Читать книгу Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive - Bernd Sieberg - Страница 9
1. Einleitung
ОглавлениеSprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Worte ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt.
(De Saussure [1916] 1967, 28)
Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht. Denn während die Sprache ganz im Sprechen steckt, geht das Sprechen nicht ganz in der Sprache auf.
(Coseriu [1975] 2007, 58)
Ziel dieser Untersuchung ist es, sprachliche Merkmale der mündlichen portugiesischen Kommunikation aus sprachpragmatischer Perspektive1 zu beschreiben. Die onomasiologische Vorgehensweise – von Funktionen zu sprachlichen Merkmalen zur Wahrung dieser Funktionen – nimmt dabei ihren Ausgang von Aufgaben, die sich daraus ergeben, dass Sprechen in konkreten Situationen und in Anwesenheit von Gesprächsteilnehmern und ihren Interessen erfolgt. Aus diesen Umständen erwachsen Beschränkungen und Möglichkeiten, die wesentlich die Art und Weise prägen, wie die beteiligten Personen unter diesen Bedingungen vom verbalen Code Gebrauch machen. Die weitere detaillierte Bestimmung und Gliederung entsprechender sprachlicher Ausdrücke und Strukturen im Zusammenhang mit den Faktoren ‚Situation‘ und ‚Anwesenheit von Gesprächspartnern‘ erfolgt dabei im Rahmen des Modells des Nähe- und Distanzsprechens (Ágel / Hennig 2006a, 2006b, 2007), seines Axioms, seiner universalen Diskursverfahren, seiner Begriffe und seiner Terminologie. Die entsprechenden Grundannahmen, die dieses Konzept prägen, werden in ‚Kapitel 4‘ vorgestellt. Zusammen mit Erkenntnissen der „Interaktionalen Linguistik“, der zufolge es beim dialogischen Sprechen immer auch darum geht, „intersubjektiv Bedeutung herzustellen und soziale Beziehungen zu gestalten“ (Imo 2015, 3), werden in den Kapiteln dieses Buches charakteristische Erscheinungen des mündlichen Portugiesisch – der Begriff ‚mündlich‘ wird im Folgenden durch den umfassenderen Begriff ‚nähesprachlich‘ (siehe ‚Kapitel 4‘) ersetzt – erläutert und in einem systematisch und hierarchisch geordneten Zusammenhang erklärt.
Untersuchungen zum gesprochenen Portugiesisch findet man in den letzten Jahren immer häufiger (siehe auch ‚Kapitel 2‘). Dazu zählen insbesondere Studien, die phonetische oder lexikalisch-geographische Aspekte2 der ‚Gesprochenen-Sprache-Forschung‘ thematisieren. Pragmatische Gesichtspunkte werden hingegen relativ selten erörtert, und wenn, fehlt es den entsprechenden Beiträgen meiner Einschätzung nach oft an einer durchdachten konzeptionellen Grundlage. Entsprechend zusammenhangslos werden die entsprechenden Erkenntnisse präsentiert, was wiederum zur Folge hat, dass sie nicht angemessen wahrgenommen werden und infolgedessen in den Referenzgrammatiken3 – zumindest zum Kontinentalportugiesisch – bis jetzt keine angemessene Beachtung gefunden haben.
Zur Vermeidung bestimmter Vorurteile, die sich leider nur allzu schnell mit dem Begriff der gesprochenen Sprache verbinden: Es geht in diesem Buch weder um Dialekte, Soziolekte oder Gruppensprachen – wie z.B. der Jugendsprache –, sondern um Formen und Ausdrucksweisen, die allgemein und variantenübergreifend erforderlich sind, um mündliches oder schriftlich basiertes Nähesprechen überhaupt erst zu ermöglichen.
