer wieder durch körperliche oder seelische Leiden unterbrochen, gegen die er nur umso verzweifelter und schuldbewusster an-schreibt: „Heute Nachmittag kam der Schmerz über meine Verlassenheit so durchdringend und straff in mich, daß ich merkte, auf diese Weise verbrauche sich die Kraft, die ich durch dieses Schreiben gewinne und die ich zu diesem Ziel wahrhaftig nicht bestimmt habe.“48

Kafka schreibt nicht, vom Anfang (der Wurzel) aus, sondern „irgendwo gegen ihre Mitte“. Ihn hat die Erziehung (der Vater) geschadet, aber auch zum Schreiben gezwungen. Vieles ist folglich ambivalent und läuft auf ein Scheitern hinaus. Kafka thematisiert Literatur als ein Vergessen - Wollen, obgleich es dazu eines Erinnerns bedarf. Er ist überzeugt davon, nur im Schreiben anderen nützen zu können und gleichzeitig, dass er für seine Gabe leiden müsse und betrachtet die Büroarbeit als heilige Opfer, den-noch zögert er, sich als freier Schriftsteller von seiner bürgerlichen Existenzgrundlage zu lösen. „Doch dem Literaten vermag ich mich aus den verschiedenen Gründen nicht so hinzugeben und auszuliefern, wie es sein müsste. Meine Familie, meine Arbeit und zuletzt auch mein Charakter und die eingeschränkte Gesundheit hindern mich daran.“

An Pascals „Gedanken“ und den Jansenismus erinnert das Doppelleben des Prager Schriftstellers: Die äußere Pflicht ist der Beruf und das Familienleben, die innere das Schreiben und die Einsamkeit. Kafka schreibt sich seine Schuld stellvertretend „In der Strafkolonie“ in die Haut. Der Literat ist immer schuldig: entweder am vergessen oder am Aussprechen dessen, was er sagen will. Kafka vergleicht sein Schreiben mit zwei Maulwurfshügeln, vor denen er sitzt. Jeder Gedanke, wenn er zu Papier gebracht wird, gleicht einer Entscheidung für einen Ausweg. Der Maulwurf ist das Unter-irdische, aus dem das kreative Schreiben aufsteigt. Es gibt aber nur ein Loch, aus dem gute Ideen aufsteigen. „Das Gefühl des Falschen, das ich beim Schreiben habe, ließe sich unter dem Bild darstellen, daß einer von zwei Bodenlöchern auf eine Erscheinung wartet, die nur aus dem zur rechten Seite herauskommen darf … während aus der linken eine Erscheinung nach der anderen aufsteigt.“49

Kafka schreibt grundsätzlich allen Dingen einen Bedeutungscharakter zu, daher notiert er nahezu zwanghaft fast jede Bewegung und jedes Detail. Später überprüft er, ob er sich an alles zu erinnern vermag. Das Gesagte erscheint ihm dabei als flüchtig und unwesentlich, gleichzeitig fürchtet er, eine Silbe zu verlieren. Wie viele Literaten misstraut er dem Wort in seiner Eindeutigkeit, doch er unterliegt dem Zauber, es immer wieder neu zu versuchen, Inneres und Äußeres in Einklang zu bringen. Das Schreiben legt eine additive Ebene an, schafft etwas Neues, indem es anderes verdeckt: „Wenn ich etwas aufschreibe, verliert es die Bedeutung immer, gewinnt aber manchmal eine neue.“50

Inmitten einer äußerst produktiven Phase, notiert er melodramatisch: „Ich bin unfähig zu schreiben … wer erlöst mich?“ Kafka betont häufig den Aspekt der Selbstaufopferung für das Schreiben: „Was für Mühen es mich kostet, mich zu erhalten.“ Von Anfang an ist das Schreiben für Kafka ein Kampf gegen die äußere und innere Unordnung.

Er pflegt ein sehr spezielles, fast fetischartig anmutendes Verhältnis zu seinem Schreibtisch, der Gegenstand zahlreicher Eintragungen in sein Tagebuch ist. „Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehen, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht.“51

1 II. 3. Der Kampf um Gott mit Pascal

Theosophie, schreibt Kafka, sei eine „Verbindung und Brücke zur Welt.“ Über das Pro und Contra führt Kafka wie ein Buch-halter akribisch Bilanz. Zu seinen Entscheidungsprozessen zieht er Kierkegaard und Pascal zu Hilfe. Dieser äußert in „Gedanken“ die Wette auf Gott, dass es besser sei, zu glauben, weil man nichts verliert, doch alles gewinnt, wenn man die Existenz eines Schöpfers und eines höheren Sinns als gesichert annehme. Pascal bezeichnet Gott als deus abscondituts, einen abwesenden Gott, der wie ein Regisseur das Geschehen auf der Bühne beobachtet. Vermutlich kennt Kafka

