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Оглавление1 I. Biografie oder Leben am Abgrund
1 I. 1. Vor dem Ausbruch der Krankheit
Er ist allein. Vielleicht gewollt, denn nur so kann er schreiben. Er lebt nur für seine Idee. Die Technik ist im Grunde das Sittliche der Poesie - nicht weit vom Neutrum entfernt. Er hat die Geliebte gehen lassen. Die Dialektik des Imaginären zwingt ihn dazu. Im Zustand des Glückes lässt sich nicht schreiben und im Begehren nicht mehr der Text bewältigen. Nein, das Schreiben duldet keine Rivalin, es muss das einzige Brennen unter der Haut bleiben! „Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge, und ich weiß nichts von dem, was in der Welt vorgeht.“5
Der Traum geht singend in das Tägliche über, ein Lied haust im nächtlichen Fieberwahn, doch lässt der Lärm der Straßen die Melodie verstummen und es sterben die Klänge in stündlichem Rauschen. Er fühlt unsagbare Angst vor dem Schreiben und fürchtet die Nacht, den Schlaf, den Kontrollverlust; die Angst vor dem Kontrollverlust zehrt seine Seele auf. Seine Existenz wiegt nicht mehr als der leichte Stoß Papier, den schreibt. Wenn der Vater kommt, wird er seine Worte vom Tisch nehmen wie das schwere Buch, das der Vater so achtlos bei Seite legt. Ich habe jetzt und hatte schon heute Nachmittag ein großes Verlangen meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir heraus zu schreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein.
Franz schreibt diese Worte mit seinem Blute, dass sich der Ausdruck in den Leib einschleicht, in den Atem einweicht. Er wird das Leben bald tragen wie einen unendlichen feuchten Raum, dessen Schalen vielleicht auf der Haut trocknen. Nein, es ist nicht sinnlos zu schrieben, wie der geschäftige Vater meint, denn wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück. Ein Unglück, das so schmerzt wie der Tod jener, die wir einst liebten. Ja, Poesie muss wie eine Axt sein für das ganze gefrorene Meer in uns, um die Eisstücke zu zerhauen. Die Schollen werden uns tragen müssen zu neuen Ufern. Schreiben ist wichtig, doch wenn ich etwas sage verliert es sofort seine Wichtigkeit, erst aber durch das Schreiben vermag es auch eine neue Bedeutung gewinnen.
Franz weiß nicht, ob er noch träumt oder schon schläft, das Licht erreicht zögerlich seine zuckende Pupille, es ist immer ein wenig Lärm und Geruch um ihn herum, so viele leben in dem engen Haus, und der Vater scheint nie wirklich zu ruhen. Sein langer Schatten schmeckt nach dem Ginster auf dem Fenster-brett, es ist als könnte er dem Verlöschen des Körpers zusehen. Die Welt hörte auf, wenn sein Ich nicht mehr existierte, freilich nicht stofflich, doch als Erlebnis bliebe die Farbe ohne das sie betrachtende Auge unsichtbar.
Tagsüber hat er im Büro Aktenberge gesichtet, brennende Kopfschmerzen, weil er nicht durchschlafen kann, Ich und Es sind im permanenten Tanz und Tausch miteinander. Im Leben macht Franz Kompromisse, im Schreiben nicht. Die Welt ist ohnehin reich an Unvollkommenem. Tatsächlich, in Liebe und Lust liegt ein entsetzliches Geheimnis und so entstehen innere Räume, aus denen wir sprechen; gläserne Träume werden zu Stahl. „Unsere ganze Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Ich und das ist ihr Fluch – doch aus Begeisterung und Liebe fließt alles Schöne.“6
Was könnte schöner sein als das Lächeln einer Frau, für die Einbildungen das tägliche Brot ist. Die Frauen haben ein Talent. dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg haben die anderen, die einen Anfang zu machen wissen - er weiß, es bedürfte der Entschlossenheit dazu. Die meisten in seiner Zeit haben keine Überzeugungen, bloß noch Meinungen, die sie wie die Kleider wechseln, bevor sie abgetragen sind. Was, wenn er seiner verbrauchten Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.
Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.
Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben sorgt dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg derjenigen, die einen Anfang zu machen wissen, es bedürfte der Entschlossenheit dazu. Die meisten seiner Zeit haben keine Überzeugungen, bloß noch Meinungen, die sie wie die Kleider wechseln, bevor sie abgetragen sind. Was, wenn er seiner verbrauchten Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.
Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.
Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben gleicht der „Beschreibung eines Kampfes“ und die einzige Rettung, die Ehe, ist doch zugleich sein Tod. Nun hat er Felice kennen gelernt und schwankt wie das Schiff auf hoher See in seinem Traum. Amerika. Vielleicht ist sie die Richtige, vielleicht sollte er den Schritt mit ihr aus der Enge des Hauses, der väterlichen Umklammerung wagen und weit fort ziehen. In diesem August haben sie sich in der Wohnung des Freundes Max kennen gelernt. Er kann ihren Augen nicht mehr ausweichen, wie er es früher bei den anderen Frauen getan hat. Seine wachsenden Verlangen nach ihr erscheint ihm wie Gogols Nase, die ihrem Herren entlaufen ist und diesem zuruft: Sie irren, mein Herr, ich existiere an sich.
Beziehungen zwischen ihr und ihm, eine Unmöglichkeit. Be-ziehungen generell. Er wird sie ins Unglück stürzen, ihre Erwartungen enttäuschen und sie wird ihn von der eigentlichen Arbeit abhalten. Vielleicht aber wächst er, weil er es muss, hinaus aus der Enge seines Büros und des nächtlichen Zimmers, vielleicht ist das Verlieben und Verloben nicht alles ein hoffnungsloser Fall. Wenn er nur gesund bliebe und sich ein wenig erholte! Ein Urlaubsgesuch ist gestellt, Urlaub steht ihm zu, das Gesetz schreibt dies vor. Ein anderer Ausweg: der Krieg. Er hört die blutigen Arme an die Tür pochen, das Land fliegt dem Schlachtfeld sehnsuchtsvoll entgegen, wofür hätten die Gardisten sonst Jahrzehnte im Dreck gelegen und vor Prag Manöver einstudiert?
Hüte dich vor Leidenschaften, so hat es ihm der Vater gesagt. Auch scheint seine Ehe ihm aufgetragen zu sein, der Mutter aufgezwungen so-gar. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Ehe, diesen Kampf zweier Körper um eine Seele, höhnisch lacht der Vater, als er sich mit einer Silbe verrät. Er solle sich doch zu den Bordellen begeben, wenn er das Fleisch reden höre.
Wie schamvoll ist da sein Blick zu Boden gesunken. Erdulden muss er des Vaters laute Stimme und sein verzagtes Zittern über das lächerliche Reinheitsbehagen. Er fühlt sich schmutzig und wäscht die Hände, als hätten sich die wühlenden Finger verräterisch in Felices Fleisch geschlagen. Nächtlich träumt er von fallenden Messern, Fleisch in Stücke schneidenden Apparaturen, so gierig ist er, dass er morgens stets hungrig erwacht.
Morgendlich steht ein Becher Milch auf dem Nachttisch für ihn bereit, dann hustet er Schleim aus seiner Lunge ab, die Räume ungeheizt und kalt, gar nicht gut für die bereits stechende Brust. An ihnen hängt wohl ein besonderes Gewicht der Weltuhr, deren Zeiger die Verbindung von Eltern und Kind sind. Das Gleichgewicht darf nicht zerstört werden, es sind heilig blutige Bande.
Manchmal vernimmt er eine Stimme des Widerstands, der Mensch sei nicht zum Nutzen der Gesellschaft oder der Familie wegen, sondern nur um seiner selbst willen auf der Erde. Franz, wer bist du, hat sie ihn gefragt und zärtliche Briefe geschrieben, die ihn in seiner Einsamkeit aufspüren. Es ist doch möglich, über Gefühle adäquat zu schreiben und so zu seinem tiefsten Ich zu finden. Der Chandosbrief7 irrt. Meine Sprache ist nicht verloren, sie umkreist nur die Mitte dessen, was sie zu sagen sucht. Er hat sich dieser Aufgabe angenommen, denkt sich das Innen und das Außen eine gemeinsame Kraft verbunden wie Lebens- und Todestrieb. Er will zu Felice und damit das Ende seiner bisherigen Existenz. Mein Leben ist das unendliche Zögern vor der Geburt; Vielleicht bedeutet Existieren nur Akzeptanz des Unverständlichen. Jede Stunde heimlich dem Schicksal gestohlen. „Wir können uns in die Überwelt des noch Ungeborenen hinein tragen, wenn wir die konkrete Welt überwinden. Aber zentnerschwer hängt der sichtbare Himmel über uns und lässt unseren Kopf nicht durch die materiellen Wolken hindurch.“8
Seltsam fallen die Tage dahin in bleierner Schwere vollendeter Monotonie. Selten erreicht seine Gangart ein scharfes Allegro, nun gehen Sie schon, ruft Franz dem Kafka zu, verbunden mit einer müd gewordenen Telefonschnur, gestern hätten ihm ihre verhaltene Antwort nutzen mögen und mehr noch die ungestellte Frage, doch heute denkt er nur noch an das Amt, den unaufgeräumten Bürotisch, das Leben hinter den Zahlen verschwindend, noch nicht in ihnen aufgehend und den lamentierenden Vater, der den Nachteil nicht ganz schließender Wände der schlecht beheizten Wohnung beklagt. Für einen Ausweg ist es längst zu spät, also wird er sich weiter gedulden müssen.
Am Ende geht es doch nur um eines: „in gesteigerter Erlösung vergessen - sein wie all ihre Brüder.“9 Der Künstler muss blind sein für alles, was ihn umgibt, um sehend zu werden für das Besondere, das in allem ist. Wie mit einem Sprunge muss er im Inneren atmen hören und flüstern die Gänge, die Wände und selbst noch das letzte Ohr. Diesen unerträglichen Geräuschen muss er standhalten, auch die vergitterten Fenster muss er als seine Freiheit begreifen lernen. „Die Grundschwäche der Menschen besteht nicht etwa darin, daß er nicht siegen, sondern daß er den Sieg nicht ausnützen kann.“ Die gegebene Freiheit ist schon keine mehr, nur die selbst errungene, sich abverlangte tägliche Mühe darf als solche gelten.
Er horcht auf. Stille auf dem Gang. Schwere Schritte, die Stiefel seines Vaters, auf dessen Grund er schwankend wird. Ist die Erinnerung noch präsent, an das Unglaubliche, das ihn durch die Gitterstäbe seines hölzernen Bettgestells für immer von der atmenden Sorglosigkeit abgetrennt hat? Ist es nicht eigenartig, welche Gefühle die Einsamkeit umschließt und in Selbstverlassenheit sich senkt wie ein blauer Federkiel, der mit Blut ge-schrieben die Maschinerie der Gedanken schmierte, keinen Platz
lassend für andere Bilder als das Grauen. Der Vater geht in die Küche, Dort wird er sehen, dass sein Sohn die für ihn zubereitete Speise nicht angerührt hat, er wird lächeln über die Ängste seines schwächlichen und stets ein wenig kränkelnden Sohnes, der es nicht über seine leichenblassen Lippen brachte, von angegrautem Brot zu essen oder sich von einer bereits angeschnitten und vom Alter befleckten Frucht zu nehmen.