Die einleitenden Zitate von zwei der renommiertesten Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts heben die besondere genealogische und methodologische Vorrangigkeit gesprochener Sprache im Vergleich zum schriftlichen Ausdruck hervor und bieten somit einen geeigneten Ausgangspunkt für das Thema des Buches. Nun wird sich der Leser vielleicht zweifelnd fragen, ob es denn nicht im Gegenteil der schriftliche Ausdruck und die auf seiner Basis entstandenen Werke der Literatur und Wissenschaft sind, die Kultur und den Stolz einer Sprachgemeinschaft prägen und die kulturelle Identifikation von Individuen ermöglichen?4 Dieser Meinung kann man nur zustimmen, und auch an dieser Stelle soll die überragende kulturelle Bedeutung des geschriebenen Wortes nicht geleugnet werden. Der schriftliche Ausdruck bildet einen ausschlaggebenden Faktor bei der Entwicklung hochzivilisierter Sprachgemeinschaften, an der literarische und wissenschaftliche Werke ihren wesentlichen Anteil haben. Diese Herausstellung des Primats der Schriftlichkeit trifft auch für den Bereich der Sprachwissenschaft zu. Ohne die Möglichkeit schriftlicher Dokumentation wäre die Möglichkeit einer systematischen Erforschung der gesprochenen Sprache, ihrer Weiterentwicklung, Verbreitung und Überlieferung in Form von Grammatiken, Wörterbüchern und Beiträgen zur Fachliteratur ausgeschlossen. Folgende Zitate der Linguisten Coulmas und Ágel verdeutlichen diese Überzeugung:
Schrift fixiert Sprache nicht nur im visuellen Sinn, sondern auch, indem sie sie stabilisiert. Mit anderen Worten, Schrift ist das Mittel der Sprachstandardisierungen (Coulmas 1985, 98).
Die Ablösung der oralen und die Herausbildung der literalen Kultur bedeuten, dass der Mensch nunmehr nicht nur Sprechhandlungen vollzieht, sondern auch Sprachwerke schafft [Heraushebung durch den Autor des Zitats], und dass diese Sprachwerke über grammatische (und sonstige sprachliche) Merkmale verfügen, über die Sprechhandlungen nicht verfügen (und umgekehrt). (Ágel 1999, 211)
Diese von allen Sprachgemeinschaften geteilte Hochachtung der Schrift führte dann allerdings in der Folgezeit zu einem wachsenden Verlust der Wertschätzung der gesprochenen Sprache. Diese ist durch eine fast vollkommende Vernachlässigung bzw. durch eine Form wissenschaftlicher Thematisierung gekennzeichnet, die auf verzerrenden und fehlerhaften theoretischen Voraussetzungen beruht. Zu diesen zählen (a) eine Beschreibung von Merkmalen der gesprochenen Sprache im latenten, wenn auch oft unbewussten Vergleich mit der Grammatik der geschriebenen Standardsprache, die sozusagen den geltenden Maßstab für alle Formen sprachlicher Verständigung darstellt, (b) eine einseitige Fokussierung auf ihre lautliche Realisierung, (c) die Ausklammerung der Eigenständigkeit von Regularitäten des Sprachgebrauchs5 auf der Ebene der Morphosyntax sowie (d) die Nichtbeachtung bzw. Unterbewertung von sprachlichen Ausdrücken und Strukturen, deren Bedeutung für das Funktionieren mündlicher Kommunikation sich aus sprachpragmatischer Perspektive eröffnet.
Obwohl sich auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Hinweise in der portugiesischen Sekundärliteratur finden, die den oben genannten Tendenzen widersprechen und dem lebendigen, gesprochenen Wort ihre Aufmerksamkeit zuwenden6, überwog lange Zeit die Rückwendung auf die Vergangenheit und eine Dominanz präskriptiver Formen der Sprachbeschreibung7. Zusammen mit der einseitigen Wertschätzung der Schriftkultur ergab sich daraus eine Haltung, die in der angelsächsischen und germanistischen Wissenschaftsliteratur als „Skriptizismus“8 bezeichnet wird. Aus der Sicht der brasilianischen Linguistin Quadros Leite stammt dieses Vorurteil, das in der Annahme einer minderwertigen Mündlichkeit gegenüber dem überlegenen schriftlichen Ausdruck ausgeht, aus der Epoche der Renaissance, als sich eine Grammatikalisierung der Sprachen vollzog: „A partir desde momento a língua é entendida como uma entidade monolítica, cuja única forma é aquela descrita nos manuais de gramática tradicional e nos dicionários; as divergências são erros crassos“ (Quadros Leite 2000, 135). Auf ironische Weise äußert sich der germanistische Sprachwissenschaftler Ludger Hoffmann (1998, 3) darüber, wie sich die Haltung des ‚Skriptizismus‘ in den Köpfen und dem Denken seiner Verfechter widerspiegelt:
Kein Wunder, dass Lehrstuhl-Grammatiker die Mündlichkeit für chaotisch und irregulär halten und als bloße ‚Performanz‘ aus dem Gegenstandsbereich verbannen. Sie befassen sich lieber mit dem in den Köpfen ‚internalisierten‘ Sprachsystem, d.h. mit dem, was sie selbst über Grammatik wissen.