Hofmannsthals ästhetisches Manifest „Das Spiel in der Menge (1911) zu den Salzburger Festspielen. Seine Mysterienspiele beruhen auf der Vorlage von Pascals Zeitgenossen Calderon, dessen „Das große Welttheater“ dem passionierten Theaterbesucher Kafka bekannt ist. Hofmannsthals Poesie sucht, das mystische universelle Gesetz in Allegorien zu verdichten. Dieser Ansatz steht Kafkas Parabeln nahe; er erinnert an Pascals Gleichnis: „Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Zug in der weiten Höhlung des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihr nahe. Wir können unsere Vorstellungen von ihr aufblähen über die letzten denkbaren Räume hinaus, was wir zeugen, sind, verglichen mit der Wirklichkeit der Dinge, Winzigkeiten.“52

An Pascal anknüpfend äußert Kafka: „Ist Gott ein theatralischer Triumphwagen, den man … mit Stricken aus der Ferne auf die Bühne zieht?“53 Seine Auseinandersetzung sowohl mit Christentum als auch der Thora ist motiviert von der Frage nach Rettung und Befreiung von einer als unerträglich empfundenen Schuld. Gott soll ihn aus der Nähe des Irrseins und aus der „Unfähigkeit, das Leben alleine zu ertragen“ erlösen.

Eine Frau an seine Seite empfindet er als störend. „Was ich geleistet habe ist ein Erfolg des Alleinseins“. Gegen die Heirat spricht, dass sich die Frau unterordnen muss. Dieser Fall ist sowohl bei Felice als auch den anderen selbstbewussten Frauen nicht gegeben. Zudem erscheinen die Frauen an Kafkas Seite zu weltlich bzw. zu wenig gefestigt im jüdischen Glauben.

Kierkegaards Fall, speziell seine Abhandlung über den „Sprung“ aus „Das Buch des Richters“ erscheint Kafka dem seinen wesensverwandt. „Er bestätigt mich wie ein Freund.“ Darin vermag sich der Gläubige nur durch einen Sprung in die Religion aus dem Dilemma zwischen Ästhetik oder Ethik zu befreien. Ehe wird als Zwangssystem empfunden. Kafka wähnt sich durch seine Zweifel gleich einem Baum verdorrt; eine Liebschaft vermehrt nur die eigenen Defizite; seine Askese begreift er als Buße für Charaktermängel. „Meine Unvollkommenheit ist wie eine abscheuliche Ehefrau oder ärmliche Verhältnisse. Sie steht wie ein müder Hund vor dem göttlichen unsichtbaren Gericht.“

Gleichzeitig schöpft er Kraft aus diesem permanenten Man-gel- und Hungerzustand: „Was ich jetzt noch bin, wird mir am deutlichsten in der Kraft, mit der die Vorwürfe aus mir herauswollen … Ich unterschätze mich und überschätze die anderen. Ich wiege sie und mich mit einem falschen Gewicht.“

Immer wieder stößt der Leser auf Selbstanklagen wie zu wenig geschrieben, geschlafen oder für sich gesorgt zu haben, Vorwürfe wie: „Schuld bin ich und das Bureau hat gegen mich die klarsten berechtigten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt.“54 Der Begriff Ausweg ist zentral für Kafkas Auseinandersetzung mit Gott, zugleich ein Kampf gegen sich selbst, die bedingungslosen Annahme und Vertrauen fordert.

Die von Pascal uns Kierkegaard häufig verwendete Metapher Gewichts für Gewichtung und Abwägung taucht in verschiedenen Variationen auf; eine davon lautet: „Mein Glück, aber zugleich mein Unglück besteht aus Verwirrung“. Es entspricht Pascals Aussage vom klaren, doch nicht bewussten Gedanken.

1 II. 4. Selbstgespräche

Einer seiner letzten Eintragungen ins Tagebuch (14.11. 1922) ist eine häufig wiederholte Feststellung: „Sitze nachts beim Schreibtisch, bringe nichts zuwege.“ Da Kafka ausschließlich am Schreibtisch nachts schreibt, kommt dies einer Kapitulation gleich. Merkwürdig klingt der Kommentar von Nabokov: „Für den Dichter gibt es kein Gesetz. Er ist frei.“ Hat Kafka sich von seinen Zwängen frei geschrieben? Schließlich zeigt sich sein Leben erfüllt vom Funktionieren, von Gehorsam und Demut.

