Читать книгу Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive - Bernd Sieberg - Страница 12
4. Theoretisch-methodischer Rahmen der Untersuchung
ОглавлениеUm die konzeptionell-methodischen Grundlagen, ihre Begriffe und die benutzte Terminologie zu verdeutlichen, die aus der germanistischen GSF stammen und als Basis dieses Buches und seines Ziels einer Beschreibung der portugiesischen gesprochenen Sprache aus der Sicht der Sprachpragmatik dienen, setzt dieses Kapitels mit einer Erläuterung des Begriffs der „konzeptionellen Mündlichkeit“1 ein. Diesen hat der Romanist Ludwig Söll (1985) Mitte der 80er Jahre in die GSF eingeführt und dadurch ihren weiteren Weg entscheidend beeinflusst2, weil dieser Begriff es erlaubt, die Einseitigkeit der Dichotomie ‚medial mündlich‘ versus ‚medial schriftlich‘ aufzuzeigen. Die ursprüngliche Unterscheidung in ‚gesprochen versus geschrieben‘ entspricht zwar dem ‚gesunden Menschenverstand‘ und erlaubt zudem eine eindeutige Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Textsorten – bzw. meiner Terminologie folgend von „kommunikativen Praktiken“3 –, doch bekommen Sprachwissenschaftler mit dieser Unterscheidung Probleme, wenn sie erklären sollen, warum viele Praktiken medialer Schriftlichkeit wie ‚Einträge in Tagebücher‘, ‚Grußkarten‘ oder insbesondere die aktuellen Praktiken der ‚keyboard-to-screen communication‘ von ihren sprachlichen Merkmalen her große Ähnlichkeiten mit medial mündlichen Praktiken aufweisen, und es umgekehrt medial mündlich basierte Kommunikationsformen wie ‚Predigten‘ oder ‚Begrüßungsansprachen‘ gibt, die von ihren sprachlichen Charakteristika eher der Gruppe schriftlich vermittelter Texte zuzuordnen sind.
Die Auflösung dieses Dilemmas leistet Sölls Begriff der „konzeptionellen Mündlichkeit“ (Söll 1985). Er stellt nicht die Medialität einer kommunikativen Praktik in den Vordergrund, sondern geht zum Zweck ihrer kategorialen Bestimmung von einem Bündel von Kriterien aus. Zu ihnen zählen ‚Dialogizität, ‚Spontanität‘, ‚Situationseinbindung‘, ‚Grad der Expressivität‘ etc. Aus der Anwendung dieser Kriterien resultiert die Vorstellung eines Kontinuums zwischen dem Pol einer extrem ‚konzeptionellen Mündlichkeit‘ und dem einer extrem ‚konzeptionellen Schriftlichkeit‘, in das sich Textexemplare4 bzw. kommunikative Praktiken entsprechend ihrer jeweiligen sprachlichen Charakteristika einordnen lassen. Auf dieser graduell verlaufenden Skala nehmen sowohl medial mündlich als auch medial schriftlich basierte Kommunikationsformen ihren Platz ein, wie die folgende Skizze5 verdeutlicht. Auf der folgenden Skala, die ausschließlich einer idealisierten, exemplarischen Veranschaulichung dient, findet der Leser allerdings nur einige wenige Praktiken, weil sie nicht mit dem Anspruch entworfen wurde, die Ergebnisse tatsächlich durchgeführter Analysen zu verdeutlichen 6:
Konzeption | ||||
Nähepol | ←–––––––––––––––––––→ | Distanzpol | ||
konzeptionell mündlich | konzeptionell schriftlich | |||
medial schriftlich | Chatbeitrag | Tweet | Eintrag in ein Tagebuch | Liebesbrief |
medial mündlich | Alltagsdialog mit Freunden | Interview in öffentlichen Medien | Festtagsrede |
Zu dieser Skala ist noch anzumerken, dass der dem Nähepol zugewandte Bereich überwiegend von medial mündlich basierten kommunikativen Praktiken des prototypischen Nähesprechens, wie z.B. von Alltagsdialogen, eingenommen wird, während periphere und schriftlich basierte Praktiken der Nähekommunikation eine Verortung näher hin zum ,Distanzpol‘ nahelegen.