Bei allem Verständnis für diese Kritik scheint es allerdings nicht angebracht, beide Anwendungsvarianten verbaler Verständigung gegeneinander auszuspielen. Angemessener lässt sich das Verhältnis zwischen Sprechen und Schrift als eins der gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung bestimmen, das wie der deutsche Sprachwissenschaftler Wolfgang Raible (1994, 2) anmerkt, das Merkmal einer dialektischen Beziehung aufweist: „There´s no slave or servant without a master, no leisure time without work, no nature without culture; in the same way literacy cannot be conceived of without orality, and orality not without literacy“.
Doch war es nicht ausschließlich die Haltung des ‚Skriptizismus‘ – und diese Aussage gilt sowohl für die brasilianisch-portugiesische als auch die germanistische Gesprochene-Sprache-Forschung –, die lange Zeit eine angemessene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der gesprochenen Sprache verhinderte oder zumindest verzögerte. So fehlten bis zur Mitte der 60er Jahre die technischen Voraussetzungen (tragbare Tonbandgeräte), die es ermöglicht hätten, gesprochene Sprache in spontanen Kommunikationssituationen aufzunehmen und für weitere Analysen zu archivieren. Mindestens genauso schwer wiegt aber das methodologische Dilemma, das der Erforschung gesprochener Sprache unausweichlich anhaftet. So ist man zur Erfassung des flüchtigen gesprochenen Wortes zunächst einmal auf die Schrift in Formen von Transkriptionen angewiesen, um den zu untersuchenden Gegenstand überhaupt festhalten, beschreiben und erzielte Erkenntnisse weiterverbreiten zu können. Darüber hinaus stellt jedes Transskript einen Kompromiss dar, weil es nicht in der Lage ist, alle Faktoren angemessen zu beschreiben, die bei einem gesprochenen Alltagsdialog von Bedeutung sind9. Dazu zählt die Gesamtheit der von den Sprechteilnehmern hervorgebrachten Lautsequenzen, zu denen auch solche gehören, die nicht Teil des eigentlichen verbalen Codes sind. Hinzu kommen die ständig wechselnde Mimik, die Gestik und die Gebärden der Gesprächsteilnehmer sowie alle nichtsprachlichen Handlungen, die den verbalen Teil der Kommunikation begleiten. Auch die räumliche Distanz, die Gesprächsteilnehmer zwischen sich einnehmen (Proxemik), und die Prosodie (Dynamik, Wort- und Satzakzente, Rhythmus, Satzmelodie, Stimmfärbung, Länge der Aussprache von Lauten und Pausen) tragen mit zur Informationsübermittlung in einem Alltagsdialog bei.
Um das Ziel der vorliegenden Studie anschaulicher und verständlicher zu machen und um bereits im Vorfeld der späteren, ins Detail gehenden Erläuterungen das Interesse und die Neugier der Leser zu wecken, möchte ich einleitend zwei kurze Textausschnitte vorstellen. Der erste Text von José Saramago, bei dem es sich um einen Ausschnitt aus den „Folhas Políticas“ (Saramago 1999, 178)10 handelt, steht dabei stellvertretend für einen prototypischen Text der ‚Distanzsprache‘11. Der zweite Ausschnitt hingegen, der einen prototypischen Text der ‚Nähesprache‘ repräsentiert, stammt aus dem ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘ des ‚Centro Linguístico da Universidade de Lisboa‘ (=CLUL)‘12.
‚Text 1‘ – Beispiel für einen prototypischen Text des ‚Distanzsprechens‘.
Poucas vezes como neste caso terei sentido tão fortemente a necessidade de me manter num certo ângulo de observação que me é peculiar, o duma aguda e quase obsessiva consciência da absoluta relatividade de todas as coisas – com perdão da incompatibilidade lógica entre relativo e absoluto, que, sendo indesculpável em qualquer texto que se apresentasse com alguma pretensão científica, espera desta vez uma absolvição completa, por ser, obviamente, nesta circunstância, um abuso mais da liberdade de expressão. Literária, claro está. Propor, ou discernir, ou inventariar uma visão (Invenção) europeia da América, sempre terá de tomar em conta os fatores de tempo e de lugar, sob pena de nos vermos precipitados pela imperiosa realidade naquele profundo abismo em que costumam naufragar as inteligências desprevenidas, ingênuas ou otimistas – o tópico. Em primeiro lugar, se o passado considerarmos, desde que Colombo, em 1492, tocou terra americana, julgando ter chegado à índia, e que Álvares Cabral, em 1500, por casualidade ou de caso pensado, encontrou o Brasil – foram diversas mas nunca contraditórias, as imagens que a Europa recebeu de um mundo novo, em muitos aspectos incompreensível, mas, como a história veio a demonstrar, bastante dúctil e moldável, ora pela violência das armas ora pela persuasão religiosa, aos interesses materiais e ideológicos dos que, tendo começado por ser descobridores, imediatamente passaram a exploradores.