Sein gedankliches Kreisen um den Vater gleicht dem Kreisen um einen Turm, das ein anderer Sohn Prags beschrieb. „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise Jahrtausende lang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“10
Er sucht die Stille, ist kein guter Redner, aber ein umso besserer Beobachter und Zuhörer, ein Genießer der Ästhetik des Schweigens. „Die erzählende Prosa von Kafka und Becket wirkt verwirrend, denn sie scheint den Leser dazu aufzufordern, ihr hochgradige symbolische und allegorische Bedeutungen zuzuschreiben, und weist dabei diese Zuschreibungen zugleich zurück.“11
1 I. 2. Die gelöste Verlobung
Entzweit, schon zum zweiten Male - wie einst Kierkegaard und Strindberg vor ihm. Aus ihm würde kein Werther werden, so viel war sicher. „Besserer Zustand, weil ich Strindberg („Entzweit“) gelesen habe. Ich lese ihn nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu liegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem linken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr, abzugleiten, beim elften Versuche sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht. Der ungeheure Strindberg. Diese Wut, diese im Faustkampf erworbenen Seiten.“12
Gelebte Ambivalenz! Verzweifelter Krieg gegen das ge-schlechtliche Keuchen und Zittern, jenes entwürdigende Stoßen und Brabbeln, Seufzen und Quieken, wo sich stets Elementares und Dämonisches begegnen. Des Mannes Verhältnis zum Weibe ist es, „worin die Polemik gegen moderne Emanzipationsideen die geringste Rolle spielt und eine desto größere der ewige mythische Todhass der Geschlechter. Es gibt in keiner Literatur eine teuflischere Komödie als seine Eheerfahrungen, als seine Verfallenheit an das Weib und sein Grauen vor ihm, seine heilig monogame Verehrung und Verklärung der Ehe und sein völliges Unvermögen, es darin auszuhalten.“13
Entzweit einsam. Schon die Titel eine Verheißung nach Untergang, dem Inferno aller Geschichten des Ehestandes. „Im ersten Jahr wurden natürlich eine Menge von Illusionen über die Ehe als einen Zustand absoluter Seligkeit zu Grabe getragen; im nächsten Jahr kam das Kind, und nun lies ihnen die Mühsal des Lebens nicht mehr viel Zeit zu Grübeleien übrig.“
Felicitas, mit herb männlichen Zügen und energischem Gesicht Dame passt nicht zum viel zu ernsten Kind, das Franz nun einmal ist. Die Vermittlungs- und Schlichtungsversuche der Freunde vermögen den gordischen Knoten nicht zu lösen. Wie gotische Kathedralen stehen sie sich gegenüber, schweigend, aber nicht schweigsam genug. Sieht sie nicht, dass alles, was er ihr zu sagen hat, in den Briefen bereits gesagt ist? Hier hat er die Zeit, exakt zu formulieren, bis das Gefühl sich entschwindelt hat. „Wir müssen neu anfangen“ lautet seine Botschaft, die er an
Felice sendet. Seine Liebe gleicht dünn gestreichelten Umrissen, übervorsichtigem Annähern und leisem Verteidigen der jüngst eroberten Stelle. Sie nur in Briefen zu umarmen ist auf Dauer unmöglich, aber nichts kann schöner sein als das erste Verlangen. Durch das als Verhör empfundene Gespräch im Askanischen Hof ist der Unschuld letzter Zeuge bloß gestellt. Er wird es lebenslang seine Inquisition heißen und das Urteil seinem Prozess einverleiben. Er ist zu müde, um alles einzusehen.
In jenem Berliner Hotel, am 12. Juli 1914, fügt sich seinen traumatisierten „Forschungen eines Hundes“14 ein weiteres Mosaik seines Zögerns hinzu. Kindlich böse Worte verlassen dort ihren zärtlich der Unschuld beraubten Mund. Vorwürfe, so lange versteckt und heimlich unter ihrem Herzen genährt, genug gewachsen, um ihn zu prügeln. Sie schien das Ver-trauen oder die Geduld in seine künstlerische Existenz verloren zu haben. Das feste Unverrückbare zwischen ihnen ward schwankend geworden. Eine Seite in seinem Tagebuch fehlt seither, da er es nicht erträgt, das Geschriebene bei sich zu er-halten. Erst nach mehrfachem Erbrechen sendet er ihr folgende Zeilen. „So wenig ich sein mag, niemand ist hier, der Verständnis für mich im Ganzen hat. Einen haben, der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hieße Halt und auf allen Seiten haben, Gott haben.“15
Gott zu finden ist schwer, der Ausbruch des Krieges fällt da schon leichter. Er fühlt nur die Last in der Lust nach dem der flüchtig einander suchenden und fliehenden Geschlechter. Da er nicht eingezogen, sondern für untauglich befunden wird, fühlt sich Franz um das Recht der Selbstbehauptung betrogen. Er formuliert eine Petition an die Geschäftsleitung, doch er gilt als unverzichtbarer Bestandteil des Unternehmens, einer zu Fleisch gewordenen Akte. Sein Vater glaubt, vom Krieg profitieren zu können und erwirbt eine Fabrik. Für einen wie ihn erscheint das schlimmer als Krieg, denn dessen Logik ist klar und bedarf keiner Entscheidungen. Er fällt in Depression, will der Versicherungsanstalt kündigen, tagelang liegt er nur im Bett, eine Verwandlung greift in ihm ein und durch.
Er will ausziehen, sich endlich von der Familie lösen, er hasst die ihn nährende und zugleich fesselnde Sicherheit. Die Versicherungsanstalt ködert ihren Angestellten mit Beförderung. Er fühlt sich schuldig, wagt nicht, seine Kündigung abzugeben. Der Krieg macht ohnehin all seine Pläne zunichte. In den Tod darf er nicht, er ist zum Leben verurteilt. Seiner Entlobung folgt der drohender Bankrott des Vaters, Eruption der blutigsten Schlachten, köstliche Katastrophen für den Liebhaber des Untergangs und Tragödiendichter. Verzweifeltes Verlangen nach intimen Momenten, Inseln des Glücks, Wonnen der Behaglichkeit staut sich, findet kein Echo, verliert sich im Raum.
Gespenster regieren Prag, Gespenster und Beamte, die bleiben dürfen am behaglichen Herd. Er fühlt sich wie ein Käfer, zertreten und nutzlos, am Boden kriechend, zornig und doch noch immer um Vorsicht und Rücksichtnahme bemüht. Getrennt von der Gewöhnlichkeit und dem unentbehrlichen Ritual, mit Freunden im Kaffee die geheiligte Poesie zu besprechen. Sie alle dienen nun an der Front: Werfel und Weiß sogar mit ihn beängstigender Begeisterung. Alle sind weit weg entschwunden, räumlich und gedanklich.
Die stille und treue Ottla, die geliebte Schwester, wandelt zum ersten Mal und unverhofft für den älteren Bruder auf Amors Wegen, zerreißt den heilige Bund zweier einsamer Seelen. Ein Fremder hat sich auf die Schwelle gestellt. Tscheche, Beamter, in Zahlen aufgehende Rechenmaschine und damit kein wirklicher Mensch, kein Nachbar, an dessen Tür er klopfen will. Er versteht es wohl, sie sucht einen mächtigeren Bündnispartner für ihre Rebellion, die er selbst oft versucht, aber nie erprobt hat. Der Bankbeamte flößt selbst dem autoritären Vater Respekt ein, jeder Zorn prallt an der Rechenmaschine ab, Ottla zieht aus. Widerspenstigkeit und bewusster Wille haben die entschlossene Tat gezeitigt, zu der er sich nie hat aufraffen können. Er bleibt zurück, allein und seiner mächtigsten Waffe beraubt, dem Entrinnen zu ihr, der zärtlich gehüteten Schwester. Sie ist dem „hei-matlichen Rudel“ entlaufen und auf das Land gezogen, von wo aus sie die Familie mit Milch, Obst und Gemüse versorgt. Was bleibt, ist das stumpf-sinnige Nebeneinander von stummen Schreien auf nächtlichem Flur. Franz vermisst Ottla, ihr wissendes Lächeln, ihre heimlichen Botschaften, das verständige Zuhören. Ein fremder Verführer hat das einst misstrauische Mädchen abgelenkt vom geschwisterlichen Weg.
Sein Leiden wird fruchtbar für das Schreiben. August1914, wie die Massen hysterisch aufschreien, Blut mit Eisen und Dampf fordern und die heilig ernüchterte Schläfe unter blass-blauen Schatten der Lider zuckt. Wenig später sieht er sich Ott-la, seiner Auserwählten treuesten Zuhörerin, vielleicht der Ein-zigen, die zwischen den Zeilen zu lesen versteht, beraubt. Die Erzählung „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Land“ entsteht. Es hätte die seine werden sollen, doch die ihre ist es geworden. Der unentschlossene, weil unglückliche Bräutigam Raban flüchtet vor traurigem Regen in Tagträume und die tröstliche Vorstellung, die schwere Zeit im Winterschlaf als großes Insekt zu verbringen. Er schickt seinen abgelösten Körper auf die Reise zur Braut, aufs Land, auf dem Ottla nun wohnt. Geschichten des Verkriechens und Eingrabens gibt es viele bei Kafka. „Ich suche mir ein gutes Versteck und belauere den Eingang meines Hauses.“16 Neunmal wechselt er die Wohnung im selben Quartier.
Täglich steigt in sein Haus hinab mit verwelkenden Gesten wie in ein Grab. Allnächtlich verliert sich in den Gassen Prags
die dem anthroposophischen Labyrinth eines weit verzweigten Höhlenbaus gleichen. Der Mensch als zoologischer Garten. In-sekt, Hund, Schakal, Affe, Dachs. Wer ist er wirklich oder doch alles zugleich? Er will sein Haus nicht mehr verlassen, wie ein toter, wie Jäger Gracchus, der zur Unzeit heimgetragen wird und nicht begreifen mag, dass er schon lange an seiner Angst gestorben ist. Der Jäger hat sich auf das Lauern eingerichtet, das verendende Tier, seine Beute, seinen Tod. Er möchte sein „Leben in der Beobachtung des Eingangs zu verbringen und immerfort mir vor Augen zu halten und darin mein Glück zu finden, wie fest mich der Bau, wäre ich darin, zu sichern imstande wäre.“
Er vergräbt sich, seine Wut und seine vertagte Lebenslust. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt, sein Leben im Konjunktiv zu führen. Ist es überhaupt noch seine Existenz oder nicht schon längst die eines anderen, den er zu beobachten einfach nicht zu unterlassen vermag?