Koch / Oesterreicher (1985 und 1994) nutzen dieses Konzept Sölls. Sie führen zusätzlich zur terminologischen Bezeichnung dieses Gegensatzpaares die Begriffe „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ ein, verfeinern darüber hinaus das Raster der Kriterien zur Verortung eines Textes bzw. einer kommunikativen Praktik im Kontinuum der Skala zwischen Nähe und Distanz – den Autoren folgend gehören diese Kriterien entweder den „Kommunikationsbedingungen“ oder den „Versprachlichungsstrategien“ an – und gelangen so zu ihrem über die Grenzen der Romanistik und germanistischen GSF bekannt gewordenen Modell des ‚Nähe- und Distanzsprechens‘.
Das an dieser Stelle benutzte Modell des Nähe- und Distanzsprechens von Ágel / Hennig greift zwar das Basiskonzept des ursprünglichen Modells auf, entwickelt es aber im Sinne einer Homogenisierung und strengen Hierarchisierung weiter. Diese Optimierung betrifft in erster Linie eine Korrektur der Kriterien, die Koch / Oesterreicher ursprünglich zur Bestimmung der Nähesprachlichkeit eines Textes im Kontinuum der Skala zwischen Nähe- und Distanzpol benutzt hatten. Dabei werden in der neuen Version des Modells alle von Koch / Oesterreicher benutzten Kriterien weggelassen, die sich nicht direkt aus dem Axiom „Zeit und Raum der Produktion = Zeit und Raum der Rezeption einer Äußerung“ ableiten lassen. So haben nach Meinung von Ágel / Hennig Kriterien wie „Vertrautheit der Partner“, „Spontanität“, „Grad der Öffentlichkeit“ (cf. Koch / Oesterreicher 1985 und 1994) keinen Platz in dem von ihnen vorgeschlagenen Modell, weil diese Kriterien sich nicht direkt aus dem Axiom ihres Modells ableiten lassen. Sie würden eine operationalisierbare Anwendung für die Analyse von Texten sowie die Objektivität der resultierenden Ergebnisse gefährden. Für eine quantitative und qualitative Bestimmung von Textexemplaren und kommunikativen Praktiken sowie ihrer hieraus resultierenden Verortung auf der Skala zwischen Nähe und Distanz bleiben folglich ausschließlich die unten in der schematischen Darstellung dieses Modells (fünf Schemata) dargestellten Kriterien in Form von ‚Universalen Diskursverfahren‘ und ‚einzelsprachlichen Merkmalen‘ übrig.
Um eine entsprechende Analyse an einem Beispiel zu veranschaulichen: Findet man in einem portugiesischen Alltagsgespräch am Ende eines Sprechbeitrags wiederholt die Form não é, oder zwischen den ‚turns‘ der an einem Dialog beteiligten Gesprächsteilnehmer die häufig eingestreute Form pois, lassen sich diese Ausdrücke im Rahmen des Modells dem universalen Diskursverfahren „Engführung der Orientierung“ zuordnen. Dieses Verfahren wiederum kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass Zeit und Raum der Produktion von Äußerungen mit der Zeit und dem Raum der Rezeption dieser Äußerungen zusammenfallen (cf. Axiom des Modells). Dass es unter diesen situativen Umständen prototypischen Nähesprechens für Sprecher und Hörer fast zwingend naheliegt, ein gegenseitiges Verständnis ihrer Äußerungen durch den häufigen Gebrauch entsprechender sprachlicher Formeln – im Portugiesischen u.a. durch die oben erwähnten sprachlichen Ausdrücke pois oder não é – anzustreben, ist logisch und ergibt sich als universal gültige Konsequenz aus dem Axiom des Modells.
Anders würde es sich verhalten, wenn es nachzuweisen gelte, welcher „Grad der Vertrautheit“ zwischen Sprecher und Hörer besteht – bei Koch / Oesterreicher (2011, 7) eines der ursprünglich vorgeschlagenen Kriterien aus der Gruppe der „Kommunikationsbedingungen“ –, weil es sich hierbei um ein Kriterium handelt, das sich objektiv kaum nachweisen lässt und somit einer operationalisierbaren Anwendung des Modells im Wege stünde.
Universale Geltung kann das Modell beanspruchen, weil man für alle Sprachen und für die in ihnen stattfindenden Dialoge annehmen darf, dass sie auf gegenseitiges Verständnis ausgerichtet sind und sich am gleichen Diskursverfahren einer ‚Engführung der Orientierung‘ orientieren, auch wenn dabei die sprachlichen Mittel jeweils unterschiedlich ausfallen, durch die sich dieses Diskursverfahren in den unterschiedlichen Sprachen manifestiert.