Die Erziehung hat ihn verdorben. Der beste Rat ist es, möglichst alles hinzunehmen, als schwere Masse sich zu erhalten. Er fühlt sich „fortgeblasen“, ist zu keinem unnötigen Schritt bereit.55 Geht in die Fabrik, weil es der Vater so will unter unsäglicher Beklemmung, dort zu versagen. Das schielende Mädchen am Ende der langen Reihe, vom Lärm eines Transmissionsriemens eingeholt. Beißender Gestank von Asbest, besser nicht atmen, im Takt der Maschinen mit festgehaltenem Gesichtsausdruck arbeiten, das genügt. Nur nicht auffallen. Der Aufseher mit dem lächelnden Hut in der Hand grüßt, das macht ihn nervös. Ein Mädchen in der letzten Reihe zieht ihren schmutzigen Rock nach oben, presst sie den kräftigen Kiefer zusammen, um seine schlechten Zähne nicht zu entblößen, ihre staubigen Haare fallen zittern auf den Unterrock. Er hat so lange nichts zu Papier gebracht, weil die Stechuhr ihn nicht schreiben lässt. Zu Hause

liest er mit übertrieben lauter Stimme aus der Zeitung vor, wie um gegen den Maschinenlärm zu protestieren. Besonders nachdrücklich verwendet er die Silben auf den Todesanzeigen, viele Fabrikarbeiter darunter, damit es der Vater auch merkt. Es wird wohl Krieg geben, dann mit noch mehr Nachdruck lesen. Er sollte nach Berlin gehen, Journalist werden, für das Proletariat schreiben. Unglücklich wäre er aber auch dort. „Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur widerspricht.“56

Er ist häufig krank, leidet unter Herz- Schlaf- und Verdauungsstörungen. Gewaltfantasien. Er wartet auf so vieles: Stuhl-gang, Ende der Kopfschmerzen, Träume, Veröffentlichung, Beförderung, Verliebtsein in die Verlobte, nichts davon will sich einstellen, was befreit von der Last und dem körperlichen Gebrechen. Er liest jetzt viel, um zu lernen: Dostojewski, Hebbel, Flaubert, Kleist, Hauptmann, Goethe. Manchmal liest er laut für Freunde, manchmal still in sich hinein. Sitzt, wenn es ihm zu Hause zu eng wird, oft in Cafés, wo er sich immer mit Besseren vergleicht. Das Leben ist Kampf.

Eine abgebrochene Erzählung am 7. April 1914 handelt von seinem masochistischen Ringkampf mit einem körperlich überlegenen Zimmernachbarn. In „Der Verschollene“ unterliegt Karl Klara, dem Stubenmädchen, im Ringkampf. Er weiß um seine physische Gebrechlichkeit, härtet sich ab, bei offenem Fenster im Winter, fast nackt. Am selben Tag notiert er in sein Tagebuch: „Es ist, als wäre irgend-wo in einer Waldlichtung der geistige Kampf…vielleicht suchen mich die Blicke der Kämpfer durch das Walddunkel, aber ich weiß nur so wenig und Täuschendes von ihnen.“

Kafka schreibt merkwürdige Sätze in eigentümlich unverwechselbaren dissoziativen Bildern wie „plötzlich und endlos einströmende Sonne.“ Bei der Versicherung gilt er als unentbehrlich, der Vater hält ihn für einen Versager.

Er trägt die Ruhe und Sauberkeit anderer Menschen in sich, wäscht sich fort in seinem Verlangen und kehrt zurück an den Platz, der ihm bestimmt ist, an seinem Schreibtisch, die Akten, das Abendbrot. Er denkt vom „verkehrten Ende“ aus. Seit er „Der Verschollene“ unvollendet lies, beginnt er immer mit dem Schluss. Ein Anfang kann nur gelingen, wenn der Schluss besorgt ist.

Kafkas Selbstanalyse erlaubt ein Urteil über seine Psyche, Gewaltfantasien, erotische Triebunterdrückung, aber auch seinen Schreibstil; zumal er exakten Beschreibungen der Dingwelt einen nicht logisch erscheinenden Sinn entgegen- oder beistellt. Konjunktiv und Indikativ werden vertauscht, Attribute wie beinahe, fast, ein wenig, wahrscheinlich erinnern an die Vergeblichkeit des Versuchens oder Beweisens, Dominanz der Illusion, das Ausgeliefertsein den Träumen und Fantasien gegenüber. „Nur wer ein gutes Gedächtnis hat, kann so viel Fantasie wie Kafka entwickeln“57 (Nabokov).

Fasziniert von Gesten, legt Kafka eine Handlung in sie hinein und wo er Handlungen beschreibt, so wirkt sie als eine Gebärdensprache. Dies macht die im Sammelband 1913 veröffentliche Geschichte „Unglücklichsein“ deutlich, in der ein Kindergespenst ungeklärter geschlechtlicher Identität aus der Wand des Icherzählers hervortritt und mit seinen Fingern „wie verrückt“ an ihr reibt. Der Dialog nimmt skurrile Züge an über die Bedeutung der offenen oder geschlossenen Tür. Gedanken des Erzählers wirken wie vorausempfundene Realität aufgrund der Furcht vor einem nächtlichen Besuch einer Frau. Seine Geschichte steht mutmaßlich in Zusammenhang mit der 1911 gleichfalls abrupt endenden Erzählung „Das Unglück eines Junggesellen“, in der die Geste sich an die Stirn schlagenden Hand dominiert.

