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1 Après minuit.

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Nach Mitternacht.

Jean- Claude Ansbach blickt durch den Türspion und ist entsetzt.

„Gottgütiger“, flucht er. Da wäre ihm sogar lieber, die Gesandten des Sicherheitsapparates stünden grimmigen Gesichtes vor der Tür, in ihren Anoraks, unter denen Hemd und Krawatte hervorlugen, mit ihren Aktenkoffern, ihren aberwitzigen Beschlüssen und technischen Utensilien, bereit, alles auf den Kopf zu stellen. Darauf ist er zumindest vorbereitet. Nicht aber auf diesen Anblick.

„Jean- Claude?“ erklingt eine feminine Stimme, abgedämpft durch die schwere Holzflügeltür. Sie lässt unangenehme Erinnerungen wach werden. Jean- Claude Ansbach steht da in seiner Verzweifelung, eingehüllt in den roten Samt seines Morgenmantels, fasst sich ins Gesicht, schüttelt den Kopf.

„So eine Unverschämtheit“, raunt er in sich hinein, angewidert, brüskiert. Leise, um hinter der Tür unbemerkt zu bleiben, „Hier einfach in dieser Aufmachung aufzukreuzen. Das ist so unverschämt, so respektlos.“

Er hält noch das schwere Wodkaglas in der Hand, so rasch hatte er sich nach dem stürmischen Klingeln aus dem Sessel erhoben, war mit seinen eleganten Pantoffeln über die Dielen geeilt, den endlosen Korridor entlang, hatte dabei unter Hochdruck seine Gedanken geordnet und war die Alarmliste durchgegangen, wobei er die auf wenige Maßnahmen beschränkten Stichpunkte alle mit einem Häkchen versehen konnte. Das wichtigste war eh, die Druckmaschinen noch rasch abzudecken, um zumindest im ersten Anschein keinen Verdacht zu erregen.

Und jetzt das.

„Nun mach schon auf, Jean. Ich weiß, dass du da hinter der Tür bist. Komm schon. Hab dich nicht so.“, stichelt die Stimme in der für ihn so gewohnten selbstsicheren aber auch liebevollen Weise, der man so schwer etwas abschlagen kann.

Die Tür öffnet sich schließlich einen skeptischen, unverbindlichen Spalt, der dem späten Gast noch keinen Einlass versprechen soll. Jean- Claudes hageres, faltiges Gesicht lugt garstig hindurch, ein Gesicht mit gezupften Augenbrauen.

„Sieh mal einer an. Je später der Abend…“, spricht er mit seiner tiefen, krächzenden Stimme.

Sein Gegenüber hingegen strotzt nur so vor Temperament.

„Desto netter die Gäste. …Ja willst du mich denn nicht rein bitten?“

Ein kurzes Aufstoßen schließt den Satz.

„Musstest dir wohl Mut antrinken. …Na schön…“

Die hagere Gestalt im seidigen Morgenmantel hängt widerwillig die Sicherungskette aus und läuft tief in die Wohnung zurück, geht bis zum Servierwagen im Wohnzimmer vor, streicht sich dabei über die dünnen, schwarzen Haare, die streng nach hinten gekämmt sind, wie die einer Diva in der Maske. Der Besuch folgt ihm frohen Mutes, mit klackernden Absätzen und grazilem Gang.

„Auch einen? Du hast ja eh schon ordentlich was intus, wie mir scheint. Aber das macht nichts. …Dann sind wir zu zweit.“

Jean- Claude ist mit seinen langen Fingern längst an seiner Hausbar zugange, die in so vielen Momenten schon aus dem großen Wohnzimmer mit den stets zugezogenen Vorhängen einen schillernden Pariser Salon gemacht hat. Einen, der in ebensolchen Momenten in schwungvoller Eleganz vom Hausherrn durchschritten wird, während ein Grammofon im Hintergrund Chansons spielt. Noch gleicht der späte Gast für Jean- Claude eher einem Hirngespinst, einer Erscheinung, die er nicht wahrhaben will. Ebendiese Erscheinung sieht sich nun ganz ungeniert um, kaut Kaugummi dabei. Ihre mit Kajal bemalten Augen schweifen durch den Raum, über all die sonderbar bunten Dekorationen, die altmodischen Theaterplakate, antiken Spielzeuge, französischen Werbeschriften. Dann geht sie auf den großen, beleuchteten Schminktisch zu und grinst.