Bei der folgenden schematischen Darstellung des Modells von Ágel / Hennig gilt es einige von mir eingeführte Vereinfachungen bzw. Veränderungen zu beachten. Dabei gehe ich davon aus, dass sie die ursprüngliche Form des Models weder sinnwidrig verzerren, noch im Widerspruch zu seinen Grundvoraussetzungen stehen: (a) So handelt es sich um eine vereinfachende Darstellung, die zwei höhere Abstraktionsstufen, die Ágel / Hennig bei der Darstellung ihres Models benutzen (2007, 179), außer Acht lässt. Damit beziehe ich mich auf die in der Hierarchie des Models oberhalb der „Universalen Verfahren der Diskursgestaltung“ angeordneten Ebenen „Universale Parameter der Diskursgestaltung“ sowie „Universale Parameter der Kommunikation“ (Ágel / Hennig 2007, 184sq.). In einem zusätzlichen Schritt verkürze ich mit dem Ziel einer verbesserten Lesbarkeit den Terminus „Universale Verfahren der Diskursgestaltung“ zu ‚Universale Diskursverfahren‘. Dabei bleibe ich bei der ursprünglichen Bestimmung, die Ágel / Hennig für diesen Begriff vorsehen: „Um einen Diskurs bspw. interaktiv zu gestalten, wenden Kommunikationsteilnehmer bestimmte Verfahren an (wie bspw. das Verfahren der Rezeptionssteuerung), die wir deshalb ‚Universale Verfahren der Diskursgestaltung‘ nennen“ (Ágel / Hennig 2007, 185). Diese Definition bleibt auch an dieser Stelle gültig, mit der Einschränkung, dass der Terminus „Universale Verfahren der Diskurgestaltung“ im folgenden Text durch ‚Universale Diskursverfahren‘ ersetzt wird, und dass ich in den folgenden Kapiteln den Ausdruck im Fließtext zudem kleinschreiben und ohne Anführungsstriche darstellen werde. (b) Die Schemata weiter unten, die das ‚Universale Axiom‘ des Models, seine ‚Universalen Diskursverfahren‘ sowie die ihnen entsprechenden ‚einzelsprachlichen Merkmale‘ der portugiesischen Sprache7 zuordnen, bilden die Grundlage für die Gliederung dieser Arbeit und spiegeln sich ebenfalls im Inhaltverzeichnis des Buches wider. (c) Die Bezeichnungen für die verschiedenen universalen Diskursverfahren – wenn man von dem an dieser Stelle vereinfachten Terminus ausgeht – übernehme ich weitgehend und zum Teil wörtlich von Ágel / Hennig (2007, 189sqq.). Die Benennungen der einzelsprachlichen Merkmale hingegen, die in den Schemata jeweils den universalen Diskursverfahren zugeordnet sind, richten sich nach den thematisierten sprachlichen Phänomenen sowie den Begriffen und Termini, die auch in der portugiesischen Fachliteratur zur ihrer Kennzeichnung benutzt werden. Im Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit erscheinen universale Diskursverfahren und sprachliche Merkmale als Titel und Untertitel der Kapitel, in denen sie erörtert werden. Für ein angemessenes Verständnis bei der Lektüre des Buches sollte der Leser also sein Augenmerk auf die Übereinstimmungen richten, die zwischen den in den folgenden Schemata des Modells genannten universalen Diskursverfahren und sprachlichen Ausdrucksmitteln einerseits, und der Inhaltsgabe und den in den Kapiteln des Buches thematisierten Inhalten andererseits, bestehen. (d) Im Zusammenhang mit der Analyse von kommunikativen Praktiken der ‚keyboard-to-screen communication‘ interpretiere ich das Axiom des Modells in dem Sinn, dass sich ihm auch der Begriff eines ‚virtuellen Raums‘ (Internet) sowie einer ‚subjektiv empfundenen Zeit‘ zuordnen lassen – letztere ist als empfundener Zeitmangel kennzeichnend für im Internet kommunizierende ‚User‘ und charakterisiert ihre rasch ablaufenden Routinehandlungen am Computer. Auch andere Faktoren, die als spezifische Rahmenbedingungen das Funktionieren einer ‚keyboard-to-screen communication‘ steuern, wie z.B. die Möglichkeit des Postens von Retweets oder zitierten Tweets beim Twittern, lassen sich m.E. in dieses erweiterte Modell integrieren und helfen, den Gebrauch bestimmter sprachlicher Ausdrucksmittel des Nähesprechens zu verstehen.