Im Anschluss an „Unglücklich sein“ heißt Kafka in seinem Tagebuch die Verlobung ein Verbrechen, „weil ich versucht ha-be, den Himmel aufzubrechen … Alles was ich täte, wäre kleinlich … ich falle beinahe sinnlos und es ist das Beste.“58

Die Gebundenheit an die Familie, die Abhängigkeit vom Vater – erst Winter 1916/1917 bewohnt Kafka im Goldenen Gässchen Nr. 22 ein winziges Haus für sich allein – und der drohende Bankrott der Asbestfabrik lösen Ängste, vermutlich auch Neurosen in ihm aus. Verständigung scheint ausweglos „Nur die mit einem bestimmten Leiden Behafteten verstehen untereinander.“ Nicht nur das Zitat, sondern den ganzen Brief Dostojewskis vom 11. April 1880 schreibt er ab, der mit dem Satz beginnt: „Das gesellschaftliche Leben geht im Kreis vor sich.“ Wo das Leben des Russen beginnt und wo das des Pragers endet, ist schwer zu sagen. Die Stimmen Fremder erscheinen manchmal treffender als die eigene. Wer in der Prag Kafkas acht Wohnungen besichtigt, die immer in der Nähe der Sankt Niklas Kirche liegen, merkt ganz genau, was eine Kreisbewegung ist: bis auf das Arbeitszimmer in der Alchimistengasse kommt der Schriftsteller nie aus seinem angestammten Wohnviertel heraus. Er lebt in einer symbolischen Sackgasse mit „vergitterten Blick auf den Park“, der an Rilkes Gedicht „Der Panther“ denken lässt.

Es gibt traurige Sätze, Gleichnisse, Aphorismen über die Wehr- und Aussichtslosigkeit wie der Eintrag vom 24. Juni 1914: „Im Grab der Eltern liegt immer auch der Sohn begraben.“ Makaber realistisch wirkt dies, wenn man daran denkt, dass Kafka diese Zeilen bei Ausbruch des ersten Weltkrieges niederschreibt. Obwohl er den Krieg missbilligt, fühlt er sich schuldig , dass er als einer der wenigen in der Versicherungsanstalt zurückbleibt, während Kameraden an der Front scharen-weise fallen oder gebrochen zurückkehren. Im Café wird es täglich stiller und leerer, nur Frauen und alte Männer trinken. Anlässlich der Rekrutierung von Werfels und Weiß notiert er „Neid und Hass gegen die Kämpfenden“.

Eine Reihe obskurer Geschichten entstehen, die er nicht vollendet und nicht veröffentlicht sehen will. Etwa die einer jungen Mutter, die ihr Kind aus Verzweiflung mit der Krawatte des Vaters erstickt, der im Krieg gefallen ist. Seine Arbeit bei einer Versicherung bringt mancherlei Tragödie auf seinen Schreibtisch. Wer man die Zukunft vorzeitig weckt, bekommt eine schreckliche Gegenwart. Franz sitzt im Café Savoy mit Max seinem helleren Schatten, der sagt, ein Dichter erzeugte Rätsel und keine Lösungen wie ein Anwalt, der Kafka als gelernter Jurist auch ist. Max erzählt von den jüdischen Schauspielern, dem zuletzt, seit es Krieg ist, die nichtjüdischen Zuschauer fehlen, so dass er begonnen hat, Judenwitze zu machen. Franz beobachtet, wie Max beim Essen seinen linken Zeigefinger leicht abgespreizt hält, als würde er sich vor einem darin schwimmenden Käfer ekeln. Sein Mundwinkel sinkt nach unten, beschreibt eine sichelförmige Bewegung, wenn er lacht. Er notiert: Steife Halsmuskulatur. Wangen wie Selchfleisch. Neigt den Kopf immer ein wenig vor, wenn er Zuspruch erwartet. Gelenkige Sehnen, als ob sie aufbegehrten oder sich zum Sprung strafften. Er schmeckt Speichel im Mund, vielleicht ist der faulige Geruch ein gutes Zeichen, Dichter stinken, schreibt er. „Ist es nicht Schuldbewusstsein, das mir den Verstand schärft?“59