„Hat sich ja gar nichts verändert hier.“.

„Was man von dir leider auch behaupten kann. Ich dachte, du wärst inzwischen respektvoller geworden. Um nicht zu sagen, erwachsener. Davon abgesehen, ist es eine Glanzleistung, dass du überhaupt mal wieder vorbeischaust. Mensch, wir hatten klare Absprachen. Wie soll ich denn sonst wissen, ob nicht inzwischen etwas schief gelaufen ist bei dir. Verstehst du das denn nicht? Es ist kein Kinderstreich mehr, was wir hier machen.“

Der Besuch mustert sich ganz unbeeindruckt dieser Worte im Spiegel und zupft lässig ein paar Strähnen zurecht, macht eine große Blase mit dem Kaugummi, die dann mit einem ziemlich lauten Knall zerplatzt. Das schwere Rot auf den Lippen wird davon in Mitleidenschaft gezogen.

Ein großer Augenaufschlag flirtet nun direkt in den Spiegel hinein. Ihre Blicke treffen sich.

„Du hast dir also Sorgen gemacht?“

Unsanftes Kramen im reichlich vorhandenen Schminkzeug, das in einem geordneten Chaos über den gesamten Tisch verteilt ist.

„Wo sind denn nur die Lippenstifte, die ich dir von Derrick hab mitbringen lassen?“

Jean- Claude schüttelt fassungslos den Kopf, schenkt sich nach und setzt sich. Er betrachtet die kokette Gestalt ausgiebig und kann sich der Erkenntnis nicht erwehren, dass sie wirklich echt aussieht. Die engen Jeans, die Stiefel mit dem leichten Absatz und den Strassverzierungen, eine kurze Lederjacke mit Schulterpolstern, die Ärmel leicht hochgeschoben, Ohrringe, die fesche Perücke. Alles ist bravourös inszeniert. Und erst diese Ausstrahlung, die Körperhaltung, die Bewegungen, diese selbstverständliche Natürlichkeit, mit der alles einhergeht. Die klugen grünen Augen blicken dabei verführerisch aus einer mit Kajal geschaffenen Dunkelheit. Das ist Stil, dick aufgetragen wie Kriegsbemalung.

Das perfekte Trugbild.

Jean- Claude ist nicht beeindruckt. Er ist erschüttert. Einen Moment braucht er, um Kraft zu schöpfen. Dann sagt er mit neidvollem Grimm:

„Es gibt Momente, da denke ich, ich habe mich in dir getäuscht, Eduard. So viel Selbstherrlichkeit. Du, … du bist einfach nicht normal.“

„Ach ja?“

Die Perücke wird sich vom Kopf gerissen und quer durch den Raum geschleudert. Ein nicht weniger charmanter, dunkelblonder Haarschopf kommt zum Vorschein und lässt die Erscheinung eine Spur markanter wirken.

„Das sagst ausgerechnet du?! Die großartige Aphrodite? Die …der… mich schon als Kind in all die großen Geheimnisse einweihen musste?! Mit seiner … Zaubertruhe?!“

„Das Zimmer war abgeschlossen!“ zischt Jean- Claude und trinkt sodann aufgebracht sein Glas leer, während sein Gegenüber mit erhobener Stimme Kontra gibt.

„Der Schlüssel steckte!“

„Und wenn schon! Du hattest es doch schon damals faustdick hinter den Ohren! Ahntest es bereits. Du wolltest alles wissen. Nach dem Tod deiner Eltern. Ein Elfjähriger. Waise. Abgestempelt. Geprägt. Ich fühlte mich verantwortlich.“

„Du konntest es doch kaum erwarten, mir alles aufzutischen! In dein Kostüm zu schlüpfen!“