1 I. 3. Fieberträume oder die Agonie des Verstummens
Kierling, Klosterneuburg, Niederösterreich. Die andere Seite des Mondes. Zerstörtes Gewebe, wohin man auch blickt. Süßlicher Geruch des Todes beim Ausatmen. Fortwährender Durst, ins Unerträgliche gesteigert, wenn andere trinken. Ein Glas Wasser vor seinen Augen, unerreichbar von eigener Hand zu trinken und höllische Schmerzen, es Tropfen für Tropfen zu leeren. Es geht alles langsam, rückwärts, sprachlos. „Ich kämpfe, niemand weiß es …ich erfülle meine täglichen Pflichten. ... Natürlich kämpft jeder, aber ich kämpfe mehr als andere. Etwas ist allerdings anders…ich rede vom Freigelassen-sein, es ist nur ein Erklärungsversuch aus Not.“17
Max sitzt an einem Ende des Bettes, Dora an dem anderen. Die letzten Zeugen eines unwürdigen Zuckens. Die Lungentuberkulose, der Kehlkopf geschwollen, zum hässlichen Pfeifen und Röcheln verdammt, ein lebendig Begrabener, ein spindeldürrer Verwesender. Max repräsentiert die dem Patienten verschlossene Welt des praktischen Tuns, des Erfolgs und des Glücks, das sich mit beiden Händen packen lässt. Er hat geschafft, wozu Franz nie in der Lage gewesen ist, Heirat und Kinder, das Schreiben läuft wie von selbst neben seinem Beruf her, seine Lesungen weisen kaum Lücken im Publikum auf. Dora, diese kraftvolle Frau, fünfzehn Jahre jünger als der Siechende, die nichts kennt außer den kommenden Sommer und die Liebe zum einfachen Leben, selbst ihn weiß sie noch mit lächelnder Gebärde zu streicheln. Das väterliche Veto, sie sei eine nicht standesgemäße Erscheinung, für ihn ein Donnerschlag, hat sie nicht einmal betrübt. Wenn sie mitleidet, so tut sie es still und nicht vorwurfsvoll, da er sie mittellos zurück lassen wird auf dieser Welt. In vielem gleicht der todkranke Franz dem Hungerkünstler und Mäusesänger aus seinen letzten Erzählungen. Er ist abgemagert, besteht nur noch aus Schatten und Schmerz. Lieber wären ihm die Morphiumspritze und der folgende gläserne Schlaf als das unwürdige Stammeln.
Max bringt die Korrekturfahnen zum „Hungerkünstler“, auch wenn er weiß, die frisch gedruckten Blätter wird ein anderer riechen, so will er sein Werk vollenden. Ein Todgeweihter bittet darum, diese letzte Qual zu lassen. Eine Träne quillt verstohlen, aus seinem scheuen Augenwinkel hervor, als würde sie sich ihrer Geburt schämen. „Wie ich zu essen anfing, senkte sich im Kehlkopf irgendetwas, worauf ich wunderbar frei war.“18
Vor dem Gesetz kämpfen alle nur einen Kampf, denn es gibt keinen Selb-ständigen im Krieg mit sich selbst. So steht es auch in der Erzählung vom „Bau der chinesischen Mauer“, die doch die Mauer aller Menschen ist. Was macht uns mehr zu Brüdern als das Bewusstsein von Leid und Schmerz, wenn seltsam sich schmiegen die Lippen an Staunen? Dora schenkt ihrem Verlob- ten ein dem Vergessen abgerungenes Lächeln, das sich an keiner Welle bricht. Ob er sich vor dem Sterben fürchtet, fragt sie mühelos beinahe, es und er antwortet ihr, unterbrochen von rotem Husten, mit einem Satz aus dieser Erzählung: „Den Glauben muss man richtig verteilen zwischen den eignen Worten und den eigenen Überzeugungen.“19
Führen Frage und Antwort noch zueinander oder trennen sie nur was im Schweigen noch Vereinigung finden? „Früher be-griff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort be-kam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können…“20 Dora glaubt, einem Sterbenden dürfe man keinen Wunsch abschlagen, doch dies ist falsch. Man darf ihn nicht länger belügen, das genügt. Max zittert beim Anblick seines schwächlichen Körpers und glaubt doch an Rettung durch ein Wunder. Denn wen Gott liebt, den züchtigt er, aber den vernichtet er nicht. Max glaubt an das unsterbliche Talent hinter der gebrechlichen Fassade, er hat es immer gesagt, der Franz ist unvergleichlich, doch wer schenkt seiner weltgewandten Zunge Ge-hör schenken? Seine Schwellungen am Kehlkopf, Tod durch Ersticken, das ist umso vieles realer als träumerische Poesie. In seinen kalten braunen Augen, in denen noch ein Duft des letzten Herbstes liegt, flüstert er ihm zu: „Es gibt kein Haben, nur … ein nach letztem Atem nach Ersticken verlangendes Sein.“ Gedulde doch noch ein wenig, antwortet der Freund, du wirst wieder gesund, wirst schon sehen, und glücklich. Franz aber lächelt boshaft in sich hinein. Was ihn glücklich macht, besitzt auch die Kraft hat, ihn zu zerbrechen.
1 I. 4. Das Vater - Sohn Verhältnis
Viele der in den Tagebüchern ausführlich niedergeschriebenen Träume beziehen sich auf den allmächtigen Vater. Einer davon handelt vom Versuch des Vaters, aus dem Fenster zu springen und dem des Sohnes, ihn zurückzuhalten. „Aus Bosheit streckt er sich noch weiter hinaus … Ich denke daran, wie gut es wäre, wenn ich meine Füße mit Stricken an irgendetwas Festem anbinden könnte, um nicht vom Vater mitgezogen zu werden. Allerdings müsste ich, um das zu bewerkstelligen, den Vater wenigstens ein Weilchen lang loslassen.“21
Dieser Traum ist an Symbolkraft wie die Aussage in der Niederschrift an Eindeutigkeit kaum zu übertreffen: Kafka vermag seinen Vater nicht loszulassen; gerettet will er von ihm ohnehin nicht werden und zugleich fürchtet der Sohn, durch den Vater in einen Abgrund gerissen zu werden. Omnipotenz und Ohnmachtsgefühle wachsen mit jeder leidvollen Erfahrung.
In einem anderen Traum sieht er seinen Vater als Redner, dessen an eine Predigt erinnernder Monolog das Publikum zu überzeugen versucht. Die Rede ist schlecht, die Idee nicht originell, der Durchfall bei den Zuhörern vorprogrammiert, da „er es weder von der Originalität noch der Brauchbarkeit seiner Idee überzeugt hat.“ Am Ende sitzt der Vater allein und auf dem Boden, fühlt sich aber noch immer im Recht. Kafka füllt nur die Lücken im Publikum als ein hilfloser Beobachter in gelähmter Passivität des Leidens.
Die Situation zu Hause bleibt stets angespannt, die Mutter schweigt, der Vater ist laut, grob, autoritär und gibt seinem Erstgeborenen zu verstehen, dass er mehr Entschlossenheit und Männlichkeit von ihm erwartet. Er argumentiert mit Sätzen aus der Tori, gegen die sich der Sohn nicht wehren darf und mit seiner entbehrungsreichen Zeit, gegen die er sich nicht wehren kann. Von klein auf sieht sich der Sohn mit Schuldgefühlen bela-den, da er es nicht nur besser haben soll, sondern auch muss, um das bitterste Los auf Erden ist zwischen ihnen entbrannt, ein Duell, das der Sohn nicht gewinnen kann, weil er nur Anwalt, der Vater aber der Richter ist.
Zunehmend gewinnt die Monotonie an Raum. „Trostloser Abend heute in der Familie … Vor Langeweile dreimal im Badezimmer hintereinander mir die Hände gewaschen.“22 Besonders nach den Zerwürfnissen träumt Kafka schlecht und schreibt am folgenden Tag nichts. Er hasst die peinlich bürokratische Sorgfalt an sich selbst, die ihn zu sehr an den Vater erinnert, die väterlich „abergläubischen Vorsichtmaßregeln“, doch er ist seines Blutes. Kafkas Selbstaussagen zufolge fürchtet er sich vor dem Vater, besonders „wenn er vom Letzten, von Ultimo sprach.“ Sein Leben erscheint ihm abgezirkelt, zweck- und bedeutungslos, aufgegangen in Zwang und Ritual, manchmal Hass. „Ich habe geradezu mich in Haß gegen meinen Vater geschrieben.“23 Er träumt von einem Windhund - Esel, der aus-sieht wie der Vater, nur etwas kleiner. Im Fremden spiegelt sich die Erweckung des höheren Selbst. Vielleicht ist der Vater dazu da, ihn anzutreiben, ein besserer Mensch zu werden.
Hermann Kafka bringt eine traurige Geschichte mit in die Familie: den Selbstmord seiner Mutter, die sich in der Elbe er-tränkt, weil sie über den Tod ihres Mannes nicht hinwegkommt und glaubt, des Überlebens schuldig zu sein. Das Gefühl, kein Recht auf Leben zu haben, überträgt sich auf Enkel Franz. Er leidet unter der Minderwertigkeit, von schweren Gewichten behangen unterzugehen, ist ihm nicht fremd.
Zwei Selbstaussagen Kafkas verdeutlichen eine, an Autismus grenzende, Isolation: „Ich bin ein verschlossener, schweigsamer, ungeselliger, unzufriedener Mensch … Ich lebe unter meiner schließlich hat er nicht so gelitten wie der Vater. Ein Zweikampf meiner Familie fremder als ein Fremder ... Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich.“ „Wo finde ich Rettung? Zu meiner Befreiung wäre ein Hammer nötig, der mich vorher zer-schlägt.“
Für das bürgerliche Familienleben fehlen ihm Talent, Neigung, Ehrgeiz und Willenskraft. Als ihn der Vater zur Mitarbeit und einer finanziellen Beteiligung in seiner Asbestfabrik nötigt, schreibt er: „Wenn ich mich töten sollte, hat gewiß niemand Schuld … Ich gehöre hinunter, ich finde keinen anderen Aus-gleich.“ Früh gewinnt er die Überzeugung, den Vater nicht überleben, nicht gegen ihn gewinnen zu können und steht unter dem Bann des erdrückend dominanten Vaters. Das störrisch-eigenwillige Verhalten Kafkas gleicht der „Verweigerung der Erwartung und der Eingliederung in bürgerliche Ordnung“.
Er empfindet seine Existenz als Unglück, das mit stetem Zweifel und scharfem analytischen Verstand einhergeht. Wie weit Selbstmordfantasien ihn suizidal gefährden oder verdrängte Mordlust am Vater sind, bleibt ödipale Spekulation, doch sind Selbstanklagen unübersehbar; Kafkas Essstörung scheint auf die väterlichen Tiraden beim Mittagstisch zurückzugehen; die Geräuschempfindlichkeit auf das cholerische Temperament des Vaters. Der Patriarch weiß mit seinem hypersensiblen, scham-vollen Sohn nichts anzufangen. Er drängt ihn, ein Bordell auf-zusuchen, damit er nicht krank werde und um nicht aus sexueller Not zu heiraten. Ihm droht das Schicksal des ewigen Junggesellen. Die väterliche Autorität ist Fleisch gewordene Gesetz.