Bereits bei einer ersten und oberflächlichen Durchsicht des Textes von Saramago werden folgende Charakteristika deutlich: (a) Es handelt sich um einen aus 221 Wörtern und nur vier Sätzen bestehenden Text. Das einzige kurze Syntagma, das nur aus den drei Wörtern Literária, claro está besteht, ist kein eigenständiger Satz, sondern ein syntaktisch und logisch vom Vorsatz abhängiger ‚Zusatz‘ (Apposition). Nehmen wir ihn heraus, besteht der gesamte Ausschnitt nur aus drei Sätzen mit durchschnittlich 72,7 Wörtern. (b) Die drei verbliebenen Sätze bilden ein dichtes Geflecht ineinander verwobener syntaktischer Strukturen aus Hypotaxen und Parataxen. Besonders komplex sind die Satzgefüge mit mehreren Nebensätzen, die unterschiedliche Grade der Unterordnung aufweisen. Die syntaktischen und inhaltlich-logischen Relationen, die zwischen den verschiedenen Teilen des Gesamttextes bestehen, sind durch entsprechende Konnektoren bzw. Junktoren explizit gekennzeichnet. (c) Die im Text gebrauchten Lexeme wie dúctil oder moldável oder eine Sequenz wie com perdão da incompatibilidade lógica entre relativo e absoluto stehen für einen elaborierten und von Saramago mit Bedacht gewählten subtilen sprachlichen Duktus.
‚Text 2‘ – Beispiel für einen prototypischen Text des ‚Nähesprechens‘13. Charakteristische Merkmale, dieser Art und Weise vom verbalen Code Gebrauch zu machen sind durch Unterstreichung markiert.
A: o que é que acha da moda deste ano?
B: ah / eu acho / olhe / a moda deste ano acho engraçada // acho / porque é / é / tem muita coisa por onde se escolher // é calças curtas e / ah / e compridas / o / hot-pants e / e saias e / midis e maxis e tudo / de modo que / acho uma variedade muito / extraordinária / agrada a toda a gente // toda a gente tem por onde escolher // nós agora até / tivemos / dois dias / em passagens de modelos / a semana passada // com manequins profissionais e / e algumas / ah / raparigas curiosas / mas uma rapariga de lá da loja que se portou muitíssimo bem // e / e agora vou / voltar a ter lá uma passagem / no dia vinte e três // com seis manequins // e parece-me que vão também por alguns números de variedades / isso é que eu ainda não sei o que é que eles vão fazer // já ouvi falar numas bailarinas // eh / não sei que relação o possa ter uma coisa com a outra // mas / eh / de qualquer / eh / forma / e / e / e respondendo / aquilo que o senhor perguntou / acho que / a moda / está interessante / este ano // eu gosto //
A: gosta?
B: / acho que sim // não para mim mas / para as raparigas magras que têm / possibilidades de por tudo e tudo lhes fica bem // acho que sim // temos lá a Maria / a Ana Maria Lucas / que tem uma vontade / uma classe realmente extraordinária // além de bonita // bem / é muito antipática / para já // […]
Eine erste vorläufige Analyse dieses Textausschnitts, der zu einem großen Teil aus einer monologischen Sequenz von ‚Sprecher B‘ besteht, führt zu folgenden Einsichten: (a) Der Text weist 308 Wörter auf, wobei der in Fragmente, einzelne Wörter und Wortformeln ‚zerstückelte‘ Diskurverlauf (Häppchenstil) es im Gegensatz zum Distanztext problematisch gestaltet, die exakte Anzahl von Einheiten, die man als Sätze definieren könnte, festzustellen – ein Problem auf das ich an dieser Stelle nicht weiter einzugehen gedenke. Auf jeden Fall handelt es sich bei den Fragmenten, die diese Sprechsequenz des Nähesprechens bilden, um wesentlich kürzere Einheiten als die, aus denen sich typischerweise Distanztexte zusammensetzen. (b) Für eine nur indirekt erschließbare syntaktisch und logisch-semantische Kohäsionsstiftung zwischen den aufeinanderfolgenden Teilen der Sprechsequenz ist der folgende Ausschnitt charakteristisch acho uma variedade muito / extraordinária / agrada a toda a gente / toda a gente tem por onde escolher. Nähesprachliche Texte scheinen eine Organisation der zu übermittelnden Informationen in Form einer additiven Aneinanderreihung der Bestandteile dieser Information