„Red doch keinen Unsinn!“

„Du hast mir das alles gezeigt! Kein anderer!“

„Und du hast es schamlos ausgenutzt! Und es somit seiner Heiligkeit beraubt, die es für Menschen wie mich darstellt! Mal eben rüber zur Kaufhalle, ob dich so jemand erkennt. Das ist doch nicht, worum es geht. Das kann auch jemandem wehtun. Mir zum Beispiel. Aber das interessierte dich ja noch nie. Habe ich es dir deshalb erklärt? Jedenfalls nicht, damit du mich lächerlich machst. Ich habe es dir anvertraut und im Gegenzug einen tapferen Gefährten gesucht. Um gegen das Unrecht hier anzukämpfen!“

„Den hast du doch bekommen! Oder etwa nicht?!“

Jean- Claude ächzt und fasst sich über das faltige Gesicht.

„Mir scheint, mein junger Freund, mittlerweile ist da etwas außer Kontrolle geraten.“

Trotzig schlendert der Junge, der gerade wie ein Mädchen aussieht, und zwar tatsächlich so, wie ein richtiges Mädchen Anfang zwanzig nicht besser und echter aussehen könnte, mit seinen klackernden Absätzen zum Servierwagen und schenkt sich ein, überlegt, trinkt.

Dann lächelt er sein kühnes Lächeln.

„Du hast deine Arbeit stets gut gemacht, Jean- Claude. Ohne dich wäre ich nie soweit gekommen. Und zu deiner Beruhigung. Ich wollte dich nicht lächerlich machen. Nie.

Das ist das letzte, woran mir gelegen ist. Und heute wollte ich dich nur …überraschen...“

„Das ist dir gelungen.“

„Bestätigung erfahren. Denn es gibt grandiose Neuigkeiten.“

„Ich will sie nicht hören.“

Jean- Claude schenkt sich nach, das Gesicht mit den traurigen Falten auf das sich füllende Kristallglas ausgerichtet. Er wagt nicht an die Konfrontation zu denken, die bevor steht, wenn Eduard loslegt, er ihm den Grund seines plötzlichen Erscheinens in diesem Aufzug mitteilt, der gewiss mit einer neuen, törichten, bis ins Detail geplanten Fluchtgeschichte zu tun hat. Vielleicht kann man dem noch aus dem Wege gehen, überlegt er, ohne wirklich daran glauben zu wollen.

„Wir sind weit gekommen, Eduard. Das lässt sich nicht leugnen. Die Plakate…“

„Der Sender.“

Der Junge scheint längst wieder in seinem alten Ego angekommen. Er steht da mit leuchtenden Augen in seiner Mädchenkleidung, und Jean- Claude wird einmal mehr bewusst, dass er daran nie etwas ändern wird, dass Eduard die Maskerade aus anderen Gründen als er selbst vollzieht. Aber nun macht es ihn nicht nur auf diese ihm längst bekannte, seltsame Art neidisch. Es macht ihm Angst. Die innere Unruhe wird unerträglich.

„Nun denn, warum bist du hergekommen? Da du dich ja trotz unserer Absprachen immer seltener hier blicken lässt, muss es doch einen besonderen Grund geben für dieses glanzvolle Spektakel. Lass mich raten. Hat dein Freund Derrick wieder einen tollkühnen Fluchtplan ausgeheckt?“

„Mein Westberliner Freund Derrick, der edle Held von drüben. Der mit dem guten Geschmack?“

„Ich denke, wir meinen denselben.“

„Wenn du ihn nur endlich kennen lernen würdest. Er steht dir viel näher als du denkst. Schließlich ist er…“

„Genug. Und ja, ich brenne darauf. Ich werde ihm ein paar Takte erzählen. Was ist das für ihn hier für ein Spielchen? Was bildet der sich ein? Will sich seinen schicken Jungen wohl rüberholen und denkt, dass er das mal eben so machen kann. Wie raffiniert, dein Westberliner Modemacher. Das tapfere Schneiderlein. Entzückend.“

„Raffiniert. Ja, das ist er.“ sagt Eduard überzeugt.

„Ach ja? Ich hoffe, ihm ist inzwischen etwas Besseres eingefallen als diese peinliche Flugdrachen- Geschichte.“

Eduard sieht zur Decke und schüttelt lächelnd den Kopf.

Dann sieht er seinem Gegenüber in die Augen. Da ist dieses Funkeln in den Augen des Jungen.