Brief an den Vater
Mehrfach schreibt Kafka seinem Vater einen Brief zur Aus-sprache, doch er schickt keinen von ihnen ab. Sein als Erzählung veröffentlichter Brief (1919) wird daher meist als biografischer Beleg gewertet, doch es bleibt ein Kunstwerk, ein Kunstgriff zwischen stilisierter Fiktion und Erinnerung, in dem der Sohn Kläger und Verteidiger zugleich ist, eine typische Haltung Kafkas gegenüber einer realen und doch imaginierten Erscheinung des Vaters. Publik wurde der Brief erst 1952, da Kafka ihn als Vertrauensbeweis 1920 seiner Geliebten Milena übergab. Auf Umwege geriet er spät in die Hände des Nachlassverwalters Max Brod. Von den vielen Themen, die Kafka darin unmittelbar nach seiner zweiten aufgelösten Verlobung (mit der unstandesgemäßen Julie) aufgreift, sind einige paradigmatisch, insbesondere die Selbstanklage.
Das Thema der Schuld klammert die singulären Bereiche, denn offensichtlich sieht sich der Sohn sowohl mit Fremd- als auch Selbstvorwürfen konfrontiert. Das erste Sujet betrifft das Kräfteverhältnis. „Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich … Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdiger Weise – Selbstbeklagung …“24
Schuld ist ein großes Wort, größer noch als ein Grab es tragen kann. So sieht sich der Sohn täglich mit Fremd- als auch Selbstvorwürfen konfrontiert. Das erste Sujet betrifft das Kräfteverhältnis. „Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich … Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdiger Weise – Selbstbeklagung …“
Es ist wie ein Spaziergang kurz vor der „Hochzeit auf dem Lande“, einer Hochzeit, die nie stattfindet: um den Namen der Braut zu vergessen, muss man sie erst geheiratet haben. Offensichtlich hat der Vater seinem Sohn auch durch die Schilderung seiner Armut ein schlechtes Gewissen (erfolgreich) eingeredet. Der Zwang sich zu vergleichen spielt eine Rolle in ihrem Verhältnis. Dies gilt nicht nur für Gesetz und Autorität, sondern auch zu einem Wunsch; und vor allem bezieht es sich auf die Gegenüberstellung der väterlichen (Kafka) und der mütterlichen (Lewy) Linie. Die Ambivalenz und Suche nach Identität spiegelt sich in der Familienherkunft und charakterlichen Gegensätzen.
Kafka betont seine Ängste und wie schwer es ihm fällt, sich von diesen als Erwachsener zu lösen. Als Beispiel führt er an, wie ihn der Vater, um seine Nachtruhe zu gewährleisten, in der Nacht auf den kalten Vorzimmerflur stellte, weil er als Kind so laut schrie. Blicke und Gesten verdeutlichen Ohnmacht; Blicke, die ihn als Kind vernichteten und selbst als Erwachsener schwer demütigen „oft mit beherrschendem Gefühl der Nichtigkeit“.
Neben dem Komplex seiner Inferiorität und seiner Scham, dem väterlichen Wunschbild eines Sohnes nicht zu entsprechen, thematisiert Kafka das Recht zu strafen. Wenn der Vater das Gesetz verkörpert, dann spielt das Recht, es einzusehen, anzufechten oder zu umgehen, eine zentrale Rolle. Der Sohn schildert den Vater als gnadenlos in seinem Urteil und zudem, weit wichtiger, als undurchschaubar in seinen Begründungen.
Hermann Kafka scheint keine politische, religiöse, nicht einmal eine private Meinung zu haben; alle sind ihm verdächtig und schuldig. Nichts schien ihm eindeutig zu ge- oder zu missfallen. „Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen … man war gegen dich vollständig wehrlos.“. Im Haus Kafkas herrscht das Recht des despotischen Patriarchen, dem alles erlaubt ist und dem Gehorsam zu leisten ist. Kafkas eigene Solidarität mit den vermeintlich Schwächeren leitet sich daraus ab. Problematisch ist jede Form der Kommunikation: „Ich konnte nicht auswählen. ich mußte alles nehmen. Und zwar, ohne et-was dagegen vorbringen zu können, denn es Dir von vornherein nicht möglich, ruhig über eine Sache zu sprechen…“
Das Recht und die Rechtfertigung, frei entscheiden zu dürfen, bleiben ein Scheinrecht für den Sohn, der das Reden verlernt und mit ihm das fließende Sprechen. Alles im Hause ist nicht geborgen, sondern fremd, nicht vertraut, sondern erkämpft. Der Vater hat Macht, der Sohn ist sein „Erziehungsergebnis“ und betont: „Du verstärktest nur, was war, aber du verstärktest es so sehr, weil Du eben mir gegenüber sehr mächtig warst und alle Macht dazu verwendetest.“ Vielleicht erklärt dies den Titel von Kafkas: „Beschreibung eines Kampfes“: „Ich war bald erledigt; was übrig blieb, war Flucht, Verbitterung, Trauer, innerer Kampf.“
Die Alternativen bilden Gehorsam und Auflehnung oder Flucht. „Man wurde ein mürrisches, unaufmerksames, ungehorsames Kind, immer auf eine Flucht, meist eine innere, bedacht.“ Eine Form der Flucht, sogar die wichtigste in Kafkas Augen neben dem Schreiben, ist die Ehe. „In Wirklichkeit wurden die Heiratsversuche der großartigste und hoffnungsreichste Versuch, Dir zu entgehen, entsprechend großartig war dann allerdings auch das Misslingen.“
Die Ehe hat mindestens widersprüchliche Aspekte für Kafka: er bewundert sie als höchste Ehre, verbunden mit der Eigenständigkeit, auf den eigenen Füßen stehen zu können. In seinen Aphorismen, die zeitgleich mit dem Brief entstehen, schreibt er: „Das Glück begreifen, dass der Boden, auf dem Du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.“25
Erst mit der Ehe ist das Terrain gegen das Väterliche abgesteckt. Da sie nicht erfolgt, fühlt sich Kafka minderwertig und isoliert. Der Bau der chinesischen Mauer erinnert an Gefangenschaft, Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der Starre bis zur Versteinerung. Andererseits betrachtet Kafka die Ehe als einen Kampf gegen die eigene Schwäche, Entscheidungen zu treffen. Die Verantwortung für eine Frau soll ihn gleichsam erhöhen, ihn befreien aus dem alten Kleid kindlichen Verhaltens. Ferner beinhaltet Ehe die Anerkennung der Sexualität, mit der Kafka seine Probleme hat, wie das Verhältnis zu den Frauenbekanntschaften nahe legt. Aufgrund des väterlichen diametralen Sittenkodexes sind keine zweideutigen Liebschaften zulässig, folglich kann er nur im Ehestand seine Scham überwinden.
Viertens bildet die durch Krankheit bedingte physische Schwäche für Kafka einen Makel, gleichzeitig befreit sie ihn von konkurrierenden Bedürfnissen. Erst als Ehemann fühlt Kafka sich dem Vater ebenbürtig. Ob dieser ihn als Ungeziefer beschimpft, was in „Die Verwandlung“ geschieht, bleibt spekulativ. Über den direkten Bezug der Formulierung „Tod durch Ertrinken“ in „Das Urteil“, das die Entlobung und eine Verfehlung des Sohnes zum Gegenstand haben, bestehen kaum Zweifel.
Ausführlich schildert Kafka in seinem Brief, wie er als Sechzehnjähriger eine Bemerkung des Vaters so auffasst, dass Geschlechtsverkehr stets geheim wie unter einem Stigma erfolgen müsse. Als peinlich empfindet er die Weisung, ins Bordell zu gehen, notfalls mit dem Vater zusammen, damit er ihm mit einer unüberlegten Vermählung aus sexueller Not keine Schan-de mache. Den negativen Höhepunkt der Einmischung liefern sein Forcieren der Hochzeit mit Felice (auch ein Grund, die Verlobung zu lösen) und das anschließende Veto gegen Julie. Die ausdrücklich tiefste Demütigung er-fährt Kafka mit den sinngemäß wiedergegebenen Worten: „Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das Prager Jüdinnen verstehen und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch …“26
Schuld ist das häufigste Wort und damit Leitmotiv Kafkas. Die Furcht, die Kinder zahlen den Vätern die eigene Schuld heim oder erben die Schuld der Väter ist auch für Kierkegaard, der wichtigsten Inspirationsquelle. Seine Lektüre bleibt zwischen 1916 und 1921 neben der von Kleist stets präsent. Es sind die Jahre, in denen er sich wie der Däne gegen die Ehe und gegen die Verpflichtung der Nachkommenschaft entscheidet. Kafka fühlt sich diesem Druck nie gewachsen. Wie Kierkegaard, der unter der Furcht eines Familienfluchs leidet, hält er sich für unzureichend, eine eigene Familie zu gründen.
Sein bevorzugtes Goethes ist nicht zufällig „Hermann und Dorothea“, das vom Konflikt zwischen Vater und Sohn handelt, der, ausgelöst wird durch die Weigerung des Vaters, Hermann die Brautwahl zu überlassen. Der Sohn wird dazu verurteilt, über den Vater hinaus zu streben oder zu sterben, was geschieht.
Um Abstand von seinem Vater zu gewinnen, geht er viel allein spazieren. Einige Seltsamkeiten Kafkas erklären sich aus seinem Ohnmachtsgefühl, etwa die Abneigung gegen Regen, weil er sich diesem mehr oder minder schutzlos ausgesetzt fühlt.
In zahlreichen kurzen Erzählungen, meist Parabeln, be-schreibt Kafka zudem seine Flucht vor dem Vater unverschlüsselt. „Der plötzliche Spaziergang“ etwa besteht nur aus einem einzigen Satz, beginnend mit „Wenn man sich am Abend end-gültig entschlossen zu haben scheint“27 - ein Widerspruch in sich. Der Gedanke beschreibt wie häufig ein Dilemma, das auf eine Entscheidung drängt „… und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht …“
Kafka beschreibt die „schon unerwartete Freiheit“ auf der Gasse als ein Bedürfnis nach schneller Veränderung, dem Kreis der Familie zu entgehen; „dann ist man für diesen Abend gänz-lich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenslose ab-schwenkt, während man selbst, ganz fest, … sich zu seiner wah- ren Gestalt erhebt.“ In wenigen Worten hat Kafka mit einer Kleinigkeit schon alles über den Zwang gesagt. Die Kreisbewegung (hermeneutischer Zirkel) führt zu seiner Beschäftigung mit Erkenntnissystemen, die redlichen Willen zur objektiven Wahrheitsfindung mit mathematischer Präzision bekunden.
Einer seiner Aphorismen ironisiert den Anspruch auf objektives Erkennen aus der Subjektivität heraus: „Ein Philosoph … glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also z. B. auch die eines sich drehenden Kreisel genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen … war die kleines Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel.“28
Er meint, das Leben der anderen zu leben und sich selbst dabei zu entfremden, so, als würde man sich als Erwachsener immer mehr vom eigenen Kern entfernen. Atemzüge eines Sommertages später sind wir in die unförmige Masse der anderen aufgegangen. „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht … Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei der Sache“: wir haben eben unser Herz nicht dort — und nicht einmal unser Ohr! …: wer sind wir eigentlich? … Wir bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehen uns nicht, wir müssen uns verwechseln…“29
1 I. 5. Die Frauen Kafkas
Felice Bauer
Kafka lernt die vier Jahre jüngere Berlinerin Felice Bauer (ihr Vater ist wie Kafka Versicherungsvertreter) August 1912 in Prag kennen. Seine erste Bemerkung über sie notiert er am 13. August, wo er sie als unscheinbar, „knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug“ wenig vorteilhaft beschreibt. Sie arbeitet als Prokuristin und Messerepräsentantin für eine Firma, die Diktiergeräte vertreibt, „Lärmtrompeten des Nichts“. Er empfindet sich als zu schwächlich, ungebildet und unrein für einen Flirt. Seinem Tagebuch vertraut er an, er müsse sich sein Glück erst durch Leid erarbeiten. Insgesamt fünf Jahre währt ihre physische Beziehung, wenn man die wenigen Treffen zwischen zwei Ver- und zwei Entlobungen so nennen will. Die letzte Zusammenkunft ereignet sich Weihnachten 1917.
