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1.1 Einleitende Gedanken
ОглавлениеJede Neurose ist ein unerlöstes Talent
Das Konzept des Antreibers ist ein wertvolles Modell zur Analyse von Persönlichkeits- und Beziehungsdynamiken. Bisher wurde das Konzept vorwiegend im therapeutischen Bereich verwendet. Es eignet sich aber durchaus auch für die beratende Arbeit in Organisationen, insbesondere im Coaching. Im Folgenden wird das Konzept um systemische und ressourcenorientierte Aspekte erweitert.
Viele Menschen fühlen sich v.a. in Stress und Belastungssituationen als Menschen nicht vollwertig, geschätzt oder liebenswert. In der Regel entwickeln Menschen Strategien, diesem »Nicht-OK-Gefühl« zu entrinnen. Solche Strategien sind meist mit illusionären Ideen verbunden: »Ich wäre (wieder) OK, wenn …«. Die Ideen, repräsentiert als verinnerlichte Anweisungen, werden als Antreiber bezeichnet. Der Name »Antreiber« weist darauf hin, dass Menschen diesen »Geboten« nahezu zwanghaft folgen. Wenn sie bei einem Vortrag unter Stress geraten, glauben sie beispielsweise, keinen Fehler machen zu dürfen, um von den Zuhörern anerkannt zu werden. Die Verheißung der Antreiber bleibt aber letztlich unerfüllt. Antreiber lösen das »Nicht-OK-Gefühl« nicht, sondern verstärken oder verwalten es nur.
Taibi Kahler (1977) unterscheidet fünf Antreiber-Dynamiken:
1. Ich bin OK, wenn ich perfekt bin.
2. Ich bin OK, wenn ich stark bin.
3. Ich bin OK, wenn ich gefällig bin.
4. Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge.
5. Ich bin OK, wenn ich mich beeile.
Während die verschiedenen Antreiber-Dynamiken in der Literatur oft als Typen beschrieben werden, wird aus systemischer Perspektive der Kontext bedeutsam, in dem der Antreiber ausgelöst wird. Niemand steht ständig unter dem Einfluss von Antreibern. Sie steuern Menschen nur in bestimmten Situationen oder bestimmten Personen gegenüber. Diese Kontextunterschiede geben bereits wichtige Hinweise für die Diagnose und Interventionen im Coaching. Wenn wir die kontextspezifischen Antreiber-Dynamiken in dieser Arbeit zum Teil dennoch zu Prototypen verdichten, so dient dies lediglich der vereinfachten Darstellung. Die beschriebenen Dynamiken werden als Merkmale persönlicher Inszenierungsstile dargestellt. Man kann sie jedoch auch als Merkmale von Teams oder größeren Organisationen beschreiben.
Bezüglich der Diagnose von Antreibern zeigt sich, dass es nicht ausreicht, sie an Wortfloskeln oder Gesten festzumachen, wie dies gelegentlich gelehrt wird. Wichtiger scheint, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche spezifische Atmosphäre durch Antreiberverhalten in einem sozialen Raum entsteht, welche emotionalen Dynamiken, Beziehungsmuster und Wirklichkeitslogiken aktualisiert werden. Jede der einzelnen Antreiber-Dynamiken erschafft eine Wirklichkeit, in die man als Gegenüber mit einiger Wahrscheinlichkeit eintritt. Oft denken Mitspieler, sie würden sich aus der Dynamik heraushalten oder etwas dagegen tun und merken nicht, dass sie dabei doch innerhalb der Logik agieren. Aus systemischer Sicht könnte man sagen, dass sich die Dynamik durch die kommunikativen und verhaltensmäßigen Beiträge der Beteiligten zirkulär stabilisiert und durch deren Ideen über Wirklichkeit aufrechterhalten wird.
Für die Arbeit im Coaching bedeutet dies, Antithesen zu formulieren, d.h. Beziehungsangebote und Wirklichkeitsvorschläge anzubieten, die nicht nur andere Spielarten innerhalb der Antreiber-Inszenierung sind, sondern eine andere Dynamik aktivieren bzw. Lösungen 2. Ordnung im Sinne Watzlawicks darstellen. Die Kenntnis der einzelnen Dynamiken und die Diagnose der eigenen Reaktion (soziale Diagnose) können helfen, nicht in die Logik der Antreiber-Inszenierung einzutreten, sondern Lösungen 2. Ordnung und damit antreiberfreie Inszenierungen zu aktivieren.
Diesen wirklichkeitskonstruktiven und beziehungsanalytischen Aspekten soll in der vorliegenden Arbeit nähere Beachtung geschenkt werden.
Wirklichkeitsanalytische Perspektive
• Wie entwerfen Menschen in Antreiber-dynamiken ihr Bild von der Welt?
• Welche Grundannahmen über sich und andere liegen ihrem Denken zugrunde?
Beziehungsanalytische Perspektive
• Wie reagieren Mitspieler auf die Beziehungsangebote der verschiedenen Antreiber-dynamiken?
• Welche Gefühle, Ideen und Verhaltensweisen werden bei ihnen ausgelöst?
© Schmid 2004
Abb. 1: Wirklichkeitsanalytische Perspektive