„Jean- Claude, der neue Plan ist brillant. Ich sage es dir. Diesmal…“

„Ich will davon nichts hören.“, herrscht dieser und schenkt sich nochmals ein. Er will das Funkeln in Eduards Augen vergessen und nimmt sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wo er Recht hat, hat er Recht. Er muss sich durchsetzen. Nicht seinetwegen.

Es geht um das Wohl des Jungen. Und wohlmöglich um...

„Gottgütiger, und das Mädchen willst du da mit reinziehen, nehme ich an?“

„Ohne Helena werde ich nicht gehen.“

Jean- Claude schüttelt energisch den Kopf. Er muss dem Jungen dieses wahnsinnige Vorhaben ausreden, diesen irrsinnigen Plan, dessen Umrisse er sich bereits ausmalen kann. Doch eben dieser Junge ist nun von hinten an ihn herangetreten und spricht plötzlich ganz besänftigend.

„Mensch, Jean- Claude. Ohne dich wäre ich doch gar nicht so weit gekommen. Es ist genau wie du es sagst. Du hast mir das Kämpfen gelehrt und meine Instinkte geweckt, mir die Augen geöffnet. Dass man sich diesem Land nicht einfach ergeben darf. Du hast mir dadurch auch deinen Weg gezeigt. Deinen leidvollen Weg, den du gegangen bist, aber der dich stark gemacht hat. Weil du stark bist. Trotz deiner …Sache. Und auch genau deswegen.“

„Meiner …Sache.“ sagt Jean- Claude nachdenklich.

„Deine wundervollen, wunderschönen Sache. Die einfach dir gehört. Du bist…du bist einfach…“

„…Verzaubert.“

„Ja. Verzaubert.“

Jean- Claude lacht sodann in sich hinein. Erst verzweifelt, dann immer herzhafter.

Auch der Junge Eduard stimmt mit ein.

„Mensch, ist doch so. Du bist meine Glücksfee. Komm, schenk mir ein.“

Die beiden trinken, der anfängliche Streit ist schnell ins Hinterstübchen geraten. Denn Jean- Claude wird gerne melancholisch, schwärmt über vergangene Zeiten und liebt es, dabei gut dazustehen. Der Junge Eduard weiß ganz genau wie er seinen alten Freund dahin bringt, und

dieser wiederum weiß, dass sein junger Freund das nicht ganz ohne Hintergedanken macht, vermutlich, weil er ihn später doch noch von seinem Vorhaben überzeugen will. Aber er lässt sich vom Wodka und dem Charme des Jungen einlullen. Bald sind sie ganz schön angegangen und sitzen nebeneinander auf einem Jugendstil- Sofa in einer riesigen Wolke Zigarettenrauch.

Dem Mann im roten Samt ist ganz märchenhaft zumute. Er wird gleich ins Schwärmen geraten. Seine Wohnung ist längst der schillernde Pariser Salon, seine Stimme klingt jetzt avantgardistischer, aber auch femininer. Jean- Claude Ansbach ist gern in seiner Welt, die voller Hochmut und Güte sein kann, voller Poesie. Das Mädchen kommt ihm in den Sinn, Eduards Mädchen. Die Kubanerin. Dieses sinnlich kühne Geschöpf. Diese Schönheit mit seidig brauner Haut:

„Helena …Casera.“, spricht die krächzende Stimme als werfe sie eine These in den Raum.

„Genau. Scharfes S, Langes E, kurzes A, …darauf besteht sie.“

Jean- Claude rutscht tiefer zwischen bestickte Kissen, sinniert, schwelgt in Gedanken, die er so manches Mal aushaucht, nach oben, in Richtung der schweren, kristallenen Deckenleuchte.