Möglich, dass er sich zu einer Ehe zwingen will und vergeblich auf das Verliebtsein wartet. Möglich ist auch Versagens-angst und Impotenz, erfahren ist der junge Mann nicht. Angst erweist sich mit Scham als zentrales Lebensgefühl Kafkas, bei-des bleibt mit Schuld verbunden. Die biblische Verleugnung der Frau erwähnt Kafka als Mythos mehrfach in seinen Tage-büchern, als ob er seine Schwäche durch das Alte Testament zu rechtfertigen suchen würde. Dafür spricht auch seine in Briefen wie Tagebüchern anklingende Reue, seine Selbstverurteilung, in „Das Urteil“ und „Der Prozess“, die Kafka nach der Auflösung der ersten Verlobung 1912 niederschreibt aus dem Gefühl der Sünde heraus (wie er selbst sagt). Nach der zweiten Entlobung 1917 entstehen die Erzählungen „Ein Landarzt“ und „In der Strafkolonie“, die thematisch mit ihnen konvergieren.
Kafka wird während seiner Verlobung von Gewaltfantasien in seinen Träumen heimgesucht, wie aus Tagebüchern als auch Briefen an Felice hervorgeht. Als Beispiel dafür dient die nicht veröffentlichte und Fragment gebliebene Erzählung vom 22. Juli 1916. Sie beginnt mit den Worten: „Sonderbarer Gerichtsgebrauch. Der Verurteilte wird in seiner Zelle vom Scharfrichter erstochen, ohne daß andere Personen zugegen sein dürfen.“30
Die Erlaubnis zum geheimen Töten kommt auch in anderen Geschichten vor, ebenso wie die der Dialog von Henker und Opfer, die in bestem Einvernehmen zur Hinrichtung schreiten, solange dabei nur die Form gewahrt bleibt. So sagt der Verurteilte: „Gerade weil es unmöglich ist, ist dieser sonderbare Gerichtsgebrauch eingeführt worden.“ Gebiss, Geräusche und Gerüche verraten ihm mehr als ihr lockendes Versprechen.
In allen genannten Erzählungen kommt der Verurteilte gegen ein übermächtiges Naturgesetz nicht an, sein Urteil steht fest und eine Rebellion ist zwecklos. Zwei Aussagen belegen, dass der Zusammenhang von schuldhafter Geburt und schuldhaftem Leben ein kafkaeskes Leitmotiv ist, das auf Bindungs-angst beruht. „Der Anblick des Ehebettes zu Hause … kann mich bis zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen kehren, es ist, als wäre ich nicht endgültig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in diese dumpfe Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen … noch an meinen Laufen wollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei… und kann doch ohne verrückt zu werden gegen das Naturgesetz nicht revoltieren, also wieder Haß und nichts als Haß. Du gehörst zu mir, …ich kann nicht glauben, daß um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir.“31
Elias Canetti behandelt das Beziehungsdrama in „Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice“ (1984) als eine „Geschichte des fünfjährigen Sich Entziehens“. Er sieht sich zugleich als ein Opfer und Verurteilter, aber auch als Täter. Sein Zögern stellt bei den strengen jüdischen Konventionen Felice und ihre Familie auf eine harte Geduldsprobe: „Wesentlich durch meine Schuld trägt sie ein Äußerstes an Unglück … In Kleinigkeiten hat sie Unrecht… im Ganzen aber ist sie eine unschuldig zu schwerer Folter Verurteilte.“ Ihre Beziehung bleibt Stückwerk, ein Anfang ohne wirklich „vorwärts zu kommen“.32
Kafka fühlt sich doppelt verurteilt: zur Krankheit und zu-gleich zum Leidensstifter für seine Familie, deren Hoffnungen er nicht erfüllt. Zweifellos reagiert sein Körper somatisch auf die Beziehungsproblematik; er ist häufig nach einem Treffen mit ihr krank oder erkrankt bei ihrem bevorstehenden Besuch, den er damit vertagen kann. Über allem steht die Unmöglichkeit, sich fest zu binden oder eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Inspiriert von Kierkegaard schreibt er mehrfach Pro und Contra Positionen ihrer Beziehung auf, spricht vom notwendig-gen „Sprung“ in eine ungewisse Zukunft, die am Ende aus-bleibt. Ihre Entlobung erscheint ihm in einem Traum in Gestalt zweier vor einem Wagen gespannten und von gepeitschten Pferde; dieser Traum erinnert an die wilden Rosse in „Ein Landarzt“ (1917), der unmittelbar nach der zweiten Entlobung entsteht. Kafka stellt sich auch hier vor ein fiktives Gericht, klagt an, verteidigt und anerkennt seine Schuld, der Protagonist stirbt. Er diagnostiziert sein „glattes Unvermögen zum Leben“. Vor diesem Hintergrund erscheint auch seine Lektüre Strindberg und Kierkegaard bedeutsam, da beide die Ehe als Tragödie auffassen. Wie sie fasst Kafka das missglückte Verhältnis von Mann und Frau als Erbsünde auf, den auch „Der Prozeß“ vergegenwärtigt. Kafka steht vor dem Dilemma zwischen der Pflicht, eine Familie zu gründen und Künstler zu sein.
Schon bald gerät der Dreißigjährige in einen Gewissenskonflikt: soll er mit ihr seine bürgerliche Existenz zementieren oder als freier Schriftsteller nach Berlin ziehen? „Ich konnte damals nicht heiraten, alles in mir hat dagegen revoltiert, sosehr ich F. immer liebte. Es war hauptsächlich die Rücksicht auf meine schriftstellerische Arbeit, die mich abhielt, denn ich glaubte die Arbeit durch die Ehe gefährdet.“
Die Frage der Ehe bedeutet zugleich eine Entscheidung gegen die künstlerische Existenz. Kafka erkennt in der Beziehung zu Felice ein großes Unglück für beide: „Ich bin an F. verloren … Ich würde mich auf der Gehaltsleiter fortschleppen und immer trauriger und einsamer werden, solange ich es eben überhaupt aushielte.“ Indes, er möchte sich ihr nicht zumuten oder auslie-fern und tut es dennoch. Die erste Verlobung findet am 1. Juni 1914 statt, auf der bereits am 12. Juli die Entlobung folgt. Hin-tergrund bilden Indiskretionen und Vorwürfe der gemein-samen Freundin Grete Bloch im Berliner Hotel „Askanischer Hof“ ihr vorläufiges Ende. Die Frauen werfen ihm vor, er sei unschlüssig, untreu und unzuverlässig. Diese Inquisition löst ein Trauma in ihm aus, da sie die bereits vorhandenen Selbstvor-würfe intensiviert. Kafka unterliegt fortan einem starken Gewohnheitszwang. Er müsste ihr zuliebe „ein anderer Mensch werden“ und ahnt oder befürchtet, sie könnte ihn nicht genug lieben: „Ich hatte … selbst in der Zeit unseres herzlichsten Verhältnisses oft Ahnungen und durch Kleinigkeiten begründete Befürchtungen, daß F. mich nicht so sehr lieb hat …“
Über Briefkontakt nähert sich das Paar Mai 1916 wieder an. Unter anderem unternimmt es eine Reise nach Budapest; die glücklichste Zeit ereignet sich wohl kurz darauf in Bad Kar-stadt, sehr wahrscheinlich kommt es dort wohl auch zum ersten Intimverkehr. Die zweite Verlobung erfolgt im Juli 1917, wird aber bereits im Dezember erneut aufgelöst. Ein von Kafka er-wähnter Grund dafür ist, dass er in der glücklichen Zeit mit Felice unproduktiv bleibt. Einträge wie: „In der Zeit mit F. nichts geschrieben“ belegen dies. In dieser Hinsicht empfindet er sie als bedrohlich, da sie sich hartnäckig aufdrängt und ihn von der Arbeit abhält. Ehe und Schreiben bleiben unvereinbar Rivalen.
Rationale Gründe für Kafkas Zögern gibt es mehrere, doch die entscheidenden sind wohl irrational: die Angst vor ihn überforderten Neuerungen und das Minderwertigkeitsgefühl, sexuell unzureichend für die Anforderungen einer Ehe zu sein. Existenzängste, Abneigung vor der bürgerlichen Familienidylle und Bequemlichkeiten des Junggesellenlebens, seine Tuberkulose halten ihn davor zurück, den letzten entscheidenden Schritt zu gehen. „Es ist kennzeichnend, dass Kafka immer wieder von Gespenstern, von der Angst spricht, die sich damals zuerst gezeigt hätten, und von der unschuldigen Unschuld der vorhergehenden Zeit, von einem Niemandsland, einem Schweben dem Nichts.“ Er vermag die Zukunft nicht vorherzusagen, empfindet aber eine „Unverträglichkeit des Augenblicks und des gegenwärtigen Zustandes.“ Schon bei der ersten Entlobung prophezeit Kafka, Felice werde einen reichen Geschäftsmann, vermutlich Bankdirektor heiraten und dann glücklicher sein als mit ihm, den Verworfenen. 1919 heiratet sie tatsächlich den Teilhaber einer Berliner Bank. Eine weitere, sich selbsterfüllende, Prophezeiung.
Kafka hat Probleme, sich zu entscheiden und verpflichtend zu binden; er empfindet Nähe und Familienhausstand als unerträgliche Belastung und glaubt, zwischen Ehe und Künstlertum wie Kierkegaard wählen zu müssen - entweder bürgerliches Leben oder Literatur. Seine schwere Lungenerkrankung liefert einen Vorwand, nicht heiraten zu müssen und auch aus dem ungeliebten Beruf zu fliehen. Daraus leitet Kafka den Anspruch ab, es unbedingt schaffen zu müssen und scheitert aus seiner Sicht.
Julie Wohryzek
Die 1891, gleichfalls in Prag geborene Tschechin Julie verliert ihren ersten Verlobten im Ersten Weltkrieg; sie ist freizügig und emanzipiert und nicht familiär eingebunden wie Felice. Ihre Beziehung scheitert jedoch am hartnäckigen Widerstand Hermann Kafkas, vermutlich aufgrund ihrer liberalen. Lebensweise.
Eine Korrespondenz ist nicht erhalten, nur eine Skizze von ihrem Portrait aus der Hand Kafkas. Er beschreibt seine Braut dem besten Freund, Max Brod, gegenüber auch als humorvoll, kindlich, mit einem Hang zu Schelmereien und operettenhaft inszenierten Lustspielen. Laut Stach tut ihre Heiterkeit seinem ernsten Wesen gut, ihre Frivolität mag den Schüchternen und Schambesetzen anziehen und die Lebensgier in ihm wecken.