vorzuziehen. Es bleibt der Eindruck einer Fragmentierung der Teile einer Sprechsequenz, die sowohl ihre syntaktische als auch logisch-inhaltliche Ordnung betrifft. (c) Einzelne aus dem Zusammenhang der inhaltlichen Darstellung herausgerissene Ausdrücke wie olhe (2. Zeile ‚Sprecher B‘), bem, para já (letzte Zeile ‚Sprecher B‘) dienen weniger der inhaltlichen Information (dem propositionalen Anteil des Sprechakts) als vielmehr anderen Aufgaben wie der Regelung des Rederechts oder der Graduierung des illokutiven Gehaltes des entsprechenden Sprechaktes. Die Aufgaben, die sie als ‚Rederechtsmittel‘ oder besondere ‚Ausprägungen von Diskursmarkern‘ (Operatoren) erfüllen, werde ich weiter unten erläutern. (d) Die häufig vorkommenden und zunächst funktionslos erscheinenden Wiederholungen einzelner ‚Laute‘ – aus schriftsprachlich orientierter Sicht einzelner ‚Wörter‘ – wie é é / e e oder „tonaler Zeichen“ (Henne / Rehbock 1982, 80sq.), die in den Transkriptionen bevorzugt mittels der Grapheme ah und he wiedergegeben werden, lässt auf Probleme bei der zeitgerechten Ausführung der Sprechsequenz schließen, die unten im entsprechenden Kapitel 6.3.1 als ‚Überbrückungsphänomene‘ im Zeitparameter thematisiert werden. (e) Hinzu kommt der Gebrauch von Ausdrücken und Wortverbindungen wie e tudo, coisa oder de qualquer forma, die ein breites semantisches Spektrum abzudecken in der Lage sind und unter den ‚beengten‘ zeitlichen Bedingungen eines Präsenzdialogs den Gesprächspartnern als Ersatz passender und genauerer Bezeichnungen äußert gelegen kommen. Unten werden sie in ‚Kapitel 6.3‘ als „Passe-partout Wörter“ (Schwitalla 2012, 161) beschrieben. (f) Auch die Funktion von Strukturen wie isso é que, o que é que (frases clivadas) bieten sich für eine Interpretation aus pragmatischer Perspektive an, weil sie in der Lage sind, einen Teil des Informationsflusses hervorzuheben und in den Aufmerksamkeitsfokus des Gesprächspartners zu rücken. (g) Eine ähnliche Einschätzung erlaubt der Gebrauch von direkt nach dem ‚turn-taking‘ vom Gesprächspartner hervorgebrachten Wörtern oder formelhaften Wortverbindungen – ich werde sie in Kapitel 6.2.1 als ‚Reaktive‘ definieren und ihre Leistungen bestimmen –, wie acho que sim, nem pensar, ai é etc., die erst unter den besonderen situativen Bedingungen prototypischen Nähesprechens eine Interpretation erlauben, die ihren Funktionen gerecht wird. (h) Eine bereits seit der Antike als rhetorisches Mittel bekannte Stilfigur wie das ‚Apokoinu‘ lässt sich im Kontext des Nähesprechens dem entsprechenden Interpretationsparameter ‚Zeit‘ sowie dem universalen Diskursverfahren einer ‚aggregativen Strukturierung des Informationsflusses‘ (vgl. ‚Kapitel 4‘) zuordnen und erlaubt unter diesem Aspekt ebenfalls eine sinnvolle Interpretation. Die Strukturierung der Sprechsequenz eu acho / olhe / a moda deste ano acho engraçada, in der das konjugierte Verb acho dasselbe Satzglied a moda deste ano sozusagen ‚umarmt‘ und beidseitig und räumlich aufeinanderfolgend doppelt regiert, favorisiert ebenso eine Fragmentierung der Sprechsequenz und fördert den für das Nähesprechen vorteilhaften Häppchenstil‘. (i) Auch eine Technik, die darin besteht, dass Sprecher, die an einem Dialog beteiligt sind und ihre Aufmerksamkeit und ihr Verstehen durch ‚Wiederholung‘ von einzelnen Wörtern oder größere Teilen der Sprechsequenz des Gegenübers (adjazente Strukturen) zum Ausdruck bringen, gehört zum Repertoire von Dialogpartnern: Entsprechend wiederholt ‚Sprecher B‘ zu Beginn des Dialogs nach dem Sprecherwechsel den Ausdruck (d)a moda deste ano seines Gesprächspartners. Auch die von ‚Sprecher A‘ gestellte Frage gosta? wiederholt die direkt vorher von ‚Sprecher B‘ getroffene Aussage eu gosto. In Texten mit einer höheren Frequenz von Sprechwechseln wird dieses Mittel zur Verständigungsabsicherung durch Wiederholung von einzelnen Wörtern oder verbalen Strukturen entsprechend öfter eingesetzt und gewinnt dadurch an zusätzlicher Bedeutung.