Die letzten Augenblicke des Wachseins sind wie Appell, mehr noch, wie ein Recht zu schreiben. Und dieses Recht be-nutzt er eilig. Er schreibt, um Ordnung in sich zu schaffen, denn Schreiben unterliegt Gesetzen. „Eine kleine Unordnung meines Inneren fängt an, sich herzustellen und nichts brauche ich mehr, denn Unordnung bei kleinen Fähigkeiten ist das Ärgste.“

Gutes Schreiben ist wie Aufräumen und Sauberkeit, es verrät Selbsterkenntnis. Die Erfindung von Charakteren gleicht einer chirurgischen Handlung, sie muss ab und zu ins Stocken geraten, aber nicht so, dass der Patient stirbt. Eine Handlung fragt nicht nach dem Charakter. Manchmal ist es Franz, als hätten seine Gedanken Beine oder Max verfügte über die Gabe von seinen geschlossenen Lippen abzulesen. Er hat eine Freistellung vom Krieg, die Versicherung und die Krankheit schützen ihn.

Du musst dir eine Meinung erlauben, Franz. Eine Frage des Selbstvertrauens sagt er, dass du noch nicht hast. Es ist zu laut geworden im Saal. Ob auf seiner Zungenspitze die reine Natur der Worte abzupflücken ist? Nein, sagt Franz, er habe eine durchaus gute Verdauung, sie finde sich nur manchmal nicht ein. Schräg gegenüber von seinem Platz in Café spielt ein Kind mit den reizvollen Beinen der Mutter. Sie lässt es gewähren, zieht seinen Blick auf sich und die flüchtige Begegnung ihrer Augen gibt ihm die Bedeutung, dass sie auf ihn warten wird, bis der Krieg vorbei ist. Dann gleitet ihr Blick auf den Schopf des Kindes herab. Er notiert: „Für Erwachsene ergibt sich doch stets die kindliche Überzeugung, daß einem Kind bei seinen Eltern nichts geschehen kann und daß sich die wirklichen Sorgen so nahe an der Erde nicht vorfinden, sondern auf Gesichtshöhe der Erwachsenen.“ Es sind nur wenige Männer im Café und vielleicht wird das spielende Kind bald eine Halbwaise sein.

Max liest in Franz das Begehren, aufzustehen und mit der Frau am Nachbartisch ein Gespräch zu beginnen. Aber er sieht es ihm auch an, er wird wieder alleine Spazieren gehen, bevorzugt im Regen, aus Angst, jemanden zu begegnen. „Ich werde mich an mein fortwährendes Versagen gewöhnen müssen.“

Ein Mann ohne Weib ist ja gar kein Mensch, so steht es im Talmud. Wie soll er die Zukunft mit seinen viel zu ungelenken Armen empfangen? Vergangenheit heißt, es in der seelischen Rumpelkammer zu ertragen. Er muss einen Grund finden, weshalb er überleben darf, fern der Gräber Verduns.

1 II. 5. Träume

Sprache kleidet Gedanken, die Träume für uns denken. Kafka träumt viel und präziser als man es gewöhnlich niederzuschreiben vermag, so dass er selbst geneigt ist, sie für halbe Fiktionen zu halten, wenn er von Trancebewusstsein nach dem Erwachen spricht. Seine Aufzeichnungen bestehen aus stetem Wechsel nacherzählter Träume und Prosa an, so dass Ebenen ineinanderfließen. Wenn er einen Theaterbesuch wie „Auf der Galerie“ beschreibt, liest er sich dies wie eine Fortsetzung seines Traums von einer Reiterin. Bühne, Dekoration, Gesten und Kleidung der Schauspieler werden mit solcher Präzision geschildert, wie sie kaum einem erinnerten Traum entsprechen. Andererseits bleibt die Handlung seiner Erzählungen oft vage, schemenhaft, diese Transparenz akzentuiert dunklen Reichtum seiner Fantasie. „Es hatte dies keinen Zweck, als womöglich die ganze Dekoration zu zeigen, da sie nun schon einmal in solcher Vollkommenheit da war ...“60

In seinem Traum, der so typischer für ihn ist, da er die Bühne und bekannte Gestalten aus dem Alltag mit aufnimmt, kommt es zu gleichfalls charakteristischen Verfolgungs- und Gewaltszenen, wie sie in Kafkas Träumen als auch Prosa üblich sind. Interessant sind Bemerkungen wie „Unter ihnen war ein bekanntes Mädchen, ich weiß aber nicht welches“, weil sie ihre eigene Logik entfalten. Theater-Träume sind häufig, wiederholen sich. Im Zirkustraum vermengen sich Publikum und Schau-spieler, während Kafka diese Existenzen ausdrücklich für unvereinbar erklärt. Auffallend ist auch die Integration von Pferden, Nacktheit und Jagdelementen in beiden Träumen. Obligatorisch sind die exakten Beschreibungen von Objekten und die Adynata – der gewollten Unmöglichkeit einer Aussage: „ein Herr … geht ruhig wieder zu seinem Platz, in dem er versinkt. Ich verwechsle mich mit ihm und neige das Gesicht ins Schwarze.“