Kafka lernt die Achtundzwanzigjährige Januar 1919 während eines Kuraufenthaltes in Schlesien kennen. Julies erster Verlobter, ein überzeugter Zionist ist an der Front gestorben; Kafka wird aufgrund seiner fortgeschrittenen Tuberkulose nicht eingezogen. Die rasche Verlobung erfolgt wohl mehr als Trotz gegenüber dem Vater denn als ernst gemeinter Heiratsplan. Die zweite Theorie verweist auf Kafkas ausgeprägte Angst vor einer ausgeprägten weiblichen Libido.
Neben seiner eigenen persönlichen Unfähigkeit führt Stach auch jene Probleme der beiden Familien an, die durch eine Ehe mit dem mittellosen „Paria-Mädchen“ zusammengeführt würden. Die Vorstellung, mit ihren Angehörigen an einem Tisch sitzen zu müssen, löst Befremdung bei ihm aus. Es klingt, als würde Kafka in seiner Erzählung „Er“ (1920) sein Alter Ego durch die dritte Person Singular ersetzen: „Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie … für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Not-wendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.“ 33
Tagebuch-Einträge zu ihrer gemeinsamen Zeit sind spärlich. „
Auf Dauer passen seine Zwänge und ihre Unbekümmertheit nicht zueinander. Offiziell löst Kafka die Beziehung, die er mit einem „dunklen Weg“ umschreibt, weil er mit Milena in engeren Kontakt getreten ist. Anders als Felice nimmt Julie die Trennung ohne sichtliche Kränkung auf. Wie viele Frauen sozial niederer Herkunft erträgt sie still ihre Leiden. Im zweiten Weltkrieg teilt sie das Schicksal mit allen anderen jüdischen Frauen, mit denen Kafka ein Verhältnis hat; sie wird deportiert und August 1944 Opfer der faschistoiden „Endlösung“ in Ausschwitz.
Milena Jesenská
Milena Jesenská ist gleichfalls Pragerin und gilt zu Lebzeiten als Frau der Bohème; sie unterhält Affären während ihrer Ehe, verdient eigenes Geld und studiert zudem als eine der wenigen Frauen ihrer Zeit Medizin. Noch minderjährig hat sie eine skandalöse Beziehung zu dem verheirateten Literaten Ernst Pollak und wird aufgrund von „krankhaftem Fehlen moralischer Begriffe“ von ihrem Vater in die Psychiatrie eingeliefert. Mit ihr könnte Kafka noch einmal seinen Vater provoziert haben wollen, andererseits findet er bei ihr tiefes literarisches Interesse. Ihrer Energie, Leidenschaft und Vitalität zeigt sich der zerbrechliche Versicherungsangestellte nicht gewachsen: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt“, schreibt ihr Kafka am 24. 1. 1922. Längst hat er sich von Milena getrennt.
Sie lernen sich im April 1920 in Meran kennen, einem der vielen Kuraufenthalte für den unheilbar an Tuberkulose erkranktem Kafka. Wie sich herausstellt, ist die dreizehn Jahre jüngere Frau verheiratet mit dem Pollak, den Kafka flüchtig kennt. Auch steht die Journalistin schon länger in Kontakt zu Max Brod und Franz Werfel; sie ist zum Zeitpunkt ihrer Liebschaft durch ihre Artikel als Autorin bekannter als Kafka.
Das hasserfüllte Verhältnis zum Vater könnte die beiden verbunden haben. Kafka gibt ihr als seiner Vertrauten seine Tagebuchnotizen, so dass Brod bei der posthumen Veröffentlichung des Gesamtwerkes eine nicht zu schließende Lücke vor-findet. Außerdem schenkt er 1920 Milena auch seinen berühmtesten „Advokaten“ – „Brief an den Vater“. Vielleicht haben sich ihre Gegensätze, offene Rebellion und stilles Leiden, angezogen.
1923 unternimmt Milena einen missglückten Selbstmordver-such. Doch wie alle anderen Frauen in seinem Leben überlebt sie Kafka noch lange. Es ist posthume Tragik, dass ihr eigenes Wirken heute im Schatten ihrer Beziehung zu dem Schriftsteller steht, mit dem sie eher Freundschaft und Bewunderung als Leidenschaft verbindet.
Am 6. Juni 1924 verfasst sie einen Nachruf auf Kafka, den viele auch heute noch für den gelungensten Nekrolog bezeichnen, weil sie den Autor nicht mystifiziert. Zu den jüngsten Biografien ihn zähl Reiner Stachs „Kafkas erotischer Mythos“, der die Relation von Schreiben und Frauen würdigt unter Einbezug des reichhaltigen Briefverkehrs der beiden.
Dora Dymant
Kafka wird älter, die Frauen an seiner Seite jünger. Dora Dymant, verschiedentlich auch wie der Edelstein geschrieben, entstammt einer orthodoxen ostjüdischen Familie und wird Schauspielerin. 1898 nahe Lodz geboren, lernt der bereits schwer von einer Krankheit gezeichnete Kafka im Juli 1923 im Ostseebad Müritz kennen, wo sie als Betreuerin der Ferienko-lonie des Berliner Jüdischen Volksheims arbeitet.
Kafkas Vater versucht erneut die unstandesgemäße Beziehung zu einer Proletarierin zu unterbinden. Der todgeweihte Kafka wagt den Absprung, von dem er ein Leben lang geträumt hat. Er verlässt Prag, um seine Ersparnisse mit ihr aufzubrauchen. Von Ende September 1923 bis März 1924 wohnt Dora er mit ihm unter finanziell extrem schwierigen Bedingungen in drei immer dürftiger werdenden Zimmern in wilder Ehe zusammen. Sie ist damit die einzige Frau, mit der Kafka zusammen gelebt hat. Eine erotische Beziehung ist es wiederum nicht. Durch ihre Pflege entstehen noch einige Erzählungen und wahrscheinlich verbrannte Manuskripte, Versuche, „Das Schloss“ zu beenden.
Im April 1924 begleitet sie Kafka, der inzwischen nicht nur an TBC, sondern zudem unter Kehlkopftuberkulose leidet, zu-nächst nach Prag, dann nach Wien. Auch während seiner letzten Wochen in einem Sanatorium in Kierling betreut sie ihn.
Der Umzug in das böhmische Sanatorium beinhaltet eine Kapitulation und bezeichnet Max Brod als den anstrengendsten Tag seines Lebens. Über die Agonie Kafkas berichten nur Zeugen-aussagen der Freunde Kafkas Klopstock und Brod. Seine Entkörperlichung, das Dahinschwinden und Sichauflösen indes ist belegt. Er kann kein Fleisch mehr kauen, die Schrift wird erst unleserlich, die Stimme versagt. Der Entkräftete kann weder sprechen noch schreiben. Dora hingegen ist robust, vital, jung und physisch äußerst präsent. Ihr Anblick tröstet und schmerzt.
Als es zu Ende geht, im Sanatorium Kierling, liest sie ihn vor, eigenes, aber auch fremde Literatur. Geräusche sind immer noch der prägendste Sinneseindruck für den Schriftsteller. Hat er früher unter dem Lärm gelitten, der rohen Stimme des Vaters, dem Verkehrslärm einer Großstadt oder dem Gebell der Hunde unter offenem Fenster (und es muss offen sein, um schreiben zu können), so leidet er nun darunter, selbst stimmlich zu versagen. Kaum noch ein menschlicher Ton dringt über seine Lippen. Zu allem tritt die Furcht, sinnlos gelebt, versagt zu haben. Die Anerkennung fehlt, gerade jetzt, wie wichtig wäre ihm ein wenig Resonanz auf das Geleistete, das er selbst so stark in Zweifel zieht wie kein anderer. Kafkas letzte Geschichten „Der Hungerkünstler“, „Josefine, die Sängerin“ und „Der Bau“ sind das Geleistete die letzten Erzählungen und enthalten auch eine Rückschau auf. Paradigmatisch erscheint, dass es über einen eingebildeten unsichtbaren Feind (Geräusche) und von einem Verbarrikadieren handelt. Das Geräusch wird zum Gegner, dem eigenen Atemholen. „Es ist das eigene Lebensgeräusch ... welche die perfekte Stille seiner Schöpfung nicht stört.“34
Rückblende. „Der Kübelreiter“ (1917) bleibt dem extrem kalten Kriegswinter geschuldet. In einem Tagebucheintrag kommentiert Kafka die Schwebezustände als Kampf zwischen Hoffen und Bangen, ausgelöst vom Gefühl der Nutzlosigkeit gegen-über der Welt. Die Erzählung handelt von einem zaghaften Bemühen um Kohle, das am Ende scheitert am Egoismus der Kohlehändlerin. „Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauen-schürze jagt ihm die Beine vom Boden.“35 Die Erzählung kann gedeutet werden als Parodie auf die weibliche Abweisung, in der sich die väterliche Schroffheit widerspiegelt, aber auch ungestilltes Verlangen nach menschlicher, fraulicher Wärme.
1 I. 6. Das literarische Umfeld (Prager Kreis)
Max Brod
Seinen engsten Freund lernt Kafka Oktober 1902 während sei-nes Studiums der Rechte an der Deutschen Universität in Prag kennen. Laut Brod ergreift der junge Kafka bei der Diskussion die Partei Nietzsches, während Brod Schopenhauer verteidigt. Dabei soll dem humorvollen Kafka die Misanthropie Schopen-hauers verdrießt haben. Der um neun Monate jüngere Brod reüssiert bereits 1906 durch Veröffentlichungen eigener Romane, Essays und Dramen. Er gilt als Wunderknabe und bleibt zu Lebzeiten Kafkas bekannter als dieser. Mehrere Tagebucheintragungen belegen, dass Kafka sich schämt, seinem Freund gegenüber einzugestehen, dass er schreibt und sich überwinden muss, diesem seine Texte auch zu zeigen. Aus ihrer Freundschaft heraus entwickeln sich Lese-abende und bis zuletzt schätzt Kafka Brods Meinung. In seinem Testament verfügt er, einen Großteil seines für unfertig befundenen Werks zu verbrennen, dennoch vertraut er sie dem einzigen Freund an, der bedingungslos an sein Talent glaubt. Max Brod, den man als Haupt des Prager Kreises bezeichnet, weil er zahlreiche Künstler Prags fördert, ist heute hauptsächlich als Publizist und als Chronist Kafkas bekannt.
Die Gespräche in Prager Kaffeehäusern sind in den Tagebüchern Kafkas verbürgte Inspirationsquelle seines Schaffens. Meist ist Brod der einzige, der eine Geschichte von ihm laut vorlesen darf. Als Vizepräsident des jüdischen Nationalrates nach dem Ersten Weltkrieg besitzt Brod zudem maßgeblichen Anteil an der spät erfolgten politischen Auseinandersetzung Kafkas mit Judentum und Zionismus. Brod ist unzweifelhaft die Stütze in Kafkas unendlichen Selbstzweifeln. Er erkennt nicht als einziger das höhere Talent anderer, aber er allein fördert es uneigennützig. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Kafka über Brod Felice Bauer, die wichtigste Frau in seinem Leben kennen lernt.