Die Aufgabe in den nächsten Kapiteln wird nun darin bestehen, die oben nur kurz und vorläufig angedeuteten Charakteristika des prototypischen Nähesprechens, zu denen sowohl sprachliche Ausdrücke, aber auch spezifische Gestaltungen der Sprechsequenz gehören, in ihren formalen und funktionalen Details ausführlich zu beschreiben. Dazu bleibt festzuhalten, dass diese Merkmale, die Textexemplare aus dem Bereich der ‚kommunikativen Praktiken‘ des Nähesprechens prägen, keine Aufgaben für die eigentliche Informationsübermittlung (den propositionalen Anteil des Sprechaktes) übernehmen. Auch lassen sie sich nicht als Elemente der langue im Sinne einer formal-strukturalistischen Sprachbeschreibung bestimmen. Entsprechend entziehen sie sich Bestimmungen, die sich z.B. die Generative Transformationsgrammatik in der Nachfolge Chomskys oder die Varianten der Verbvalenzgrammatik für die Bestimmung sprachlicher Elemente zum Ziel setzen. Wenn man diese Perspektiven einnimmt, könnte man sogar provokativ anmerken, dass die vorliegende Studie ausschließlich die ‚Reste‘ thematisiert, die für formal-strukturalistische Sprachbeschreibungen keine Rolle spielen. Letztere lassen sie ausdrücklich unberücksichtigt, weil sie aus der Perspektive ihrer Zielsetzung keine Rolle spielen, wie aus dem folgenden Zitat Chomskys (Chomsky 1965, 3) deutlich wird:
Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speaker-listener, in a complete homogeneous speech-community, who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts of attention and interest, and errors (random or characteristic) in applying his knowledge of the language in actual performance.
Eine angemessene und ihrer Bedeutung entsprechende Beschreibung der Ausdrücke und Strukturen, die oben in ‚Text 2‘ skizzenhaft vorgestellt wurden, wird aber unter der Perspektive der Sprachpragmatik14 zwingend notwendig. In ihrer umfassenden Bedeutung schließt diese pragmatische Sichtweise Funktionen mit ein, die Aspekte der situativen (räumlich/zeitlichen) Einbindung, des diskursiven Verlaufs, der inner- und außersprachlichen Kontexte – einschließlich der sich aus ihnen ableitbaren Präsuppositionen – sowie der sozialen Interaktion des sprechsprachlichen Handelns betreffen.15 Sprachliche Kommunikation findet aus dieser Sicht nicht zwischen idealen Sprechern im Vakuum eines abstrakten Raums und zeitlicher Ungebundenheit statt. Stattdessen spielt sie sich zwischen real existierenden Gesprächspartnern mit ihren aufeinander stoßenden und möglicherweise auch unterschiedlichen Interessen, Gefühlslagen, allgemeinem Welt- und spezifischem Vorwissen, Sympathien etc. ab. Zudem ist sie in konkrete Situationen eingebunden und raumzeitlichen Bedingungen ausgeliefert, die Auswirkung auf die sprachlichen Ausdrücke und Strukturen nehmen, die Sprecher unter diesen Bedingungen benutzen, bzw. deren Gebrauch Sprecher diesen Bedingungen anpassen. Um ein Beispiel zu geben: Wer in Portugal einen Kaffee mit einigen Tropfen kalter Milch möchte, wird in der entsprechenden Situation, vielleicht an der Theke einer pastelaria gelehnt, einen café, pingado se faz favor!16 bestellen. Die Möglichkeit, seinen Wunsch in dieser elliptischen Form vorzutragen und die spezifische Bedeutung von ‚mit einigen Tropfen kalter Milch‘ des Zusatzes pingada ergibt sich als Folge einer zur Konvention gewordenen Formulierung, die sich genau für diesen Bezeichnungszweck und diese Situation bei kompetenten portugiesischen Sprechern in (vielleicht) Jahrzehnten herausgebildet hat. Diese Form einer „Handlungsellipse“, d.h. von „Aufforderungen zu Handlungen in stark vorstrukturierten Situationen“ (Ágel / Hennig 2007, 201) entspricht in der Sprachwissenschaft Bühlers „empraktischen Nennungen“ ([1934]1982, 155sqq.). Im Rahmen des Modells des Nähe- und Distanzsprechens werden entsprechende Ausdrücke als ‚Handlungsellipsen‘ unter dem Beschreibungsparameter ‚Situation‘ erläutert. Das bedeutet, es sind sprachliche Mittel, in denen sich das universale Diskursverfahren ‚Verflechtung von Sprechen und non-verbalem Handeln‘ manifestiert (cf. ‚Kapitel 4‘).