Die folgenden fünf Schemata veranschaulichen den Zusammenhang zwischen dem „Universalen Axiom“ des Modells des Nähe- und Distanzsprechens ‚Zeit/Raum der Produktion = Zeit/Raum der Rezeption einer Äußerung‘ und den Analyseparametern ‚Rolle‘, ‚Zeit‘, ‚Situation‘, ‚Code‘ und ‚Medium‘, im Rahmen derer sich die Interpretation der jeweiligen ‚Universalen Diskursverfahren‘ anbietet. Darüber hinaus listen diese Schemata die ‚sprachlichen Merkmale‘ des Portugiesischen auf, in denen sich diese Verfahren manifestieren.
Schema zum Parameter ‚Rolle‘
Universale Diskursverfahren | Sprachliche Entsprechungen im Portugiesischen |
Kontaktherstellung zwischen P und R | a) Ausdrücke und Gesten zur Kontaktherstellung b) Anrede-/Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln |
Sequenzierung der Rede | a) Organisation des ‚turn-taking‘ durch Einsatz von Rederechtsmitteln b) Verschiedene Formen der Adjazenz, die oft elliptische Strukturen zur Folge haben, Wiederaufnahme oder Fortsetzung von Teilen der vorausgehenden Äußerung des Gesprächspartners bzw. elliptische Paarformelen in Frage-Antwort Sequenzen. |
Engführung der Orientierung | a) Sprachliche und tonale Zeichen zur Engführung, die nach Aufmerksamkeit suchen, Aufmerksamkeit anzeigen oder Verständnis bzw. Nichtverstehen signalisieren. b) Adjazente Strukturen der Wiederholung und Fortführung von Teilen der Äußerung des Gesprächspartners. |
Formen aggregativer Rezeptionssteuerung | a) Operatoren in ‚O-SK-ST‘: Sie leisten eine zusätzliche Verstehensanleitung zu der Aussage, die im ‚Skopus‘ der jeweiligen Aussage steht, auf die sie sich beziehen; sie explizieren die gemeinte Sprechhandlung; sie geben die subjektive Einschätzung des Sprechers zum Ausgesagten wieder und nuancieren auf diese Weise die Kraft der im Skopus übermittelten Illokution; sie verdeutlichen die formale Gliederung der Elemente in einer Sprechsequenz. b) Tópicos Marcados heben im Portugiesischen Teile der Sprechsequenz hervor und rücken sie in den Aufmerksamkeitsfokus des Hörers. c) Construções de Clivagem heben ebenfalls Teile der Sprechsequenz hervor und rücken sie in den Aufmerksamkeitsfokus des Hörers. |
P mit Bezug auf R Illokutionsnuancierung | a) Im Deutschen übernehmen ‚Modalpartikeln‘ diese Aufgabe, im Portugiesischen normalerweise ‚O-SK-ST‘. |
Bei direktem physischen und psychischen Kontakt zwischen Produzent und Rezipient Tendenz zu gefühlsbetonter Sprechweise | a) Spezielle usuelle Wortverbindungen und Ausdrücke der Hyperbolik dienen im Portugiesischen der Emotionalisierung des Diskurses. Sie versuchen, den Gesprächspartner zu beindrucken und zu überreden. |
Schema zum Parameter ‚Zeit‘
Universale Diskursverfahren | Sprachliche Entsprechungen im Portugiesischen |
Aggregative Strukturierung des Informationsflusses | a) Anakoluthe b) Apokoinu c) constructio ad sensum d) Parenthesen e) Verschiedene Formen, um bestimmte Elemente einer Sprechsequenz aus dem Rest der Äußerung hervorzuheben, wie frases clivadas, tópicos pendentes, formas de adiamento etc. f) Vereinfachte Relativsätze, die eine aggregative Gliederung erlauben. Orações relativas cortadoras und orações relativas resumptivas u.a. vermeiden komplexe hypotaktische Strukturen und bevorzugen mehrdeutige interpropositionale Relationsstiftungen. g) Operatoren in ‚O-SK-ST‘ h) Abhängige Hauptsätze i) Zusätzliche Indikatoren für eine Integration von Neben- in Hauptsätze. j) ‚Fehlende oder eingeschränkte semantisch-syntaktische Kohäsionsmarkierung zwischen den Teilen einer Äußerungssequenz durch additives Aneinanderreihen der Teilsequenzen einer Äußerung‘: durch justaposição8, bzw. durch polyvalente Konnektoren wie agora, portanto etc. k) Fehlende Integration von Verb und Pronomen, in Bildungen wie ajudar ela statt ajudá-la etc. l) Ausdrücke mit redundanten Elementen grammatischer Werte wie há umas semanas atrás m) Formen doppelter Negation (Concordância Negativa) |