Franz Werfel
1910 macht Kafka durch ihn auch die Bekanntschaft mit dem sieben Jahre jüngeren Franz Werfel und beginnt er mit dem Schreiben der Reisetagebücher. Seine ambivalente Beziehung zu dem zeitgenössisch erfolgreichsten Autor des Prager Kreises ist in den Tagebüchern gut dokumentiert. So räumt Kafka in einer Notiz vom 1913 ein, neidisch auf den Erfolgsverwöhnten zu sein. Als Werfel Alma Mahler kennenlernt, sieht Kafka, was es bedeuten kann, die richtige Frau an seiner Seite zu wissen. In ihrer Selbstsicherheit und rigorosen Art, nichts zu bereuen, als- Muse fördert sie zahlreicher Künstler mit unterschiedlichen Talenten. Psychisch erscheint der Lebe- und Genussmensch Werfel in allem der ästhetische Gegenentwurf zum Grübler Kafka.
Im Gegensatz zum aufgeschlossenen und selbstverliebten Weltmann liebt Kafka die Anonymität in den Arbeiterquartieren von Berlin, wohin-gegen ihn das zufällige Zusammentreffen mit dem Kollegen im Prager Altstadtviertel verstört. Werfel greift in seinem Künstlertum zahlreiche Stoffe aus der Musik oder anderen Kulturen (z. B. Armenien in „Die vierzig Tage des Musah Dagh“) auf, zudem beschäftigt er sich frühzeitig mit seinen jüdischen Wurzeln und erfindet sich künstlerisch stets neu. Kafka hingegen bleibt immer Kafka, sich und seinen Erzählungen treu, experimentiert nicht, holt sich Inspiration bei böhmischen Volksmärchen, kaum von der Antike.
Werfel liebt das Reisen, Kafka verlässt Prag nur kurz und der Krankheit geschuldet. Aber gerade Werfels Empathie und pointierte Aussagen geben dem Leser heute einen tiefen Ein-blick in Kafkas Seele. Werfel gelingt, woran Kafka zerbricht: die Ablösung von der Familie, namentlich dem tyrannischen Vater.
Mit dem Kontakt zu Werfel beginnt auch Kafkas Theater-leidenschaft für eine ostjüdische Schauspieltruppe, die bis 1912 in Prag gastiert. Er verliebt sich unglücklich in die verheiratete Hauptdarstellerin und will mit ihr über Nacht aus Prag fliehen. Vielleicht spiegelt sich diese verpasste Gelegenheit zum erotischen Abenteuer in all den verheirateten Frauengestalten seiner Literatur.
Ernst Weiß
Der um ein Jahr ältere Weiß aus Brünn trifft zum ersten Mal Kafka am Juli 1913. Weiß führt Kafka in Berlin ein, der Traum. von einem unabhängigen Leben als Berufsschriftsteller erhält ein Gesicht. Wie der Schauspieler Lewy zeigt er sich von Kaf-kas Steifheit und Distanz enttäuscht oder missversteht dessen Schüchternheit als Arroganz, interpretiert seine Scham als Gleichgültigkeit. Zahlreiche Bekanntschaften Kafkas zerbrechen an diesem Missverständnis.
Mit Weiß teilt er die Ablehnung Wiens (der Residenzstadt) und die Begeisterung für Berlin. Sie haben literarische Vorlieben, besuchen häufig gemeinsam das Theater Prags. Andererseits verhält sich Kafka reserviert gegenüber Ärzten („Ein Landarzt“ erweist dies paradigmatisch) und vertraut dem Naturheilverfahren, u. a. auch den auf Nacktheit und Abhärtung schwörenden Kneipianern, die der konservative Mediziner Weiß strikt ablehnt. Auch in der Kriegsfrage scheiden sich ihre Geister; Kafka lehnt ihn kategorisch ab, Weiß ersehnt ihn geradezu. Zwischenzeitlich überwerfen sich beide und verkehren auf der Anrede „Sie“. 1921 nehmen sie noch einmal Kontakt auf.
Karl Kraus
Der böhmische, 1874 geborene Schriftsteller Kraus gilt als ers-tes Vorbild des jungen Kafka, der mehrere Lesungen in Prag von ihm besucht. Von Freundschaft kann keine Rede sein, zu schüchtern und unbekannt ist Kafka zu Lebzeiten, zudem ge-hört er der Wiener Literaturszene der Sezession (u. a. Schnitzler) an kommt es nicht. In seiner Zeitschrift „Die Fackel“ erwähnt Kraus Kafka kein einziges Mal, obwohl er sein Werk zweifellos zur Kenntnis nimmt und ihn in einem Brief ausdrücklich als Dichter bezeichnet, was einer Auszeichnung gleichkommt. Kraus hat wie Brod zudem ein untrügliches Gespür für außer-gewöhnliche Begabungen. Kafkas einziger Versuch der Kontaktaufnahme bleibt ohne Erfolg, aufgrund der Feindschaft der beiden führenden Schriftsteller untereinander.
November 1917 hält Karl Kraus in Wien eine Gedenkrede für den befreundeten Lyriker Franz Janowitz, der an der italienischen Front gefallen ist und mit dem auch Kafka lose bekannt ist. Max Brod verlegt in Arkadia sechzehn Gedichte des noch völlig unbekannten Janowitz, der posthum zum Mitglied des Prager Kreises aufsteigt. Kraus und Brod halten sich beide für die Entdecker des Toten und geraten aneinander. Kafka verfasst auf Drängen Brods einen diplomatischen Brief an Hans Janowitz, den Bruder des Toten und Bekannten von Kraus und bittet diesen um Weiterleitung seines Briefes zu Händen von Karl Kraus. Nach Monaten erreicht Kafka die Antwort mit der Mitteilung, Kraus würde keinesfalls eine Erklärung Brods entgegennehmen und insofern auch keinen Brief von Kafka. Die Loyalität zu seinem Freund nötigt Kafka zur Distanz gegenüber.
Etwas näher steht er dann Egon Kisch, den er August 1913 kennenlernt und auf dessen Frage nach seinem Interesse er nach Überlieferung Stachs antwortet: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur.“
1 I. 7. Die Rolle des Judentums
Die väterliche Familie entstammt ostjüdischem und tschechi-schem, die Mutter westjüdischem deutschem Judentum. Geborgen fühlt sich Kafka weder von der einen chassidischen noch der anderen, askanasischen Linie. Vom Judentum entwurzelt, eignet er sich das Hebräische selbst mühsam an, wie Brief an Milena Mai 1920 bezeugt „… alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit.“36
Im Prag seiner Zeit herrschen verschiedene Formen des Antisemitismus vor, mitunter blicken die erfolgreichen Juden auf die orthodoxen herab, zudem spaltet der Zionismus die Gemüter. Selbstironie bis hin zur Selbstverleugnung erleben viele westjüdische Familien, deren ökonomischer und sozialer Status stark differenzieren. Erfolgreiche Kaufleute sind um Erhaltung von Prestige und Dynastien mehr besorgt als um den Glauben, der nur noch rituelle Form auf-weist. Von seinem Selbstverständnis gegenüber Zionisten, ist sich Kafka seiner Wurzeln bewusst, aber politisch oder religiös im engeren Sin ist er nicht, und lässt sich künstlerisch nicht einengen.
Sein Vater verlangt von ihm nur den formalen Eindruck wie den regelmäßigen Besuch der Synagoge und der Mikwa. Langsam, doch kontinuierlich nähert er sich dem Hebräisch und den Inhalten der Kabbala an, als suche er darin eine Identität.
„Bei Kafka ist kein kabbalistisches System zu erkennen, wohl aber eine Fülle von gemeinsamen Grundgedanken“.37 In dem Gleichnis vom Türhüter spielen Öffnung und Verschlossenheit die dominante Rolle, entweder als Ein- bzw. Ausgang in eine andere Welt wie in „Der Prozeß“ oder in „Das Schloss“, als Raum zwischen dem Realen und dem Irrealen („Die Verwand-lung“, „Amerika“) oder zwischen Freiheit und Zivilisation („Bericht an eine Akademie“). Manchmal werden Türen delokalisiert („Jäger Gracchus“, „Der Bau“), sie gehen aus dem Leim („Der Landarzt)“ oder tauchen an unvorhersehbaren Orten („Das Schloss“) auf.
Verfahren und Untersuchungen herrschen nahezu überall vor, latent fürchtet jeder die Stunde des (jüngsten) Gerichts. „Man muß sich außerdem fürchten vor dem Gericht, das jeden Gang und jede Stunde über den Menschen angespannt ist“. So beginnt der Text des von Kafka bevorzugt gelesenen Rabbiners de Vidas aus dem 17. Jahrhundert aus dem Talmud. Jeden Tag und nicht nur am Ende des Lebens halten seelische außerweltliche Kräfte Gericht über den Menschen. Alles ist ein Zeichen. Daher kann ein Urteil, vermittelt über Gesandte (Gerichtsdiener) jederzeit beginnen, wie es in „Der Prozess“ geschieht. Es handelt sich um ein sakrales Welt-gericht, das nur pro Forma die Kleidung eines säkularisierten Landgerichtes trägt.
Im jüdischen Glauben existieren himmlische Gerichte, die bereits in das Schicksal im Diesseits der Menschen eingreifen. Für die mythologisch-kosmisch orientierte Kabbala wesentlich ist der Grundgedanke an die Einheit allen Seins, vergleichbar dem hellenischen Pantheismus und Stoizismus. Die intelligible Welt wird untergliedert in mehrere Welten, zwischen denen Führer oder Fürsprecher (meist in Gestalt von Engeln) kommunizieren und Türhüter die jeweiligen Sphären bewachen, vergleichbar Dantes „Göttliche Komödie.“ Die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits ist transparenter und durchlässiger als im Christentum, die platonische Seelenwanderung Bestandteil der Kabbala. Die Himmelsreise führt durch mehrere Tore und fordert verschiedene Prüfungen.
Dass Kafka sich gegenüber dem imaginären Gericht auf-grund seiner Entlobung, des Junggesellenstatus und der Nicht-eignung für die väterlichen Pläne leer, schuldig und unter Rechtfertigungszwang fühlt, ist mehrfach belegt. Gerade „Der „Prozess“ fällt mit seiner ersten intensiven Lektüre ostjüdischer Schriften zusammen. Der jüdische Philosoph Scholem weist in „Judica“ darauf hin, dass jedes Individuum sein eigenes Schicksal und daher seine eigene Thora besitze – ein mit dem noch älteren ägyptischen Totenbuch gemeinsamer Gedanke. Die Tür ist daher nicht nur Symbol des Übergangs von einer in die andere Welt und Chiffre des Wandels, sondern zugleich Aufforderung den eigenen Weg zu erkennen und ihm zu folgen. Unter dem religiösen Aspekt ist Kafkas Gleichnis eindeutig codiert.