Für das Ziel dieser Arbeit, aus sprachpragmatischem Blickwinkel die oben erwähnten sprachlichen Mittel und Strukturen in ihrer formalen und funktionalen Vielfalt in einer systematischen, nachvollziehbaren und verständlichen Art und Weise zu Gruppen zusammenzufassen (Stichwort Operationalisierbarkeit), erweist sich das Modell des „Nähe- und Distanzsprechens“ in seiner von Ágel / Hennig optimierten Variante, die seine konzeptionellen Voraussetzungen, Begriffe, Definitionen und seine Terminologie mit einschließt, als geeigneter Rahmen. Die Gliederung dieses Buches in Kapitel und Unterkapitel orientiert sich infolgedessen an den im Modell des Distanz- und Nähesprechens postulierten Beschreibungsparametern ‚Rolle‘, ‚Zeit‘, ‚Situation‘, ‚Code‘ und ‚Medium‘, den ‚Universalen Diskursverfahren‘, die sich diesen Parametern zuordnen lassen sowie den sprachlichen Mitteln, in denen sich diese Verfahren in einer Sprache manifestieren.
Alle im Buch vorgenommenen Analysen und kategorialen Bestimmungen von Nähemerkmalen folgen hierbei genau vorgeschriebenen Schritten, die ich am Beispiel der „Reaktive“ (Sieberg 2016, 101sqq.) folgendermaßen verdeutliche: Erster Schritt: Ausgehend vom Studium und der vorläufigen Analyse einiger Transkriptionen aus dem ‚CLUL-Korpus‘ sowie ersten Hinweisen aus der Sekundärliteratur fallen sprachliche Ausdrücke auf, die direkt nach dem Sprecherwechsel gebraucht werden, und deren Funktion darin zu bestehen scheint, spontan und effizient auf die vorhergehende Äußerung des Gesprächspartners zu reagieren. Zweiter Schritt: Im Modell – siehe seine vereinfachte und schematische Darstellung in ‚Kapitel 4‘ – findet man unter dem Beschreibungsparameter ‚Zeit‘ das universale Diskursverfahren ‚Einfache Verfahren der Einheitenbildung‘, dem sich diese Gruppe von ‚Reaktiven‘ zuordnen lässt, weil der Gebrauch von Ausdrücken wie claro, certo, exatamente, ai é, nem pensar, acho que sim, etc. auf den Einfluss dieses Verfahrens zurückgeführt werden kann, bzw. weil sich dieses Diskursverfahren in diesen sprachlichen Mitteln manifestiert. Dritter Schritt: Durch eine vertiefende Lektüre entsprechender Sekundärliteratur sowie eine weitere Suche im empirischen Material, die zu einer Vergrößerung des Repertoires von passenden tonalen Zeichen, Wörtern und Wortverbindungen führt, gelangt man schließlich zu einer Definition dieser Gruppe von Nähemerkmalen, die formale und funktionale Charakteristika der ‚Reaktive‘ so treffend und umfassend wie möglich bestimmt: „Sprecher gebrauchen Reaktive direkt nach dem Sprecherwechsel und verfügen mit ihnen über ein sprachliches Mittel, das es ihnen erlaubt, spontan Stellung zu den vorangehenden Äußerungen der Gesprächspartner und den mit ihnen verbundenen Geltungsansprüchen (illokutive Bestandteile der Sprechakte) zu nehmen“ (cf. Kapitel 6.2.1).