Einfache Verfahren der Einheitenbildung | a) ‚Reaktive‘ als spontane ‚Kurzreaktionen‘ auf die Äußerungen des Gesprächspartners b) kurze Äußerungseinheiten c) Parataxen d) Verdichtung von Hypotaxen e) Fehlende bzw. eingeschränkte ‚syntaktische Kohäsionsmarkierung‘ zwischen den Propositionen einer Äußerung f) Parenthesen g) Vereinfachte Relativsätze h) Abhängige Hauptsätze i) Unabhängige Nebensätze j) Abkürzungen von Worten oder Syntagmen in kommunikativen Praktiken der ‚keyboard-to-screen communication‘ k) Aposiopese |
Zeitgewinn zur Überwindung von Pausen oder Formulierungsschwierigkeiten | „Überbrückungsphänomene“ (Ágel / Hennig 2007, 200): a) Pausen b) Dehnung einzelner Laute, Silben und Wörter c) Verzögerungssignale in Form tonaler Zeichen d) Wiederholung von Wörtern, Syntagmen und ganzen Äußerungen seiner eigenen oder der vorgängigen Äußerungssequenz des Gesprächspartners. e) „Passe-partout-Wörter“ (Schwitalla 2012, 161), d.h. Ersetzung exakt passender durch allgemeinere, semantisch ‚schwammige‘ Bezeichnungen. f) „Et Cetera-Formeln“ (König / Stoltenburg 2013) einschließlich der Wiederholung von Pünktchen am Ende einer Sprechsequenz, insbesondere in Praktiken der ‚keyboard-to-screen communication‘. g) Bestimmte ‚Diskursmarker, die auch in der Funktion von Überbrückungsphänomenen gebraucht werden, wie portanto, agora, de qualquer das maneiras, então etc. |
‚Online-Korrekturen‘ | a) durch besondere Ausdrücke und ‚usuelle Wortverbindungen‘. b) Wiederholungen einzelner Worte oder Ausdrücke in korrigierter Form. c) Korrigierende Präzisierungen durch entsprechende verbale Ausdrücke oder Ergänzungen am Rande von Sprechsequenzen. |
Schema zum Parameter ‚Situation‘
Universale Diskursverfahren | Sprachliche Entsprechungen im Portugiesischen |
Möglichkeit direkter grammatischer Verfahren | a) Ausdrücke temporaler, lokaler und personaler Deixis. b) Freie Tempuswahl und historisches Präsens. c) Deiktische Verknüpfung des Gesagten mit der Erzählwelt (Deixis am Phantasma). |
Verflechtung von Sprechen und non-verbalem Handeln durch die Einbeziehung von gemeinsam zugänglichen Objekten im gleichen physikalischen oder virtuellen Raum | a) Empraktische Nennungen (Bühler 1982[1934], 155sq.): Elliptische Ausdrücke in stark vorstrukturierten Situationen, wenn z.B. jemand am Fahrkartenschalter sagt Coimbra ida e volta, se faz favor. b) Pragmatische Ellipsen |
Verfahren zur Markierung von Direktheit in Redewiedergabe | a) Direkte und indirekte Rede und die Formen ihres Zusammenspiels, in Ausrichtung an den interaktional-pragmatischen Zielen des Sprechers, der ‚Rede wiederherstellt‘. |
Schema zum Parameter ‚Code‘
Universale Diskursverfahren | Sprachliche Entsprechungen im Portugiesischen |
Informationsübermittlung durch Einbeziehung von Zeichen unterschiedlicher semiotischer Beschaffenheit | a) Kommunikatives Handeln durch Zeichen, die nicht zum verbalen Code gehören. b) Mittel zur Emotionalisierung des Diskurses durch Gestik, Mimik, Einnahme einer gewissen Distanz zwischen den Sprechern etc., bzw. Kompensation dieser Mittel durch Smileys, Emoticons, Akronyme, Iteration von Worten oder Satzzeichen bei der ‚keyboard-to-screen communication‘. Auf Grund des physischen und psychischen Zusammentreffens werden kommunikative Mittel wichtig, die eine ‚Emotionalisierung‘ des Diskurses ermöglichen: mittels tonaler Zeichen und außerhalb des verbalen Codes liegender Mitteln der Lautmalerei. |
Parameter ‚Medium‘
Universale Diskursverfahren | Sprachliche Entsprechungen im Portugiesischen |
Bildung von Sprecheinheiten | a) Bildung von ‚phonischen Worten‘ statt ‚graphematischer Einheiten‘, d.h. Orientierung am akustischen Gedächtnis bei der Hervorbringung lautlicher Zeichen und nicht am visuellen Eindruck durch entsprechende graphische Zeichen der Schriftsprache: daraus resultierende Formen wie tás statt estás, tou statt estou, tava statt estava, pra statt para etc. |