Helena Casera. Wie sie hier angekommen war mit ihrer Mutter, vor knapp einem Jahr, am Ende des Sommers. Abgeladen auf dem Tretoir, neben den grünen Bäumen der Allee, dem Kopfsteinpflaster, zwischen all den alten Koffern und Taschen saß sie, in ihrem Blümchenkleid und ihren weißen Stoffschuhen, die schon gar nicht mehr so weiß waren. Hatte Eduard sie jemals gefragt? Wie es ihr ergangen war, kurz nach der Ankunft? Hier, im Norden der größten Stadt der Republik, im düsteren Nirgendwo, wohlmöglich noch dahinter? Ein messerscharfer Schnitt muss das gewesen sein. Ein Kontrast wie schwarz und weiß, der berüchtigte Sprung ins kalte Wasser. Dann der Einzug ins Souterrain, direkt neben dem Kartoffelladen.

Die Spukgeschichten.

Der Junge Eduard kann beruhigen. Seine Helena ist ganz bestimmt kein Kind von Traurigkeit. An ihr beißt selbst er sich so manches Mal die Zähne aus, verkündet er stolz und verliert sich eine Weile in liebreizenden Gedanken. Beide mustern sich sodann schweigend, durch den Schleier des Zigarettenrauches hindurch, der in der Luft hängt wie das unausgefochtene Streitgespräch.

Das Grammofon knistert vor sich hin. Das tut es schon, da hatte längst noch kein Eduard in Mädchenkleidung an der Tür geklingelt. Jetzt richtet sich der Mann mit den gezupften Augenbrauen auf, schreitet in seinen seidigen Pantoffeln etwas wankend übers Parkett und nimmt die Nadel von der Platte.

„Schnee.“, ruft Eduard sodann mit seiner temperamentvollen Art durch das riesige Zimmer mit Stuckdecken. Und das geschieht nicht von ungefähr. Jean- Claude braucht einen Moment, um aus der Tiefe seines Wodka getrübten Gedankensees aufzutauchen.

„Was?“, ruft er von hinten.

„Sie liebt den Schnee. Wusstest du das?“

Nach dem missglückten Auftritt von vorhin ist es nun an der Zeit, noch einmal anzusetzen.

Schließlich hat Jean- Claude es ganz richtig geahnt. Eduard ist gekommen, um von seinem neuen Fluchtplan zu berichten. Aber der hätte es besser wissen müssen. Es bedarf dafür keinem Imponiergehabe. Sondern Feingefühl und aufbauender Worte. Einer sanften Einleitung, die zugleich deutlich macht, wie sehr sie in einem Boot sitzen.

„Unsere Helena liebt also den Schnee, sagst du.“, krächzt die krächzende Stimme, „Es passt zu ihr. Nun, davon hatte sie ja vor ein paar Monaten eine ganze Menge.“

„Wann hat es eigentlich angefangen?“ fragt Eduard und betont seine Worte dabei als spräche er über etwas ganz Bedeutsames.

Die Spinne baut ihr Netz.

„Was, zu schneien?“, fragt die begehrte Beute ganz ahnungslos und widmet sich ein weiteres Mal der Hausbar, eine Batterie von Flaschen, deren Hälse im honigfarbenen Licht des Salons ein wenig schimmern.

„Nein, Jean, ich meine, wann hat das ganze angefangen? Irgendwie, stell dir vor, wir schreiben bald Geschichte. All diese Zusammenhänge. Der Weg, den wir gehen, insbesondere der, den ich nun gehen möchte. Wenn das auf eine, ja, wie erzählte Geschichte zusammengefasst würde. Dann müsste sie praktisch einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende haben. Okay, der Höhepunkt steht unmittelbar bevor, das kann ich dir sagen.“

„Und das Ende kommt schneller als du denkst. Wobei wir wohl wieder beim Thema wären.“

„Nein, Jean- Claude. Das Ende ist offen. Es ist noch nicht bestimmt. Du kannst mir helfen, dass es gut wird. Und das wirst du auch. Dann trägt all das noch mal richtig Früchte. In einem grandiosen Finale. Auch für dich.“

„Nein!“, widerstrebt es Jean- Claude. Er sieht große Gefahren.

„Doch.“, kontert Eduard selbstsicher. „Aber bleibt die Frage nach dem Anfang. Wann war der Anfang, wann nahmen die Geschehnisse tatsächlich ihren Lauf?“

Jean- Claude grübelt eine Weile.

„Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe.“

„Das tust du, alter Freund, keine Sorge.“

„Eine Geschichte, meinst du…“

Die Geschichte. Unsere. Überleg doch mal, was für krasse Ereignisse uns die letzten Monate umgeben.“

„Für die meisten sind wir immerhin selbst verantwortlich.“

„Deshalb ja. Es ist unsere Geschichte. Unser Handeln. Wer und was uns umgibt. In einem bestimmten Zusammenhang. Was jetzt ist, was war, und was noch kommen wird.

Jean- Claude nickt leicht irritiert.

Wieder hat er sich von Eduard um den Finger wickeln lassen. Aber er kann nicht widerstehen. Es ist alles auch nach seinem Geschmack.

„Also. Das Mädchen kann man da nicht außen vor lassen.“

Eduard grinst.

„Ich sehe, du weißt genau, worauf ich hinaus will.“

„Da gibt es dich, da gibt es sie. Da gibt es mich …und, nun ja, diesen…“

„Derrick. Es gibt auch andere Personen.“

„Die gibt es gewiss. Und von so manchen hast du offenbar nicht die geringste Vorstellung.“

„Ich rechne immer mit ihnen.“ sagt der Junge ganz geradeaus.

„So gut kannst du gar nicht rechnen, mein Freund.“

„Die schaffen wir schon. Komm…Weiter.“

Jean- Claude denkt nach.

„Da ist noch das Haus.“

Eduard ist ganz aufgebracht.

„Genau. Es spielt eine wichtige Rolle. Fast eine Schlüsselrolle.“

„Der Kartoffellladen.“

„Spuk. Es spukt im leeren Kartoffellladen.“

„Der deinen Eltern mal gehörte.“

„Und in dem sie noch immer ihr Unwesen treiben. Die Leute glauben es.

Zumindest einige.“

Jean- Claude schenkt sich nach.

„Sie sind naiv. Die sind es ja gewohnt, dass man ihnen Dinge erzählt, die sie hinnehmen müssen.“

„Geisterspuk im leeren Kartoffelladen. Mainzelmännchen auf Plakaten. Der Sender… Nun hilf mir doch.“

„Die Plakate kleben überall in der Stadt. Ich musste mir schon eine zweite Druckmaschine besorgen. Es formiert sich. Die Bewegung.“

„Wann war das mit den Jungs vom Sender? …Zu Sylvester.“

„Ja. Aber ich denke, du kannst vorher einsteigen.

Die Geschichte, von der du sprichst, ging vorher los.“

„Aber wann?“

Beide überlegen.

„Als du Helena kennen gelernt hast.“, schlussfolgert Jean- Claude und ist schon wieder am einschenken.

„So direkt mit dem Kennen lernen? Sagen wir ein paar Wochen vorher. Kurz vor Weihnachten. Das trifft es besser.“

„Da hast du deinen Schnee. Viel Schnee.“

„Ja. Schnee! Es schneit nur so vom Himmel herab!“, schwärmt Eduard und tänzelt schon fast durch die Pariser Wohnung, „In den dicksten Flocken!“

„Kennst du dieses Souvenir? Diese Glaskugel mit der kleinen Stadt drinnen? Wenn du sie schüttelst, schneit es darin, dann schneit es über dieser kleinen Stadt innerhalb der Kugel.“

„Eine Schneekugel!“, ruft der Junge angetan, „Genau, da tobt dann ein richtiger Schneesturm drinnen!“

Jean- Claude lächelt. Er lächelt sein trauriges, melancholisches Lächeln, ist ganz in seiner Welt angekommen.

„Wenn du dich fallen lässt in Gedanken, dich dem einfach hingibst. Wenn du also ganz genau hinsiehst, dann erkennst du vielleicht sogar wie die Lichter aus den kleinen Wohnungen funkeln.“

Der Junge Eduard nickt zustimmend und pustet Zigarettenrauch aus.

Auch er ist in seiner Welt, die mit der seines Freundes im dunkelroten Samt viele Gemeinsamkeiten hat und doch eine völlig andere ist.

„Ja. Und die kleinen Menschen tapsen mit Fellmützen und roten Nasen durch die eisigen Straßen.“, sagt Eduard, hält kurz Inne und schmunzelt siegessicher.

Der neue Plan ist einfach genial.

CUBANO PANKOW

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