Kafka träumt nicht nur, er deutet seine Träume auch und führt sie auf etwas Reales zurück, wie im Fall der Verwechslung mit seiner Opernbesuch „Sulamith“ von Goldfaden, in der eine Stelle lautet: „Awigail versinkt dort unten im Weingarten Jerusalems“. In seinen Selbstanalysen, die Träumen stets folgen, spricht Kafka davon, dass sein Nachahmungstrieb nichts Schauspielerisches habe und an anderer Stelle, dass er doch gerne Schauspieler wäre, damit er nicht schreiben müsste. In diese scheinbare Anatomie passt seine Behauptung, einen Widerwillen gegen Antithesen zu haben; gleichzeitig räumt er aber auch ein, nur so zu Entschlüssen kommen zu können. „Ich und Max müssen doch grundverschieden sein.“

Da er als Haupthindernis seines Fortschreitens den körperlichen Zustand betrachtet, integriert Kafka auch viele Krankheiten in seine Träume, u.a. abgestorbene Glieder oder die exakte Beobachtung einer Exekution. Als Vegetarier gesteht er Heiß-hunger auf Fleisch ein und träumt bisweilen Berge von Fleisch zu vertilgen, auch kannibalische Träume sind darunter. Im Kannibalismus wirkt die Angst vor der Kastration und dem Verschlingen werden von dem anderen Geschlecht nach. Es ist zugleich eine Abwehrreaktion vor zu viel Nähe und Angst vom anderen kolonialisiert zu werden. Vor allem aber ist es eine Grenzüberschreitung, der einen Strafkodex nach sich zieht.

Zwischen 1912 und 1913, als er seinem Vater in der Fabrik assistieren muss, hat Kafka auffällig viele Träume von maschinellen Anlagen. Die getaktete Zeit wird zur Manie, „Der Heizer“ entsteht. Kafkas Faszination an determinierten Abläufen und Apparatur fließen „In der Strafkolonie“ ein. Erotische Träume verraten seine Bindungsangst, dass die Frau als „Überfall“ empfindet. Beispiel dafür liefert eine dem Traum nachempfundene Erzählung des Herrn Liman Februar 1913.

Ein Geschäftsreisender findet sein angestammtes Hotel ausgebrannt vor und will mit der Kutsche weiterfahren. Dies weiß der Hotelier zu verhindern, indem er unter anderem nach Fini ruft und Liman so lange mit absurden Vor-schlägen festzuhalten versteht, bis das Mädchen heraus-kommt. Felice und Fini mit beginnen mit dem gleichen Buchstaben. Fini erobert sich den Platz an der Seite Herrn Limans in der Kutsche trotz dessen Protestes. Die typisch erotische Anspielung lautet: „und ordnete zuerst flüchtig ihre Bluse und dann gründliche ihre Frisur. “61

Direkt vor der dem Traum folgenden Erzählung trägt Kafka eine Begegnung mit Felice Bauer ein und hält darin Kleidung und Frisur akribisch fest. Nicht unwesentlich ist sein Kommentar, Verlobungen und Heirat kämen Geschäftsabmachungen gleich, die seiner Lebensweise zuwiderlaufen. „Ich bin an F. verloren“. Kafka kehrt von ihr aus Berlin nach Prag zurück.

Während seiner Arbeit am „Prozeß“ träumt Kafka wieder-holt von seiner eigenen Beerdigung. 1920 erscheint das im Roman unberücksichtigt gebliebene Kapitel „Der Traum“ in „Ein Landarzt“ (Prager Tagblatt). Josef K. trifft auf seinen unvollendeten Grabstein und stört den Künstler bei der Ausführung der Namensgravur. Kurz zuvor hat er Kleists Anekdote „Der Griffel Gottes“ gelesen, in der ein Blitz die Grabinschrift verstümmelt. Auch dieser Traum endet mit einer Selbstauslöschung, dem Fall ins Grab und der Vollendung der Gravur endet, mit den Worten: „Entzückt von diesem Anblick erwachte er.“

1 II. 6. Verwandlung in Zeit-und Raum

Metabole bezeichnet den in der äußeren Gestalt sichtbar gemachten inneren Wandel. Für kaum einen Schriftsteller hat das Wort der Metapher Verwandlung so eine tragende Bedeutung wie für Kafka. Zunächst die charakterliche Ebene: obschon er voller Zwänge und Gewohnheiten steckt, behauptet ironisierend: „Ich besitze eine starke Verwandlungsfähigkeit, die niemand bemerkt hat.“62 Kafka glaubt, sich beim Schlafen verstellen zu können, so dass für einen Beobachter ein falscher Eindruck von Seelenruhe entstehen könnte. Er spricht von einem fischartigen Gefühl und dass er sich vom echten Schlaf zurückgewiesen fühle. Seine Insomnie führt er auf nächtliches Schreiben zurück. Schlaf und Traum werden dadurch verändert. Umgekehrt gilt auch: ohne seine Träume schriebe er anders.