Ausnutzung prosodischer Mittel zur Informationsgestaltung | a) Akzentuierung von Silben, Wörtern oder Teilen der Sprechsequenz. b) Schaffung rhythmischer Gruppen c) Dynamik im Sprechen durch den Unterschied von ‚laut und leise‘. d) Klangliche Veränderung der Stimme. e) Mittel der Kompensation bei der ‚keyboard-to-screen communication‘, z.B. durch graphositilistische Mittel in Form von Zeichen- oder Buchstabenwiederholung, Farbänderung der Buchstaben, Großschreibungen etc. |
Wie oben ausgeführt, beschreibt dieses Buch charakteristische sprachliche Ausdrücke und Strukturen des portugiesischen Nähesprechens im Rahmen des Modells des Nähe- und Distanzsprechens in seiner Ausprägung bei Ágel / Hennig. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass dieses Konzept auf Grund der Universalität seiner Analyseparameter, seiner klar und hierarchisch gegliederten Struktur sowie der Operationalisierbarkeit seiner Kriterien sich auch für weitergehende Studien zum gesprochenen Portugiesisch als geeignet erweist.
Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es zunächst einmal zu beachten, dass Untersuchungen zu gesprochenen bzw. nähesprachlichen Varianten einer Sprache nur dann zu verwertbaren Ergebnissen gelangen können, wenn sie sich auf eine Beschreibung des empirisch belegbaren Gebrauchs sprachlicher Ausdrucksformen und Strukturen dieser Sprache stützen – mit anderen Worten, wenn sie auf der Untersuchung von geeigneten Korpora der GS basieren. Nur durch systematische Korpus basierte Arbeit, zusammen mit der Berücksichtigung von Hinweisen aus Grammatiken und relevanten Beiträgen aus der Sekundärliteratur, kann es gelingen, formal so unterschiedliche Erscheinungen wie Operatoren in ‚O-SK-ST‘, Tópicos Marcados und Construções de Clivagem als sprachliche Merkmale zu identifizieren, in denen sich das gleiche universale Diskursverfahren einer ‚Aggregativen Rezeptionssteuerung‘ (cf. Kapitel 5.3) manifestiert. Sie alle dienen dem Versuch, auf die Dekodierung einer Äußerung des Gesprächspartners Einfluss zu nehmen und lassen sich unter diesem Funktionsaspekt zu einer Kategorie zusammenfassen. Einen entsprechenden Hinweis auf die funktionale Zusammengehörigkeit dieser drei Gruppen sucht man in portugiesischen Grammatiken oder portugiesischer Fachliteratur9 aber vergeblich.
Bei der empirischen Arbeit an Korpora ist es entscheidend, nach Gewichtungen und Gebrauchsregularitäten Ausschau zu halten, die sich zu Gruppen zusammenfassen und funktional bestimmen lassen. Auch wenn diese Gruppen verbaler Ausdrücke oder Strukturen zum Zeitpunkt einer solchen Untersuchung noch nicht durch die Grammatik einer Sprache beschrieben oder in ihren Regelbestand übernommen wurden, und sich folglich auch nicht als Teil des Sprachsystems der fraglichen Sprache bestimmen lassen, ist nicht auszuschließen, dass sie im Moment ihrer Erforschung bereits von funktionaler Bedeutung sind, und zu einem späteren Zeitpunkt eine solche Integration erforderlich wird.
An dieser Stelle gewinnt der Begriff ‚Norm‘, wie Coseriu ihn interpretiert, für die vorliegende Arbeit eine entscheidende Bedeutung. Coseriu versteht unter „Norm“ die sprachlichen Verwendungsweisen, die auf den „gewöhnlichen Gebrauch“ in einer Sprachgemeinschaft deuten. Es handelt sich bei diesem Normbegriff somit um eine vermittelnde Größe zwischen der „parole“ als dem individuell zufälligen Sprachgebrauch eines Individuums und der „langue“ als dem abstrakten Regelsystem der Sprache. (Coseriu 1974, 47sqq.). Diesem Verständnis zufolge entwickeln sich Normen als Folge eines häufigen Gebrauchs von bestimmten sprachlichen Ausdrucksweisen und Strukturen, auf die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft regelmäßig zurückgreifen, um wiederholt auftretende kommunikative Aufgaben zu lösen.