Das Kafka vertraute „lurianische Traktat“ betont die Seelen-reise und legt das Verhalten gegenüber den Türwächtern genau fest. Es verwundert daher kaum, dass bereits die ersten wissen-schaftlichen Interpreten (Heinz Politzer, Gerhard Kurz) sich hauptsächlich auf das Türstehergleichnis in Verbindung mit der Kabbala konzentrieren. „Das Thema vom Gang durch die Tore der Hallen des Gesetzes bildet ein wichtiges und zentrales Stück, beschreibt es doch das Ziel, auf welches das menschliche Da-sein ausgerichtet ist und die Instanzen, welche die Erlaubnis für diesen Gang in die Thora geben.“
Kafkas Selbstkommentar „Mein Schreiben gleicht einer Form des Betens“ (1912) sollte dennoch nicht als religiöses Bekenntnis gedeutet werden. Interpretationen wie die Scholems, Bubers oder Brods, die Kafka zum Propheten oder theosophischen Weltdeuter stilisieren, sind ebenso eindimensional wie ein hermetisch biografischer oder existentialistischer An-satz. Doch strenge Gesetze und mystische Verwandlungen, irrationale Deutungen der Kabbala entsprechen Kafkas persönlichem Naturell und bestätigten ermutigen ihn, seinen Weg in dieser Richtung fortzusetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Chassidismus ist nicht mit Beeinflussung oder gar Übernahme aller Gedanken ins poetische Werk gleichzusetzen. Die Deutung seines Schicksals als eine persönliche Strafe oder Auf-forderung, an der Krisis zu wachen, ist Kafkas Naturell bereits angelegt. Den Blutsturz, verbunden mit der chronischen Lungenkrankheit - von ihm als „die Wunde“ bezeichnet - deutet er als Schicksalsbestimmung.
Tür und Art des Durchgangs, Warten, Öffnen, Schließen von Pforten geben Aufschluss über den eigenen Willen und den Grad der Willensfreiheit. Der Freie ist dem Gebunden übergeordnet, gerade deshalb gehen die Welt des Profanen und die Welt des Sakralen in einander über: „Je tiefer man durch die Gerichtshierarchien hinabsteigt, desto ähnlicher werden sie der irdischen Welt, so dass die untersten Gerichte sich von der Welt überhaupt nicht mehr unterscheiden.“
Die himmlischen Gerichte sind das Unbewusste oder das Übergeordnete Regulativ, das Es in der Psychoanalyse Freuds. Im Talmud gibt es eine Stelle, die lautet: Wenn der Mensch krank ist, schaut man in seine Prozessakten. Auch die Frage zwischen Schuld und Unschuld wird von den himmlischen, von Türen voneinander getrennten Sphären, unterschiedlich gewogen und beurteilt.
Das zweite Beispiel für Kafkas Nähe zur Thora stiftet die Rolle der Frau und Eros. Unabhängig von seiner psychischen Disposition, mit der Ehe nicht fertig zu werden, seiner Scheu vor sexuellem Kontakt und dem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber weiblicher Sinnlichkeit (die heimliche Lust), existiert auch im Talmud eine Warnung vor fleischlichen Begierden und besonders vor der Macht des Sexuellen. Kafkas Einträge, sowohl über Zoten und Promiskuität als auch, weit wichtiger, über biblische Stellen der Propheten, die Rolle des Mannes be-tonend (insbesondere das ein kinderloser Mann darin nichts gilt), sind chassidisch gefärbt. Kafka kommentiert in seinen Tagebüchern Träume: Kafka kommentiert in seinen Tagebüchern akribisch Träume: „Heute Mittag …lag auf mir der Oberkörper einer Frau aus Wachs. Ihr Gesicht war über dem meinen zurückgebogen, ihr linker Unterarm drückte meine Brust. Solches wäre von einem Kabbalisten gewiß als der Besuch von Lilith oder einer ihrer Unterdämoninnen gedeutet worden.“38
Wer die höchste Stufe des Bewusstseins Gottes erreichen will, muss büßen und dies über den Umweg der tiefsten Demütigung, der größten Sünde, die jeweils individuell in der eigenen Seele festgeschrieben steht. Folglich kann man „In der Strafkolonie“ als ein ins Fleisch eingeschriebenes Gesetz als das sexuelle Begehren und Übergehen einer sittlichen Grenze wer-ten. Auffällig ist, dass in allen drei großen Romanen und mancher Erzählung Frauen immer Helfer und gewissermaßen auch Ausweg für den suchenden Mann sind, ebenso wie Gewaltfantasien (am deutlichsten in Ein Landarzt) eine mögliche Rettung vereiteln. „Diese heilige weibliche Gestalt aus der reinen Seite der zehn göttlichen Sefirot wird nun ihrerseits den Gerichtsfunktionen zugehörig gedacht…“39
1 I. 8. Gleichnischarakter von Tieren
Kafkas Interesse an Fabeln ist allgemein verbürgt. Von den vielen Parabeln, in denen Tiere menschliche Verhaltensformen allegorisieren, hat nur „Schakale und Araber“ (1917) die Kafka ausdrücklich auf Wunsch für die von Martin Buber herausgegebene Zeitung „Der Jude“ anfertigt, einen politisch-jüdischen Hintergrund. Auf den ersten Blick erscheint die Parabel anti-semitisch, denn die Peitschen schwingenden arischen Herren sind Araber und die feigen, auf einen Propheten wartenden und ihrer Gier nach für sie abfallendem Fleisch unterworfenen Schakale sind deutlich mit Juden konnotiert. Sie halten sich dennoch nicht unbegründet ob ihrer Leidensfähigkeit für das auserwählte Volk und besitzen hündische Ehrfurcht vor der Rasse. So verweigern die hungrigen Schakale den Verzehr von Hammelfleisch. Schakale gelten auch als unrein und gierig; das Sujet, die Bedrohung eines Volkes durch eine andere Rasse.
In „Der Bau“ gräbt ein Biber auf der Suche nach absoluter Sicherheit, fühlt sich aber durch rasselndes Geräusch in seiner Existenz bedroht und bewacht den Bau schließlich von außen, so dass sich die Funktion des Schutzes ins Gegenteil verkehrt. Es liegt nahe, das Geräusch als selbstverursachten Atem zu deuten, da es von überall herkommt und an keiner Stelle intensiver ist als an einer anderen. Zudem bietet der monologisieren-de Biber seinem imaginären Feind bereits den Kompromiss an, der sich leicht als Assimilation aufdrängt.
In „Bericht an eine Akademie“ lehnt der Affe Rotpeters den „Ausweg“, der Freiheit ausdrücklich ab. Durch Assimilation und sogar Dressur überlebt das eingesperrte, äußerst intelligente Tier – den arttypischen Geruch hat es jedoch verloren und Affen ängstigen ihn mehr, als dass er sich mit ihnen verbrüdert.
„Die Sängerin Josephine“ fordert neben der Bewunderung ihres Gesangs, der sich als gewöhnliches Mäusepfeifen heraus stellt, unbedingt Respekt für ihre Kunst. Sie fordert Unmögliches, denn was das hart arbeitende Mäusevolk an ihr schätzt, ist die Inszenierung, der Ritus, das vermeintliche Wunder. Jede Geschichte legt in Form eines Tieres eine charakteristische Ver-haltensweise des Judentums bloß (Politzer), doch wesentlicher ist die Entfremdung ihres eigentlichen Ziels.
„Eine Kreuzung“ erzählt von einem Erbstück zwischen Lamm und Katze. Grözinger erkennt darin den assimilierten Westjuden wieder - laut Scholem ohnehin der Schlüssel zum Werkverständnis Kafkas. Dabei „vollzieht sich das göttliche Gericht am Menschen als die Strafe der Seelenwanderung, hebräisch Gilge. Zu ihr werden solche menschlichen Seelen verurteilt, deren Sünde nicht im Purgatorium tilgbar ist oder die ihre seelische Vollendung noch nicht erlangen konnten.“
In der Kabbala weiß das Tier von seiner vormenschlichen Existenz analog Platons Seelenwanderungslehre im „Haiden“, den Kafka las. Unter anderem wird dort der sich wie ein Esel benehmende Mensch in nächster Erscheinung als Esel wieder geboren und weiß um seine Eseleien, da ein zentrales Moment der platonischen Ideenlehre die Wiedererkennung ist. Kafka kennt Platons Schrift und vergleicht sie mit dem Chassidismus, wie aus seinen Tagebuchnotizen hervorgeht. Unter anderem beschreibt „Der Advokat“ ein stufenweißes Sichtfortbilden der menschlichen Seele durch Wiedergeburt, die auch durch tierische Existenzformen führt. Ob Kafka daran glaubt bleibt ungewiss, der literarische Einfluss hingegen evident.
„Der Jäger Gracchus“ (1917) stellt einen Sonderfall dar, bereits sein Name für einen Vogel (Dohle) und damit ein Selbstbild Kafkas(Rabe) steht. Betonung erfährt das Todesmotiv durch die Tauben; „die Tauben fliegen vor mir her“ – in der babylonischen Tradition sind sie Totenwächter – galten. Zentral ist die Schuldfrage an seinem Absturz bei der Jagd nach Glück („glücklich war ich“) durch eine verborgene Schuld. Eros und Tod werden durch die Kleidung konnotiert: „in das Totenhemd schlüpfte ich wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid“.40 Das Motiv der Seelenwanderung und Verwandlung verkörpert ein Insekt: „Ich bin, antwortete der Jäger, immer auf der großen Treppe, die hinaufführt. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich herum, bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung. Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden.“
Die Parabel folgt nicht der Tradition von Fabel oder Märchen, sondern im Zusammenhang mit jüdischer Liturgie, da Gesänge den Weg der Seele durch das Totenreich auf einem Kahn be-gleiten. „Niemals haben die Berge solchen Gesang“.
Die vermeintliche Schuld des abgestürzten Jägers ist das Töten von Wild, das sich wie ein Gleichnis auf den Krieg, die Störung der natürlichen Ordnung, deuten lässt: „Alles ging der Ordnung nach.“ Laut dem Propheten Maimonides gelangt die Seele eines Frevlers in ein unterirdisches Purgatorium und in Abhängigkeit ihrer Sünden verbleibt die Seele dort oder durchwandert mehrere tierische Existenzformen, bis sie wieder im Menschen geboren wird. Hat sie stark gesündigt, wird sie in niederen Tierformen wie Insekten wiedergeboren. Die skurrile Parabel inkludiert diverse Paradoxa, darunter: „ich hatte gerne gelebt und war gern gestorben“.
Ein Beispiel dafür, wie er die Bilder Goethes transformiert, liefert dessen Schlussvers aus Faust II „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis / Das Unzulängliche / Hier wird's Ereignis“, das Kafka variiert: „Das einzig Bleibende ist das Vergängliche“. Der Gedanke der kontinuierlichen Diskontinuität entspricht Zenons Paradox von der ruhenden Bewegung: „Der fliegende Pfeil ruht.“ An einem Ort kann keine Bewegung sein; folglich ist Verwandlung selbst entweder Zeit oder Raum.
Einfacher formuliert: „Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Problem, vielleicht ist gar keines da.“41
Es gibt keine Entwicklung, aber vorhersehbare misslungene Geschäftswege; keinen Ausweg, nur Sisyphos-Arbeit; „man muß die Last weiter tragen.“