Einzig Dichten verändert die Welt. Das Gewöhnliche, dem er sich zugleich verpflichtet fühlt, ekelt ihn, ebenso wie alle äußeren Pflichten, die er mit Widerwillen erfüllt. Doch er braucht diesen Zwang als Widerstand, um sich durch das Schreiben in einen anderen verwandeln zu können: „Nachwehen von Bewegung, Traurigkeit, die grundlos aufsteigt und den Körper schwer macht, seines Lichtes beraubt. Wut, von der nur ein scharfer Dampf im Kopf zurückbleibt.“

Schreiben und Träumen interagieren; es besteht eine Verbindung zwischen seiner verhassten Alltagswelt, den psychosomatischen Leiden, dem Zwang zur Selbstanalyse und Beobachtung seiner Umgebung. Eigen- und Fremdbild wandeln sich permanent. Metaphern bilden sein Unbewusstes ab. An- und Entspannung vermag bereits ein Geräusch auszulösen. Er weiß früh um seine Krankheit und den physischen Verfallsprozess, den er akribisch notiert, etwa, wenn er über seine Migräne herausfindet, wie sie von der einen Schädelhälfte in die andere wandert gleiche einem Mantel, der abwechselnd die Schläfe wärmt.

Besuche im Café Savoy oder im Theater beeinflussen Kafkas Träume und diese seine Metaphern. „Auf der Galerie“ ist ein dokumentiertes Beispiel für die Selbstreflexion der Künstlerexistenz in Abhängigkeit eines Traumes. Im ersten Bild ist die Kunstreiterin kränklich, im zweiten vital gezeichnet. Die Transformation einer Person in verschiedene Persönlichkeiten bildet ein Muster Kafkas, u. a. auch in „Die Verwandlung“.

Prag ist bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein besonderer Schmelztiegel einzigartiger künstlerischer Experimente und Illusionismus. Wie blühend die künstlerische und märchenreiche Vielfalt war, bekunden Kafkas Reisetagebücher. Er findet Paris fade, langweilig und einfallslos deklarieren. Die Stadt inspiriert ihn nicht, sie wird eine Enttäuschung der „Bilderlosigkeit“. Er verbringt die Nächte lieber im Hotel mit Träumen.

Die Bilder wandeln sich permanent: so wandert Kafka in „Beschreibung eines Kampfes“ topografisch durch das nächtliche Prag und beobachtet die Schlafenden, fürchtet, ihren Schlaf zu stören und wendet sich wie ein Einbrecher auf Fußspitzen gehend, dem Ausgang zu. Er trifft auf ein Bett, in dem das Laken (er beschreibt es exakt) nicht richtig zugeschlagen ist. Er will es ordnen, da wendet sich die Schlafende ihm zu. Es ist eine Prostituierte, aber der Träumende will nur ihr Knie streicheln und wundert sich, dass man für das Schönste nicht bezahlen muss. Unmittelbar vorher hat er Flauberts Bordellszene aus „Die Erziehung des Herzens“ gelesen – sie handelt von einem nicht vollzogenen Bordellbesuch eines Sechzehnjährigen.

Die Formulierung „daß mein Durchgehen förmlich gar nichts gelte“63, mit dem der Träumende von dem physischen Durchschreiten des Schlafsaales das Bild in die Seelenlandschaft, die Begegnung mit der Prostituierten beschreibt, verdeutlicht den szenischen Aufbau seiner Ebenen, die den Wandel schichten.

Kafkas Meinung nach sollte eine gute Erzählung den Leser in eine Geschichte hinein,- aber nicht aus ihr herausführen. „Von jeder Geschichte ergeben sich Zusammenhänge … er überblickt sie alle… muß aber aus Rücksicht… verschweigen. Alles Erklären tötet die Neugier.“ Eine gelungene Erzählung gleicht einem Labyrinth. Kafka hat ein Synonym für sich gefunden.

Manche seiner Beobachtungen wandeln sich in der Syntax und stehlen sich so in die Romane ein. Der Notiz eines Gesprächs mit einem geschwätzigen Anwalt aus der Versicherung: „Ich wundere mich über die Schlechtigkeit des Gerichts“ folgt die Explikation, warum das so sein muss: „das Gericht ist über-lastet“. Logik und Irrationalität erfahren eine Engführung, eine Überschneidung von Stimmen und Parallelwelten, der äußeren und der inneren.