Ein Beispiel für eine ‚Norm‘ im Bereich syntaktischer Strukturen betrifft den Gebrauch von Relativsätzen im kontinentalen und brasilianischen Portugiesisch. Gemeint sind die sogenannten „orações relativas cortadoras“ und „orações relativas resumptivas“ (Arim et al. 2005, 67sqq.) in Äußerungen wie estou dentro da área que gostaria de estar oder Sô´tor uma outra questão que enfim me parece que um Presidente da República deverá ter alguma opinião sobre ela10, die sich mittlerweile zu ‚Gebrauchsregularitäten‘ oder ‚Normen‘ im oben erläuterten Sinn Coserius herausgebildet haben.
Diese Norm gewinnt im Hinblick auf möglich bevorstehende Prozesse des Sprachwandels11 an Bedeutung, wenn man sich im Zusammenhang mit den regelabweichenden Relativsätzen eine Reihe anderer sprachlicher Phänomene vor Augen führt, selbst wenn diese von Verfechtern einer konservativen Vorstellung der portugiesischen Grammatik und von Sprachpuristen als ‚nicht akzeptabel‘ oder als nur ‚eingeschränkt gültig‘ abgewertet werden. Bei diesen zusätzlichen Erscheinungen handelt es sich u.a. (a) um Ausdrücke wie há uns dias atrás12, bei denen durch die Präposition atrás nachträglich eine redundante Markierung des Geschehens als ‚vergangen‘ erfolgt, (b) um diskursive Sequenzen wie e essas ervas chinesas, como é que o paciente ocidental tem acesso a elas?, bei denen eine Trennung des vorangestellten Topik essas ervas chineses vom Rest der Äußerung vorliegt: eine Erscheinung, die in der Grammatik als tópico pendente bezeichnet wird, (c) um grammatisch nicht den Regeln entsprechende Formen wie voltei para ajudar ele statt der ‚korrekten‘ Bildung voltei para ajudá-lo, (d) um Sprechsequenzen wie mas realmente há peixe de muito boa qualidade, agora muitos restaurantes defendem-se, não é, com peixe congelado, in der agora als polyvalenter Konnektor dazu beiträgt, eine exakte Markierung der inhaltlichen und grammatischen Relationen zwischen den Sequenzen mas realmente há peixe de muito boa qualidade und muitos restaurantes defendem-se, não é, com peixe congelado zu vermeiden: Diese charakteristische Erscheinungsform des Nähesprechens wird im Schema oben auch als ‚Fehlende oder eingeschränkte semantisch-syntaktische Kohäsionsmarkierung zwischen den Teilen einer Äußerungssequenz‘ bezeichnet.
Die Gemeinsamkeit dieser vier erläuterten Ausdrücke und Strukturen ergibt sich unter dem Aspekt, dass sich in ihnen das universale Diskursverfahren ‚Bevorzugung einer aggregativen statt integrativen Strukturierung des Informationsflusses‘13 (innerhalb des Beschreibungsparameters ‚Zeit‘) manifestiert. Dieses Verfahren lässt sich u.a. durch folgende Kriterien charakterisieren: additive statt integrative Organisation der inhaltlichen Elemente einer Diskurssequenz; statt Planung der gesamten syntaktischen Struktur einer Äußerung von einer zentral ordnenden Perspektive aus, erfolgt eine stückchenweise Organisation von relativ kurzen und einfachen Syntagmen; Redundanz der Informationsübermittlung; Vermeidung expliziter Formen der Kohäsionsmarkierung zwischen benachbarten Teilsequenzen des Diskurses durch den Gebrauch entsprechend flexibler und mehrdeutiger Konnektoren etc.
Ohne die Einbeziehung einer übergeordneten Perspektive, die sprachliche Erscheinungen zusammenführt, die in Grammatiken der Schriftsprache in getrennten Kapiteln und unzusammenhängend thematisiert werden, träten – speziell auf das Portugiesische bezogen – die ‚regelwidrigen‘ Erscheinungen im Bereich der Bildung von Relativsätzen als isolierte Phänomene auf. Folglich könnte man ihnen nicht die Bedeutung und das Potential zugestehen, sich als auslösender Faktor für zukünftige Prozesse des Sprachwandels zu erweisen. Diese Bedeutung gewinnen die regelabweichenden Relativsätze nur im Zusammenhang und durch die Zusammenschau mit den anderen oben erläuterten Gebrauchsregularitäten von (a) bis (d), die in portugiesischen Grammatiken allerdings vernachlässigt werden.