Angesichts des von mir gesteckten Ziels – man beachte nur die Vielzahl und Heterogenität der zu beschreibenden sprachlichen Erscheinungen – sollte es den Leser nicht verwundern, dass meine Recherchen keinen umfassenden Überblick über die entsprechende Sekundärliteratur liefern, die es zu den jeweiligen Phänomenen im Bereich der germanistischen und luso-brasilianischen Sekundärliteratur gibt. In Orientierung an dem Ziel, das bereits im Vorwort formuliert wurde, geht es in dieser Arbeit vielmehr darum, durch die Übernahme eines Konzepts der germanistischen GSF portugiesisches Nähesprechen angemessen und durch nachvollziehbare Operationen beschreiben zu können. Folglich liegt auch der Schwerpunkt und der Ausgangspunkt dieser Recherche vornehmlich im Bereich der germanistischen Sekundärliteratur zur GSF.
Letztendlich stelle ich mir diese Arbeit als Anregung und als zusätzliche Orientierungshilfe für weitere Forschungen zum gesprochenen Portugiesisch vor. Dabei wäre auch eine Anwendung auf andere romanische Sprachen durchaus denkbar. Dieser Optimismus beruht auf der besonderen Eignung des an dieser Stelle benutzten Konzepts und Modells, seiner Operationalisierbarkeit, seiner streng systematischen und hierarchischen Gliederung sowie auf der universalen Geltung seines Axioms und seiner Diskursverfahren.
Neben der bereits erwähnten Operationalisierbarkeit sowie Universalität seiner Parameter und Diskursverfahren bietet das Modell des ‚Nähe- und Distanzsprechens‘ den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sich auch der Sprachgebrauch von kommunikativen Praktiken der ‚Neuen Medien‘ – im Folgenden möchte ich für die Bezeichnung dieser Kommunikationsform den Terminus „keyboard-to-screen communication“ (Imo 2015) verwenden – im Rahmen dieses Modells systematisch erklären lässt. Ins Zentrum meiner Untersuchung stelle ich allerdings den Bereich des prototypischen Nähesprechens (Alltagsdialoge). Die Vorstellung und Interpretation einiger portugiesischer Tweets aus dem Bereich des peripheren Nähesprechens beschränke ich hingegen auf Kapitel und sprachliche Erscheinungen, für die sich eine solche Erörterung anbietet und besonders relevant ist – z.B. innerhalb der Beschreibungsparameter ‚Code‘ und ‚Medium‘.
Prinzipiell ließen sich auch die Nähesprachlichkeit anderer kommunikativer Praktiken der „keyboard-to-screen communication“ wie Einträge in Weblogs, Internetforen oder den Chats in sozialen Netzwerken wie Facebook etc. mit Hilfe des hier angewendeten Konzepts untersuchen. Alle diese kommunikativen Praktiken fallen durch einen Sprachgebrauch auf, der den Formen medial mündlichen Nähesprechens teilweise ähnelt und analoge Ausdrucksformen und Strukturen aufweist. Zudem handelt es sich um Formen, die zunehmend einen großen Teil unserer kommunikativen Wirklichkeit bestimmen und dabei radikale Veränderungen unserer zwischenmenschlichen Umgangsformen nach sich ziehen. Zum Anlass der Verleihung des ‚Konrad-Duden-Preises‘ äußerte sich Peter Schlobinski, Professor an der Universität Hannover, folgendermaßen zur Radikalität dieses Wandels (Schlobinski 2012, 18):
Die digitale Revolution integriert alle Errungenschaften vorangegangener Medienrevolutionen unter einem Dach. Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität. Es macht Kommunikation frei konvertierbar und die Währung sind Bits und Bytes.
Für den Sinn der vorliegenden Studie spricht zudem, dass die Forderung nach Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache aus der Perspektive angewandter Linguistik zunehmend lauter wird17. Gerade in jüngster Zeit widmet sich die Didaktik der Fremdsprachenvermittlung gezielt der gesprochenen Sprache und ihrer Einbeziehung in den Fremdsprachenunterricht. Die Kenntnis zentraler Merkmale und das Beherrschen der spezifischen Ausdrucksmittel mündlicher Kommunikation werden zum integralen Bestandteil einer entsprechenden „interaktionalen Kompetenz“ (siehe auch ‚Kapitel 10‘). Ohne sie sind die Lerner einer Fremdsprache entsprechenden Situationen mündlicher Kommunikation relativ hilflos ausgeliefert. Das Wissen darüber, wie mündliche bzw. nähesprachliche Kommunikation funktioniert, und welche spezifischen Ausdruckformen und Strukturen vermittelt werden müssen, um bei den Lernern entsprechende Kompetenzen zu fördern, sollte folglich auch zum obligatorischen Bestandteil des ‚Portugiesisch als Fremdspracheunterricht‘ gehören. Der vorliegende Beitrag liefert das hierfür notwenige linguistische Grundwissen.