Die Schlussfolgerung jedoch ist absurd: Akten verschwinden, Zeugen werden nicht gehört, mitunter werden Anklage-punkte erfunden. „Der Prozess“ ist keinesfalls ein Gerichtsroman, sondern er wandelt reale Bilder in surreale Traumlandschaften und damit metaphysische Botschaften über die Beschaffenheit von Zeit und Raum. Die Transformation verzichtet auf Erklärung, Szenen und Bilder werden wie im Theater von Akt zu Akt gestaltet. Das hinterlässt Ratlosigkeit. Kafka will die Erwartung des Lesers brechen und ihn zum Zeugen an Unerklärlichem zu machen. Der Wandel betrifft auch das Recht selbst, einschließlich das Recht auf es Wandel. Gesetze werden zum Inbegriff prozessualer Veränderungen. Die Zuordnung Zuschauer- Akteur ist im Fluss wie die zwischen Richter und Täter, Anwalt und Verteidiger.

Es existieren zwei Formen von Unruhe; die eine beflügelt (Angst), die andere lähmt (Furcht). Kafkas Lähmung besteht in der Furcht vor äußerem Wandel wie Umzug oder wechselnde Geschäftsaufgaben oder Schmutz. Er nimmt Zuflucht zu Ritualen, deren Sinn in der Wiederholung besteht wie Händewaschen. Die ihn motivierende Angst betrifft den inneren Wandel: „Ich bin verdeckt von meinem Beruf, meinem eingebildeten oder wirklichen Leiden … wie Kinder, die sich in den Schnee hinlegen, um zu erfrieren. Nur im Weglaufen konnte ich mich erhalten, aber nur im Wandel bleiben.“64

Eine signifikante Form des Wandels betrifft Kafkas Umgang mit der Zeit. Sie spielt in fast allen Geschichten zweifach eine Rolle: erstens durch direkte oder indirekte Nennung, wie in „Der Prozess“ die Turmuhr und K. Zeitirrtum in der Kirche oder die lebenslange Wartezeit des Besuchers vor dem Türwächter. Zweitens durch Bruch mit der Erzählebene, das Ineinandergreifen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. „Was die Zukunft an Umfang voraus hat, ersetzt die Vergangenheit an Gewicht und an ihrem Ende sind beide nicht mehr zu unterscheiden.“ Die innere Zeiterfahrung koppelt er an Räume, so werden Stunden zu Zimmern oder der Keller zur Mitternacht.

Es fällt auf, dass die Zukunft räumlich, die Vergangenheit mit Schwere beschrieben wird, die Bilder folglich zwei Ebenen enthalten. Weiter in der Notiz: „So schließt sich fast dieser Kreis, an deren Rand wir entlang gehen. Nur dieser Kreis gehört uns ja, gehört uns aber nur so lange wir ihn halten. Rückten wir nur einmal zur Seite in irgend einer Selbstvergessenheit, in einer Zerstreuung, einen Schrecken, ein Erstaunen, eine Ermüdung, schon haben wir ihn in den Raum verloren.“

Der Kosmos als auch die Zeit in Expansion und Kontraktion wird durch die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (die Kafka immer verfolgte) neu ausgelegt. Kafka interagiert mit verschiedenen Ebenen und wandelt das Bild innerhalb eines größeren Gebildes (Idee), das er entwickelt.

Wandel besteht auch innerhalb der Sprache wenn sie Ich, Zeit- und Raumerfahrung verknüpft: „Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe, Widerwillen … nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser, als die Inschriften auf den Grabdenkmälern.“65 Die Metapher Lücke verbindet örtliche und temporale Funktionen: ohne Materie (Inschrift) und ohne Schwerlast (Stein) zu sein, Denkmal ist Grabmal und zugleich Metapher für Zweifel. Unmittelbar auf den Traumeintrag folgt die Bemerkung: „Meine Zweifel stehen um jedes Wort im Kreis herum.“ Und: „Meinem Schreiben haftet Leichengeruch an.“

Kafka fasst sein Innenleben in ein Kaleidoskop von Metaphern, die sich wechselseitig erhellen und nicht als Absolutes stehen. Einzelne Erzählungen stehen zumeist im Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zu dem auch die Tagebücher als literarisches Experiment zählen. Für Kafka existieren weder Anfangs- noch Endpunkt, sondern Durchgang, Störung, Neuanordnung. Daher setzen seine Geschichten unmittelbar ein und enden abrupt. Kafka erzeugt im Denken „Selbst-Kannibalismus“ (Sontag). In diesen Verwandlungen regiert der Sinn für das Vergebliche wie die Lösung eines Problems, das gar nicht existiert. „Für solche Störungen müssen eigentlich gar keine Gründe vorhanden sein in den heutigen Verhältnissen entscheidet hier oft ein Nichts.“66

Franz Kafka

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