Eine andere von Coseriu vertretene Haltung, die als grundlegende Einsicht auch die im vorliegenden Buch aufgestellten Thesen prägt, betrifft das von Coseriu postulierte ,Primat des Gesprochenen‘. Damit meint er die Priorität des Sprechens aus genealogischer und methodischer Sicht sowie die vorrangige Bedeutung mündlicher Verständigung für sprachliche Entwicklungsprozesse. ‚Sprechen‘ bedeutet folglich für Coseriu einen Prozess, der – so paradox es zunächst auch scheinen mag – mündliche und schriftliche Kommunikation gleichermaßen umfasst (Coseriu 2007, 58 [1975]):
Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht. Denn während die Sprache ganz im Sprechen steckt, geht das Sprechen nicht ganz in der Sprache auf. Daher muss unsere Meinung nach Saussures bekannte Forderung umgekehrt werden: statt auf den Boden der Sprache‚ muss man sich von Anfang an auf den des Sprechens stellen und dieses zu Norm aller anderen sprachlichen Dinge nehmen.
Dieses Zitat und die Argumente Coserius liefern zusammen mit dem oben dargestellten Modell des Nähe- und Distanzsprechens hinreichende Gründe dafür, in den folgenden Kapiteln die Begriffe ‚Nähesprechen‘ bzw. ‚Nähekommunikation‘ zu gebrauchen, auch wenn vereinzelt damit kommunikative Praktiken gemeint sind, die medial auf einer schriftlichen Basis beruhen.
Zur Bestimmung zusätzlicher, nonverbaler Anteile der Kommunikation, von denen im weiteren Verlauf des Buches immer wieder die Rede sein wird: Unter Merkmalen der ‚Prosodie‘ verstehe ich die Gesamtheit lautlicher Strukturen, zu denen ‚Betonung‘ (Wort- und Satzakzent), ‚Rhythmus‘ (intendierter, regelmäßig-systematischer Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben), ‚Intonation‘ (Verlauf, Richtung und Modulation der Sprechmelodie innerhalb einer Sprechsequenz), ‚Intensität und Lautstärke‘, ‚Sprechgeschwindigkeit‘ sowie ‚Pausen‘ gehören14. Diese Merkmale besitzen die Charakteristika ‚suprasegmentaler‘ Elemente, weil sie nicht mit einzelnen Segmenten der Lautkette (Laute, Silben, Worten, Phrasen) zusammenfallen, sondern erst im Zusammenhang umfassender, segmentübergreifender Sprechsequenzen beschrieben und verstanden werden können. Von diesen suprasegmentalen Merkmalen der Prosodie, die in gewissen Kontexten sprachsystemische Relevanz besitzen – hinsichtlich der Kodierung der illokutiven Kraft eines Sprechakts und hinsichtlich der Informationsstruktur einer Äußerung –, lassen sich andere Elemente „parasprachlicher Kommunikation“ (cf. Lehmann 201315) unterscheiden, die sprachsystemisch irrelevant sind. Zu ihnen gehören lautliche Manifestationen wie ‚Räuspern‘, ‚Seufzen‘, ‚Grunzen‘, ‚Schluchzen‘ etc. (ibid.). Letztere sind m.E. aber durchaus in der Lage – und dieser Zusatz ist gerade aus der Sicht der hier vorliegenden Arbeit erwähnenswert –, kommunikative Aufgaben zu übernehmen, die aus pragmatischer Sicht von Bedeutung sein können: ein ‚Seufzen‘ als Ausdruck von Liebe, Kummer, Schmerz etc.
Zur „nichtsprachlichen Kommunikation“ zählen „Mimik“, „Gestik“, „Haltung“ und „Proxemik“. Unter letzteren Begriff, der allgemein weniger bekannt sein dürfte, versteht Lehmann ein „bedeutungsvolles Gestalten des Raums in einer Kommunikationssituation“ (ibid.).
In den folgenden Ausführungen des Buches verwende ich vereinfachend die Ausdrücke ‚suprasegmentale Merkmale der Prosodie‘ und ‚nichtverbale Anteile der Kommunikation‘, wobei ich implizit die obigen Bestimmungen meine.